Jan Timmermann
· 07.10.2022
Für das BIKE PROJECT: EUROPE bauen wir ein Mountainbike nur aus in der EU produzierten Teilen auf. Da hydraulische Scheibenbremsen extrem kleingliedrige Bauteile sind, gibt es nur extrem wenige europäische Bremsen. Wir zeigen, welche Bremsanlagen und Zubehörteile wirklich aus der EU stammen.
Im Rahmen unseres Bike Project: Europe schauen wir genau hin: Was steckt alles in den jeweiligen Komponenten - und wo wird es hergestellt? Die Bremsanlage ist eines der kleinteiligsten Baugruppen an einem Bike. Aufgebaut sind alle hydraulischen Scheibenbremsen nach demselben Prinzip: Über eine Leitung wird der Geberkolben im Bremsgriff mit den Nehmerkolben im Bremssattel verbunden. Am Mountainbike kommen in der Regel zwei oder vier dieser Nehmerkolben zum Einsatz. Die Körper von Bremshebeln und -sätteln bestehen aus Aluminium, Magnesium, Kunststoff oder Carbon. Wobei am Bremssattel aufgrund der Hitzeentwicklung vorwiegend auf geschmiedetes Aluminium gesetzt wird. In den Bremsen finden sich zahlreiche Kleinteile, wie Lager, Dichtungen, Kunststoffteile, Hebel, Kolben, Zylinder, Stifte, Federn, Ventile, Pins, Oliven, Banjos, Schrauben, Abdeckungen und natürlich die Bremsflüssigkeit. Die meisten Hersteller setzen auf Mineralöl oder DOT als Bremsmedium.
Zum Bremssystem gehört aber selbstverständlich auch die Bremsscheibe, welche mit Hilfe je einer zweiteiligen Shimano Centerlock-Verschraubung oder sechs einzelnen Torx-Schrauben an den zwei Laufrädern befestigt werden. Hinzu kommen die vier oder acht Bremsbeläge für Vorder- und Hinterradbremse, zu denen neben den eigentlichen Belägen auch Trägerplatten, Federn, Schrauben und Sicherungssplints gehören. Um die Bremsanlage am Rahmen, beziehungsweise an der Gabel zu befestigen, braucht es Schrauben, Unterlegscheiben und Adapter.
Insgesamt addieren sich die Bestandteile zweier Bremsen auf hunderte Kleinteile. Bremsenhersteller produzieren diese Teile nicht alle selbst, sondern kaufen die meisten von Zulieferern ein. Ähnlich wie bei Federgabeln und Dämpfern, stammen viele dieser Kleinteile aus Asien. Dort werden sie kostengünstig in großen Stückzahlen produziert. Eine komplette Bremsanlage, die ihren Ursprung zu 100 Prozent in der EU hat, gibt es nicht. Wohl aber Produkte, die dieser Utopie näher kommen als andere.
Eigentlich ist es ernüchternd: vier Hersteller machen noch keine Liste. Doch es ist die Realität beim BIKE Project Europe – und einer globalisierten Branche: Nur Braking, Formula (beide Italien), Magura und Trickstuff (beide Deutschland) bauen in der EU komplette Bremsanlagen. Von 27 Mitgliedsstaaten des europäischen Staatenverbundes werden also nur in zweien hydraulische Scheibenbremsen für Mountainbikes produziert. Hope stellt seine bekannten CNC-gefrästen Stopper zwar in Großbritannien und damit im geografischen Europa her, nicht jedoch in der Europäischen Union. Brakeforce One (Deutschland) baut inzwischen keine Bremsen mehr. Auch die Hersteller von Zubehörprodukten lassen sich im Bremsenbereich an einer Hand abzählen.
Die europäischen Rohstoffpreise des für Bremsscheiben benötigten Stahls sind nicht erst seit dem Ukrainekrieg und der Energiekriese extrem hoch. Lediglich Brakestuff, Intend (beide Deutschland), Carbon-Ti, Braking (beide Italien) und Galfer (Spanien) stellen in der EU Bremsscheiben her. Die Scheiben von Formula, Magura und Trickstuff kommen derzeit aus Asien. Auch wenn Bremsbeläge teilweise in der EU entstehen, stammt deren Trägerplatte doch fast immer aus Asien. Capgo ist einer der wenigen Hersteller, dessen neue Bremsbeläge (erhältlich ab Oktober 2022) zu 100 Prozent aus Europa stammen. Danico-Biotech produziert in Worms Bremsflüssigkeit aus nachwachsenden Rohstoffen. Das Bremsmedium auf Basis von deutschem Pflanzenöl steckt auch in den Leitungen von Trickstuff-Bremsen. In Regensburg kommen unter dem Dach von OAK Components Nachrüst-Bremshebel für Magura-Bremsen aus der CNC-Fräse.
Unsere Liste für das BIKE Project Europe ist nicht abschließend und wir freuen uns über Ihre Ergänzungen. Sie wissen, wo in der EU weitere Bremsteile produziert werden? Dann schreiben Sie uns eine Mail an: eu-projekt@bike-magazin.de
Hersteller / Unternehmenssitz / Produktionsstandort / Bemerkungen
An unserem EU-Projektbike setzen wir auf eine MT7 Pro Bremsanlage von Magura. Die kräftige Vierkolben-Bremse steht dem Alutech Fanes Endurobike mit Pinion Getriebe und Intend Fahrwerk gut zu Gesicht. Magura trägt die Herkunft im Firmennamen: Gründer Gustav Magenwirth aus Bad Urach. Um herauszufinden, wie viel Europa tatsächlich in den traditionsreichen Stoppern steckt, haben wir Magura auf der Schwäbischen Alb besucht. Den Hausbesuch lesen Sie in BIKE 11/2022.
Als deutsch-taiwanesisches Mischprodukt ist die Magura MT7 Pro wie geschaffen für unser BIKE Project Europe. Schließlich soll das Bike, das wir dafür aufbauen, auch ein Erklärstück sein. Es soll zeigen, welche Kleinteile wirklich aus der EU stammen und welche eben nicht. Dass die Magura, wie alle anderen europäischen Bremsen auch, kein 100-prozentiges EU-Produkt ist, trifft deshalb das Projektziel ziemlich gut. Wie europäisch die Bike-Industrie überhaupt ist, sollte in Zeiten von globalisierten und teilweise hochsensiblen Lieferketten nämlich diskutiert werden.
Im konkreten Fall des MT7-Modells werden die „Carbotecture SL“ Bremshebel aus mit Carbon-Kurzfasern verstärktem Kunststoff im eigenen Werk in Hülben hergestellt. Auch der Stahlbolzen im Hebel sowie der Kunststoff-Geberkolben kommen aus Deutschland. Die Dichtungen stammen aus Europa, die für den europäischen Markt bestimmten Nehmerkolben aus Deutschland. Montiert wird der Bremssattel bei Magura in Hengen auf der Schwäbischen Alb. Auch das Hydrauliköl und die Bremsleitungen sind deutsch. Die Zulieferer für Bremsbeläge sitzen teils in Europa, teils in Fernost. Aluminiumteile, wie der geschmiedete Bremssattel der MT7 und die Storm HC Bremsscheiben, stammen aus Taiwan.