Jan Timmermann
· 18.09.2023
Mountainbike-Antriebe sind komplexe Systeme. Das heißt, dass längst nicht alle Teile untereinander kompatibel sind. Ketten- oder Getriebeschaltung, Einfach- oder Zweifach-Kettenblatt, elf, zwölf oder gar 13 Ritzel, Ketten- oder Riemenantrieb? Unter den verschiedenen Systemen eine rein europäische Lösung zu finden, ist fast unmöglich – aber eben nur fast! Auch wer eine in Europa gebaute Bremse fahren will, hat nicht viel Auswahl. Da hydraulische Scheibenbremsen extrem kleingliedrige Bauteile sind, gibt es nur extrem wenige europäische Bremsen. An unserem BIKE PROJECT: EUROPE entschieden wir uns für einen Alutech-Rahmen mit deutschem Pinion-Getriebe. Die passende Kette fertigte Sram in Portugal. Verzögert wird das einzigartige Projekt-Bike durch eine Bremsanlage von Magura. Mit unserem fertigen Europa-Bike schlossen wir zwar das Projekt ab, nicht aber die Recherche nach Mountainbike-Herstellern aus Europa. Die aktuelle Liste europäischer Hersteller von Antriebsteilen und Bremsen enthält deshalb einige spannende Nachzügler.
Auffällig scheint, dass gerade in Deutschland immer mehr kleine Firmen spannende Schaltungsteile fürs Mountainbike produzieren. Neu in unserer Liste europäischer Teile-Hersteller ist unter anderem Fraezen. Im Allgäu fräst das junge Label nicht nur Schaltungskäfige, sondern auch Umlenkrollen und Kettenblätter aus Aluminium. Sowohl Cyber Cycles, als auch Unique lassen den Retro-Chick wieder aufleben und verkaufen Stahlkurbeln fürs MTB, made in Germany. Radoxx verkauft zwar keine eigenen Teile, fräst aber als Auftragsarbeit zum Beispiel Alu-Kurbelarme und Getriebe-Abdeckungen. Leichtbauspezialist THM hat Carbon-Kurbeln aus Deutschland im Angebot und Carbonice fräst im eigenen Land Kettenführungen sowie Schaltröllchen. HaigRip baut in Baden-Württemberg auffällige Custom-Plattformpedale.
Auch im europäischen Ausland gibt es noch eher unbekannte Hersteller zu entdecken. Umfasste unsere Liste zum BIKE PROJECT: EUROPE bislang nur Hersteller aus Mitgliedsstaaten aus der Europäischen Union, haben wir die Übersicht inzwischen auch um Nicht-EU-Länder erweitert. Im britischen Radstock entstehen bei Dward Design zum Beispiel Kettenblätter und Innenlager. In Polen produziert Alugear ebenfalls Kettenblätter. Hope ist bekannt für bunte Alu-Frästeile aus Großbritannien. Auch Unite fräst auf der Insel und hat ein ähnlich breit gefächertes Angebot an Antriebsteilen und Pedalen. Die Getriebenaben von Kindernay entstehen in Norwegen.
Kaum eine Nachricht empfängt die Bike-Gemeinde so aufgeregt, wie neue Scheibenbremsen aus Europa. Das Angebot war bislang überaus übersichtlich, hat sich im vergangenen Jahr aber etwas erweitert. Hope baut schon viele Jahre Bremsen und Bremsscheiben in Großbritannien. Intend-Chef Cornelius Kapfinger hat inzwischen auch wieder Bremsen im Angebot. Der Tüftler zeichnete sich auch verantwortlich für die Entwicklung der legendären Trickstuff Diretissima Bremse. Apropos Trickstuff: Nach dem Verkauf an DT Swiss ist es derzeit ruhig geworden um den deutschen Bremsenbauer. Auf der Eurobike zeigte Trickstuff aber interessante Experimente mit Titan-3D-Druck. OAK-Components aus Regensburg hat sein Sortiment inzwischen um einen Bremsgriff für TRP-Bremsen erweitert. Zwar nicht in einem EU-Mitgliedsstaat, aber in der Schweiz macht 612 Parts mit einer ganz eigenen Bremse auf sich aufmerksam.
Unsere Listen sind nicht abschließend und wir freuen uns über Ihre Ergänzungen. Sie wissen, wo in der EU weitere Bremsen, Schaltungs-Teile und Pedale produziert werden? Dann schreiben Sie uns eine Mail an: j.timmermann@bike-magazin.de
Hersteller / Firmensitz / Produktionsstandort / Bemerkungen
Dominiert wird das Antriebs-Angebot an Mountainbikes von Shimano und Sram. Shimano ist der größte Hersteller von Bike-Teilen weltweit und fertigt in Singapur, Malaysia, China und Japan. Der amerikanische Riese Sram hat seine größten Produktionsstandorte in Taiwan und China. Daneben versuchen kleinere Hersteller, wie L-Twoo (China) Microshift oder TRP (beide Taiwan) auf dem Markt Fuß zu fassen. In Europa werden tatsächlich nur zwei Kettenschaltungs-Systeme hergestellt. Rotor fertigt nicht nur Kurbeln und Kettenblätter in Spanien, sondern auch ein hydraulisches 13-fach Schaltsystem mit Schaltwerk, Schalthebel und eigener Kassette. Letztere erfordert einen speziellen Freilauf-Standard. Die passende Kette liefert nicht Rotor selbst, sondern KMC (Taiwan) mit dem X12-Modell. Die Italiener von Ingrid produzieren exklusive Schaltwerke, Kassetten, Kurbeln und Kettenblätter in Kleinserie, setzen jedoch bislang auf Schalthebel und Ketten von Shimano und Sram. Campagnolo produziert zwar auch in Europa, hat aber mit der Ekar-Serie eine Gravelbike-, jedoch keine Mountainbike-Schaltung im Angebot.
Dann gäbe es da natürlich noch die große Alternative, made in EU: die Getriebeschaltung. Entweder integriert in die Hinterradnabe, wie bei Rohloff, 3x3, bzw. Revolute (alle Deutschland), oder in den Rahmen eingebaut, wie bei Pinion (Deutschland), bzw. Effigear (Frankreich). Von Effigear und Tout Terrain gibt es auch Schalthebel-Lösungen. Für Getriebe mit den Standard-Drehgriffen braucht es jedoch spezielle Griffe. Genauso muss der Rahmen für die Aufnahme eines Getriebes ausgelegt sein. In Verbindung mit gekapselten Antrieben setzen viele Hersteller auf die Kraftübertragung via Riemen. Der amerikanische Marktführer Gates Carbon Drive hat immerhin einen Produktionsstandort in Schottland, die meisten Riemen kommen aber aus dem nicht-europäischen Ausland.
Hersteller / Unternehmenssitz / Produktionsstandort / Bemerkungen
Die Bremsanlage ist eines der kleinteiligsten Baugruppen an einem Bike. Aufgebaut sind alle hydraulischen Scheibenbremsen nach demselben Prinzip: Über eine Leitung wird der Geberkolben im Bremsgriff mit den Nehmerkolben im Bremssattel verbunden. Am Mountainbike kommen in der Regel zwei oder vier dieser Nehmerkolben zum Einsatz. Die Körper von Bremshebeln und -sätteln bestehen aus Aluminium, Magnesium, Kunststoff oder Carbon. Wobei am Bremssattel aufgrund der Hitzeentwicklung vorwiegend auf geschmiedetes Aluminium gesetzt wird. In den Bremsen finden sich zahlreiche Kleinteile, wie Lager, Dichtungen, Kunststoffteile, Hebel, Kolben, Zylinder, Stifte, Federn, Ventile, Pins, Oliven, Banjos, Schrauben, Abdeckungen und natürlich die Bremsflüssigkeit. Die meisten Hersteller setzen auf Mineralöl oder DOT als Bremsmedium.
Zum Bremssystem gehört aber selbstverständlich auch die Bremsscheibe, welche mit Hilfe je einer zweiteiligen Shimano Centerlock-Verschraubung oder sechs einzelnen Torx-Schrauben an den zwei Laufrädern befestigt werden. Hinzu kommen die vier oder acht Bremsbeläge für Vorder- und Hinterradbremse, zu denen neben den eigentlichen Belägen auch Trägerplatten, Federn, Schrauben und Sicherungssplints gehören. Um die Bremsanlage am Rahmen, beziehungsweise an der Gabel zu befestigen, braucht es Schrauben, Unterlegscheiben und Adapter. Insgesamt addieren sich die Bestandteile zweier Bremsen auf hunderte Kleinteile. Bremsenhersteller produzieren diese Teile nicht alle selbst, sondern kaufen die meisten von Zulieferern ein. Ähnlich wie bei Federgabeln und Dämpfern, stammen viele dieser Kleinteile aus Asien. Dort werden sie kostengünstig in großen Stückzahlen produziert. Eine komplette Bremsanlage, die ihren Ursprung zu 100 Prozent in Europa hat, gibt es nicht. Wohl aber Produkte, die dieser Utopie näher kommen als andere.
Von 27 Mitgliedsstaaten des europäischen Staatenverbundes werden nur in zweien hydraulische Scheibenbremsen für Mountainbikes produziert. Dazu kommen die Bremsen von Hope und 612 Parts aus England, beziehungsweise der Schweiz. Brakeforce One (Deutschland) baut inzwischen keine Bremsen mehr. Die europäischen Rohstoffpreise des für Bremsscheiben benötigten Stahls sind nicht erst seit dem Ukrainekrieg und der Energiekriese extrem hoch. Lediglich Brakestuff, Intend (beide Deutschland), Carbon-Ti, Braking (beide Italien), Hope (Großbritannien) und Galfer (Spanien) stellen in Europa Bremsscheiben her. Die Scheiben von Formula, Magura und Trickstuff kommen derzeit aus Asien.