Jörg Spaniol
· 20.09.2022
Eine Schaltung “Made in Europe”? Klingt schwierig – bis man die gewohnten Bahnen verlässt: Pinion baut so etwas. Mit maximaler Übersetzung und ebensolcher Akribie.
140 Teile sind nicht wirklich viel, wenn es um ein Puzzle geht. 140 Teile sind Anfängerniveau, so wie Katzenbilderpuzzle für Fünfjährige. Doch das, womit Dragica Vlajic hier hantiert, sind keine kurvigen Pappstückchen, sondern 140 kantige Metallteile: Zahnräder, Antriebswellen, Sprengringe, Kugellager, Sperrklinken, winzig kleine Federchen und noch einmal Zahnräder. Und Vlajic stapelt und steckt und klemmt diese Partikelchen so schnell aufeinander, dass das Auge ihren Fingern kaum folgen kann. Also noch einmal: Achsen, Zahnräder, Federchen und, und, und... Und zum Schluss ein paar Tropfen Öl dazu. Deckel drauf und fertig.
Nur ein halbes Dutzend Mitarbeiterinnen werkeln gerade in der Getriebemontage bei Pinion. Corona hat zugeschlagen, und ohnehin sind momentan Schulferien. Doch wenn die Leute bei Pinion so schnell montieren und liefern könnten, wie der Bike-Markt es gerne hätte, müssten wohl 1000 Getriebe täglich aus dem verschachtelten Gewerbebau in Denkendorf in alle Welt gehen: Ein halbes Jahr kann es derzeit dauern, bis ein bestelltes Getriebe bei einem Bike-Hersteller ankommt. Doch das liegt eher an den räumlichen Grenzen des Wachstums. Erst neulich ist die ganze baden-württembergische Firma umgezogen, in ein Nachbargebäude mit mehr freier Fläche und charmant aufpolierten Überbleibseln alter Industriekultur: Natursteinplatten, Fliesen und Sprossenfenster sind definitiv älter als die neuen Hausherren. Derzeit wird die dritte Etage ausgebaut. Es läuft bei Pinion.
Als die beiden Firmengründer Christoph Lermen und Michael Schmitz ihr Baby im Jahr 2010 auf der Eurobike vorstellten, wussten sie nur, dass ihr Getriebe technisch funktioniert. Lermen und Schmitz sind Getriebeprofis. Die beiden Hobby-Biker lernten sich in der Entwicklungsabteilung bei Porsche kennen, und ihr Fahrradgetriebe ähnelt in seinem Grundaufbau einem mechanischen Schaltgetriebe, wie es in Millionen Autos unterwegs ist. Nur halt mit 18 statt fünf oder sechs Gängen. Und viel kleiner. Und mit
einer Kundschaft, die ihren Vortrieb nicht aus Superbenzin, sondern aus sensiblen Muskeln entwickelt. Einer Kundschaft, für die das Getriebe nicht irgendein unvermeidliches Autoteil, sondern ein zentrales Kaufkriterium darstellt. Keine Frage: Der Grundsatzentscheidung „Shimano- oder Sram-Schaltung“ eine völlig eigenständige Alternative zur Seite zu stellen, erforderte Selbstvertrauen – zumal Pinions Kunde, der Radhersteller, dafür einen speziellen Rahmen entwickeln muss, der mit nichts anderem als einem Pinion-Getriebe kompatibel ist.
Abseits der eigenen Findigkeit spielten den beiden Gründern zwei Entwicklungen der Radtechnik in die Hände: Der praktisch wartungsfreie Gates-Riemenantrieb ergänzt das Getriebe zum Sorglos-Paket. Alle 10.000 Kilometer möchte die Pinion-Box 60
Kubikzentimeter frisches Öl, das ist alles. Der Gates-Riemen braucht gar keines. Die Kombination setzt diese Antriebsvariante noch deutlicher von der wartungsintensiveren Kettenschaltung ab, als es das Getriebe alleine getan hätte. Die Mehrheit der Pinion-Schaltungen wird mit Riemenscheibe statt Zahnrad ausgeliefert.
Der zweite, eher unerwartete Umsatz-Booster ist das E-Bike. Obwohl Pinion-Getriebe genau da sitzen, wo sonst der Mittelmotor hingeschraubt wird, ist das Getriebe für stark beanspruchte Straßen- und Reise-Pedelecs interessant. In Kombination mit
einem Hinterradmotor kommt nur die Tretkraft des Fahrers in der Schaltung an, während bei der üblichen Kombination von Mittelmotoren mit Ketten- oder Nabenschaltung die Schaltkomponenten die Motor-Power abbekommen. Das ist verschleißintensiv. Etwa die Hälfte der Getriebe wandert in E-Bikes und die extrastarken S-Pedelecs.
Sportliche Mountainbikes mit Muskelantrieb machen nur etwa ein Zehntel der Stückzahl aus. Hier dominiert das Zwölffach-Getriebe. Pinion liefert diese kompakten Uhrwerke vor allem an kleine Schmieden wie Portus, Quantor, Nicolai und Instinctive, an Zerode aus Neuseeland – und eben an Alutech, woher der Rahmen unseres Project-Europe-Bikes stammt.
Womit wir wieder beim Thema wären: Europa, die Lieferketten und die Globalisierung. In der Pinion-Zentrale nahe Stuttgart ist der größte Teil der gut 60 Angestellten damit beschäftigt, Teile zu entwickeln, zu verbessern, zu überprüfen, einzukaufen und zu verwalten. Zu sehen gibt es in den oberen Etagen nicht viel – zumindest für Besucher: Da sind Büros, die aussehen wie Büros. Und dann gibt es noch die Türen, hinter denen alles geheim ist oder Besucher stören würden. Der eigentliche Getriebebau ist konzentrierte Handarbeit. Alles wird von außen zugeliefert, nur wenige Monteurinnen und Monteure kombinieren die vielen Teile zu versandfertigen Getrieben, die von hier
direkt zu den Bike-Firmen gehen.
Trotzdem sind die Pinion-Getriebe so europäisch, wie es nur geht. Gut 90 Prozent davon sind Made in Europe, über zwei Drittel der Wertschöpfung passieren in Deutschland. Wenn nicht im eigenen Haus, dann manchmal fast um die Ecke. Und das ist, wie Mitgründer und Mitinhaber Christoph Lermen klarstellt, eine sehr vernünftige Entscheidung. „Einige Teile, etwa Zahnräder, kommen aus dem Schwarzwald. Manche Hersteller sind Nachfolger der Firmen, die irgendwann einmal Uhren hergestellt haben. Gerade bei Zahnrädern geht es oft um winzige Kleinigkeiten, und diese Leute kennen sich damit aus. Anfangs hat uns die Kooperation mit regionalen Fertigern auch geholfen, das Produkt zu verbessern. Da hat man mal zusammen draufgeschaut, statt Dinge oder Menschen um die Welt zu schicken.“
Mittlerweile hält Pinion über 70 Patente im Bereich der Antriebstechnik. Doch auch ohne diesen Schutz fürchtet der Hersteller wenig Konkurrenz: Das Produkt ist im Detail sehr komplex, und die deutschen Zulieferer sind nicht nur technisch, sondern auch preislich wettbewerbsfähig. Christoph Lermen: „Das sind Firmen, die auch für die Autoindustrie arbeiten. Da gibt es ein hohes Maß an Automatisierung. Und ob diese Maschine jetzt hier oder in einem anderen Land steht, ist für die Kosten weitgehend egal.“ Davon
abgesehen, habe sich diese Zusammenarbeit vom Pragmatismus zur Überzeugung entwickelt: Es sei einfach eine gute, produktive Zusammenarbeit – auch weil Kommunikation, Qualitätsverständnis und Design-Kultur zusammenpassen.
Die unmittelbar an der Übersetzung beteiligten Zahnräder drehen sich um zwei Wellen. Die unteren sieben Zahnräder sitzen auf der Tretlagerwelle, die oberen sieben auf einer Hohlwelle, an der von außen der Schaltzug angreift.
Zahnradgruppe 1 sitzt unbeweglich auf der Tretlager-welle. Diese vier Zahnräder (bei der 18-Gang-Pinion wären es sechs) drehen sich exakt mit der Trittfrequenz.
Zahnradgruppe 2 Die jeweils gegenüberliegenden Zahnräder in Gruppe 2 drehen sich ständig mit. Sie laufen im Ölbad auf einer hohlen Welle. Diese Hohlwelle hat Fensterchen, und zwar unter jedem der oberen Zahnräder. Beim Schalten klappt unter einem davon eine Sperrklinke hoch. So ist es im Eingriff. Dieses Zahnrad überträgt jetzt die Kraft von der Tretkurbel auf die obere Welle. Das gesperrte Zahnrad dreht die obere Welle in der Drehzahl, die sich aus dem jeweiligen Übersetzungsverhältnis der Zahnräder unten und oben ergibt. Wir haben sie zum besseren Verständnis eingefärbt.
Zahnradgruppe 3 sind die drei Zahnräder rechts davon. Sie machen etwa das, was früher drei Kettenblätter geleistet haben: Die jeweilige Kombination aus einem der vier Zahnräder links und einem von ihnen vervielfacht die Zahl der Gänge. Sie drehen sich mit derselben Hohlwelle, und auch hier bestimmt eine (durch den Schaltzug aktivierte) Sperrklinke, welches der drei die Drehzahl aufnimmt. Das eingefärbte Zahnrad rechts wäre sozusagen das „kleine Blatt“.
Zahnradgruppe 4 sitzt auch auf der Tretlagerwelle, dreht sich aber unabhängig von Gruppe 1 völlig frei auf Nadellagern. Das kleine Zahnrad aus Gruppe 3 dreht jetzt das große Zahnrad aus Gruppe 4. Diese starr miteinander verbundene Dreiergruppe ragt hinter der rechten Tretkurbel aus dem Gehäuse (auf dem Foto oben ist das nicht zu sehen). Auf diesem nach außen ragenden Teil sitzt das Kettenblatt – das unabhängig von der Tretkurbel mit der Drehzahl kreist, die das Getriebe ihm vorgegeben hat.
Das Pinion-Getriebe läuft seit über zehn Jahren in Serie. Die meisten Zulieferer arbeiten auch für Autofirmen – ein Markt, der in Deutschland extrem gut bedient wird. 95 Prozent des Getriebes sind europäisch.
Pinions 12-Gang-Getriebe deckt einen größeren Übersetzungsbereich ab als die aktuellen Zwölffach-Kettenschaltungen und ist so gut wie wartungsfrei. Der Hersteller gibt den Wirkungsgrad mit konstant 96,5 Prozent an, eine Winzigkeit niedriger als eine gut geölte Kettenschaltung ohne größeren Schräglauf. Ein Pinion-Rad ist etwa ein Kilo schwerer als eines mit Highend-Kettenschaltung. Das liegt auch an der speziellen Aufnahme, die einen Rahmen Pinion-kompatibel macht.
Spreizung: 600 Prozent
Gänge: 12 Gänge
Gewicht: 2,1 Kilo (ohne Kurbeln)
Preis: 1000 Euro
Die Antriebszahnräder sowie die Tretlager- und Schaltwelle sind Made in Germany aus dem Schwabenland. Weil Pinion die Namen seiner Zulieferer nicht detailliert veröffentlicht, ist die Frage nach der Herkunft der jeweiligen Legierung nicht zu klären. Zudem sind viele Legierungen weltweit beschaffbar, der Lieferant also auch vom Hersteller rasch zu wechseln. Deutschland ist bei Spezialstählen grundsätzlich ein wichtiges Lieferland. Die diversen Kugel- und Nadellager in Pinion-Getrieben stammen aus Deutschland. Winzige Ausnahme: Ein Teil der Sperrklinken kommt aus der Schweiz.
Das Getriebe unseres Europa-Rades stammt aus der leichteren, preiswerteren C-Serie von Pinion. Hierfür werden die Gehäuse aus Magnesium-Druckguss hergestellt – und zwar von einem Zulieferer aus Rheinland-Pfalz. Auch dieser legt die Herkunft seiner Legierungen nicht offen. Die geschmiedeten und überfrästen Tretkurbeln aus Taiwan sind der größte Asien-Import im System. Hier bemühte sich Pinion schon in der Vergangenheit um weitere Fertigungsbetriebe, um Lieferengpässe zu vermeiden. Ein Teil der Kurbeln stammt mittlerweile aus Portugal.
Ja, die Petrochemie... Ob das Rohöl für das Getriebe ausgerechnet aus Russland, dem Iran oder Saudi-Arabien kommt, lässt sich nicht feststellen. Die Wertschöpfung, also die Verwandlung in Getriebeöl, passiert aber in Frankreich. Mit der Menge von 60 Kubikzentimetern käme man – wäre es Benzin – kaum einen Autokilometer weit. Die Getriebedichtungen sind hochspezialisierte Kunststoffteile, vor allem die Abdichtungen der drehenden Wellen nach außen sind heikel. Die Dichtungen stammen von einer schwedischen Firma, die noch in China fertigt. Demnächst sollen sie in Deutschland hergestellt werden.
Geschichte: Im Jahr 2006 lernten sich die Gründer Michael Schmitz und Christoph Lermen beim Autohersteller Porsche kennen. 2007 meldeten sie das erste Patent für ihr Bike-Getriebe an. Zur Eurobike 2011 stellten erste Radmarken Pinion-Modelle aus. Die Firma gehört den Gründern sowie einem privaten Investor.
Produktion: In Denkendorf bei Stuttgart findet die komplette Montage statt, außerdem Entwicklung, Verkauf und Administration. Etwa 60 Angestellte arbeiten hier. Die Zulieferer der Einzelteile produzieren überwiegend in Deutschland, oft in der Region.
Modellpalette: Pinion baut nur Schaltgetriebe, und zwar mit 6, 9, 12 und 18 Gängen. Die teurere P-Serie kommt mit gefrästen Gehäusen und 12 oder 18 Gängen. In der C-Serie (6-, 9- und 12-fach) bestehen die Gehäuse aus Magnesium-Druckguss. Dazu gehören ein Drehgriff und hauseigene Alu-Kurbeln.