Jan Timmermann
· 01.07.2022
Wir starten das BIKE PROJECT: EUROPE! Das Ziel: ein Mountainbike nur aus in der Europäischen Union gefertigten Teilen. Geht das überhaupt?
Klimawandel, Krankheiten, Krieg: Die Weltwirtschaft steckt in der Krise. Für die Bike-Branche gilt das ganz besonders. Lieferungen bleiben aus, Preise steigen. Die Hersteller träumen von Bikes "Made in Europe" - mit kurzen Wegen, fair produziert und mit geringerer Umweltbelastung. Wir wollen nicht länger warten! Beim BIKE PROJECT: RIDE GREEN hatten wir es bereits geschafft, ein maximal nachhaltiges Mountainbike zu bauen. Nun starten wir das BIKE PROJECT: EUROPE!
Die Idee eines Bikes nur aus europäischen Teilen ist nicht neu. Doch BIKE wagt als erstes großes Mountainbike-Magazin das Experiment. In einer fünfteiligen Serie besuchen wir die Produzenten, lassen Experten zu Wort kommen und schaffen einen reichweitenstarken Diskurs um die Bike-Herstellung in Europa. Es geht um Vor- und Nachteile, Herausforderungen, Grenzen und Trends.
Die Herstellung von Bikes und Parts ist heutzutage ein globaler Prozess. Da werden in Taiwan geschweißte Rahmen aus australischem Aluminiumerz mit in Kanada laminierten Laufrädern aus japanischem Carbon verheiratet. In Kambodscha werden amerikanische Reifen aus malaysischem Kautschuk aufgezogen, und die von chinesischen Investoren gebaute Montagehalle wird mit russischer Energie betrieben. Anschließend wird alles in einem koreanischen Container auf einem israelischem Schiff mit saudischem Öl nach Europa gebracht.
Die Schäden für die Umwelt sind offensichtlich. Klar ist auch, dass dieses System extrem fehleranfällig ist. Gerade jetzt bringen Krisen einzelne Glieder der Produktionskette ins Straucheln. Die steigende Nachfrage nach Bikes trifft seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie auf extrem gestiegene Frachtkosten und Lieferengpässe. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine belastet die internationalen Handelsbeziehungen. Die immer geringere Planungssicherheit frustriert nicht zuletzt die Kunden: Das Traumbike ist nicht verfügbar und die Preise erreichen Rekordhöhen.
Geografisch nah am europäischen Kunden zu produzieren, hat für die Bike-Branche deshalb wieder an Bedeutung gewonnen. Mehr und mehr Firmen stellen einzelne Produkte in Europa her. Manche machen mit großen PR-Kampagnen auf die lokale Fertigung aufmerksam. "Made in Europe" wird zu einem neuen Qualitätssiegel erhoben. Andere produzieren schon lange im europäischen Staatenverbund. Aber der Aufbau neuer Produktionsstätten dauert lange. Fachpersonal ist schwer zu finden. Noch ist es zu früh, vom großen Umdenken, gar einer Zeitenwende der Bike-Industrie zu sprechen. Die EU-Bewegung steht erst am Anfang, und wir möchten den Prozess beim BIKE PROJECT: EUROPE ein Stück begleiten.
Zwar setzen Branchengrößen, wie Cannondale, KTM, Santa Cruz oder Cube, in europäischen Montagestätten viele Millionen Fahrräder zusammen, die Produktion der allermeisten Rahmen und Komponenten findet jedoch in Übersee statt. Gerade in Fernost konzentriert sich das Know-How für eine wirtschaftlich rentable Massenfertigung von Alu- und Carbonteilen. Heutzutage sind Bikes globalisierte Puzzlespiele.
Wie anfällig die Lieferketten tatsächlich sind, und ob "Made in EU" in Zukunft eine größere Rolle spielen wird, wollten wir von Frank Greifzu, Produktmanager bei Cube, wissen.
BIKE: Cube montiert Bikes in Bayern, ist aber, wie fast alle Hersteller, von globalen Lieferketten abhängig. Wo hakt es gerade besonders und warum?
Frank Greifzu: Das stimmt, wobei wir es mittlerweile ergänzen müssen: Neben unserem oberpfälzischen Hauptstandort Waldershof haben wir im nur 30 Kilometer entfernten Tschechien eine weitere Produktion aufgebaut. Diese übernimmt sukzessive Produktionszahlen, die bislang aus asiatischen Montageorten stammten. "Assembled in Europe" gewinnt also an Gewicht. Kurze Transportwege, Personalkosten in Euro, alles klare Vorteile. Die Probleme in den Lieferketten sind leider vielfältig. Besonders hart haben uns beispielsweise Naben aus malaysischer Fertigung getroffen, die durch lokale Lockdown-Maßnahmen bezüglich Lieferzeit und -menge enorme Löcher in die Supply Chain gerissen haben. Daraus resultieren dann weitere extern angemietete Lagerorte, die bis unters Dach mit Felgen gefüllt sind, welche aber nicht verarbeitet werden können. Kundinnen und Kunden, die auf ihr heiß ersehntes Rad warten, müssen wir dann leider mehrfach spätere Liefertermine kommunizieren.
Gibt es in diesem Zuge Überlegungen, verstärkt Teile aus Europa zu beziehen? Welche Vorteile verspräche das?
Die Überlegungen gibt es definitiv. Einige Zulieferer, mit denen wir zusammenarbeiten, haben auch schon vor der Covid-Phase Produktionsstandorte aus Asien nach Europa verlegt. Portugal, Polen, Rumänien… Eine Vielzahl von Bauteilen kommt bereits von dort. Die Vorteile liegen auf der Hand: keine Währungsschwankungen, Entfall der zolltechnischen Zusatzaufwendungen, kurze und verlässlichere Transportwege. Gerade das letzte Thema hat durch den aktuellen Konflikt an Bedeutung gewonnen. Wir mussten beispielsweise Ware von Bahnfracht wieder auf Seecontainer umstellen, was etliche Wochen Verzögerung verursacht.
Man könnte annehmen, dass die Produktion von Bike-Teilen geografisch nah am europäischen Kunden immer mehr an Relevanz gewinnt. Wie schätzt ihr das für die Zukunft ein?
Das Thema wird definitiv an Bedeutung gewinnen. Aber von heute auf morgen wird das nicht passieren, da muss man realistisch sein. Für viele Bauteile aus Asien, auf die wir aktuell händeringend warten, wird es wohl erst mittelfristig eine europäische Alternative geben.
Ein Fully setzt sich – je nach Zählweise - aus gut 30 einzelnen Bauteilen zusammen. Diese wiederum bestehen aus circa 2000 einzelnen Frästeilen, Rohren, Dichtungen und vielem mehr. Die Einzelteile werden in einem globalisierten Ablauf aus verschiedenen Rohstoffen hergestellt. Bike-Hersteller selbst können diese Produktionsketten nicht einmal lückenlos nachvollziehen. Der Aufbau eines Mountainbikes ist ein komplexes Unterfangen und am Ende muss alles zusammenpassen. Zwar haben viele Hersteller von Bikeparts ihren Firmensitz in der EU, ob sie ihre Produkte jedoch auch dort fertigen lassen, ist nicht immer ganz einfach herauszufinden. Auf www.bike-magazin.de geben wir regelmäßig eine Übersicht über in der EU produzierte Bike-Teile.
Hat man einmal herausgefunden, welche Teile wirklich aus der EU stammen, stellt sich die Frage der Kombinierbarkeit. Selbst Profi-Schrauber schlagen bei der Vielfalt an Standards die Hände über dem Kopf zusammen. Wenn alles aus der EU stammen soll, wird das Vorhaben so richtig anspruchsvoll. Am Anfang des BIKE PROJECT: EUROPE stellt sich deshalb die Frage: Wie weit wollen wir gehen? Bei der Recherche zu Teile-Herstellern aus der EU lassen sich schnell einige Engpässe ausmachen. Vor allem der Antrieb ist ein Flaschenhals des BIKE PROJECT: EUROPE. Ein Beispiel: Mit Rotor (Spanien) und Ingrid (Italien) gibt es nur zwei Kettenschaltungen, die in Europa produziert werden. Die Rotor-Kassette verlangt nach einem Spezial-Freilauf und erschwert die Auswahl der Laufräder. Ingrid setzt bislang auf Schalthebel von Shimano oder Sram und wäre deshalb nur eine Kompromisslösung am Projekt-Bike. Die Getriebe von Pinion werden in Deutschland gefertigt, brauchen aber neben speziellen Griffen einen besonderen Rahmen. Das europäische Puzzlespiel ist eröffnet!
Ein Bike, das vollständig aus europäischen Rohstoffen besteht, ist mit Serienteilen derzeit nicht möglich. Der Aluminium-Rohstoff Bauxit stammt, ebenso wie das Erz für die Stahlherstellung, vor allem aus Asien, Australien, Afrika und Lateinamerika. Unter fragwürdigen sozialen und ökologischen Bedingungen werden die Rohstoffe dort der Erde entrissen. Um aus dem Bauxit Aluminium herzustellen, braucht es eine große Menge Energie. Vor allem chinesische und russische Unternehmen stellen Aluminium deshalb bei niedrigen Energiekosten in Skandinavien her.
Auch in Europa, zum Beispiel in Griechenland, wird der Rohstoff gefördert. Allerdings sind die europäischen Mengen im Vergleich zu den größten Förderern Australien und China rund 100-fach geringer und für die Herstellung von Fahrradteilen kaum relevant. Die für Carbonteile benötigten Kohlenstofffasern werden industriell gefertigt. Nur wenige, vor allem asiatische Firmen beherrschen die anspruchsvolle Herstellung großer Mengen. Auch die Weiterverarbeitung zu Prepreg und das Laminieren von Fahrradteilen finden großenteils in Asien statt.
Dem 100 % EU-Bike möglichst nahe zu kommen, ist aber nur ein Ziel des Projektes. Wichtiger noch ist es, eine Diskussion zu entfachen – bei Ihnen als Leser*innen, bei den Bike-Herstellern und bei uns als Redaktion. Das BIKE PROJECT: EUROPE ist Experiment und Erklärstück zugleich. Wenn am fertigen Bike eine Schraube, ein Ventilkern oder eine Feder verbaut ist, die nicht aus der EU stammt, bedeutet dies nicht das Scheitern des Projektes. Es bedeutet: Hier besteht Nachholbedarf.
Wie kam es eigentlich dazu, dass heute ein Großteil der Bike-Produktion in Fernost beheimatet ist? Tatsächlich war die Fertigung von Mountainbike-Rahmen und -Teilen schon früh in der Geschichte ein wichtiges Thema. Man könnte sogar sagen: Die Popularität des Bike-Sports ist eng mit Ländern, wie Japan und Taiwan verknüpft.
In den frühen 1970ern heizten junge Wilde aus dem Umkreis der kalifornischen Hippie-Bewegung auf alten amerikanischen Cruisern durchs Gelände. Ende der 70er begannen dann einige von ihnen, darunter Tom Ritchey und Joe Breeze, eigene Rahmen zu schweißen. Diese waren den Anforderungen des neuen Sports besser gewachsen und wurden mit einem Sammelsurium von angepassten Rennrad- und Tourenteilen zusammengebastelt. Geeignete Teile aufzutreiben, war ein wahrscheinlich noch komplexeres Puzzlespiel als unser BIKE PROJECT: EUROPE. In Europa bestand zu dieser Zeit zwar eine bedeutende Szene des Straßenrennsports, ans Mountainbiken dachte auf dem Kontinent jedoch noch niemand.
Vor allem Gary Fisher (später Trek) wusste sich gut zu vermarkten und bald war das Interesse an Geländebikes riesig. Die Herstellung war zeitaufwändig und die Preise waren hoch. Um die Nachfrage zu bedienen, mussten neue Produktionskapazitäten gefunden werden. Mike Sinyard (Specialized) war als Importeur von Bike-Teilen bereits früh mit Japan in Kontakt. In den 1980ern ließen er und Fisher dort erste Rahmen in großer Stückzahl und zu niedrigeren Preisen fertigen. Andere zogen nach. Aus dieser Zusammenarbeit amerikanischer Pioniere und japanischer Geschäftsleute entstand zu dieser Zeit unter anderem die allererste Mountainbike-Schaltgruppe: Shimanos XT Serie. Japans Wirtschaft wuchs in den Folgejahren dermaßen schnell, dass nur kurze Zeit später die Herstellung von Bike-Teilen dort zu teuer für die US-Firmen wurde und sie sich Anfang der 90er in Taiwan neue Produktionsstätten suchten. Dort lässt auch heute noch die Mehrzahl aller Mountainbike-Hersteller ihre Teile und Rahmen produzieren.
Und heute? Könnte die in kurzer Zeit stark gewachsene Nachfrage nach Fahrrädern wieder einen Umbruch in der Bike-Industrie auslösen? Eine Kehrtwende zurück zur lokalen Produktion? Eine vollständige Unabhängigkeit der europäischen Bike-Industrie von internationalen Zulieferern ist weder realistisch noch ist es aktuell ein Ziel der Branche. Fest steht aber: Das BIKE PROJECT: EUROPE ist voll im Trend.