Jörg Spaniol
· 08.11.2022
Bremskraft vom Pionier: Fast 130 Jahre nach der Firmengründung produziert Magura noch immer in Bad Urach und Umgebung. Die Hydraulik-Felgenbremse der Schwaben mischte 1987 den Bike-Markt auf, die aktuelle MT7 wird an unserem Europa-Rad für das BIKE Project Europe verzögern.
Das geht ja gut los. Am Konferenztisch der optisch eher zurückhaltend aufgemotzten 60er-Jahre-Firmenzentrale in Bad Urach sitzt Christian Büchle, Maguras Entwicklungsleiter für Bike-Bremsen. Und was er sagt, klingt so, als seien wir an der falschen Adresse für das BIKE Project Europe:
„Es gibt keine rein europäische Bremse, zumindest nicht der Großserie, …“ Bumm, das sitzt. Thema verfehlt? Zum Glück geht der Satz weiter. „… aber meines Wissens ist die MT7 die europäischste von allen. Keine Bremse enthält bis in die zweite Ebene der Lieferkette so viel Europa wie eine MT7.“
Und genau deshalb sind wir hier. Die zweite Ebene der Lieferkette, das sind bei einem Bike die Zulieferer der Zulieferer. Ganz oben stehen die Bike-Marke oder der Kunde im Shop, dann kommt Magura als Zulieferer der ersten Ebene – und dann wird es für unser Projekt interessant. Denn bei Magura ist ein Großteil der Zutaten in der eigenen Kunststoff-Spritzgießerei hausgemacht, und im Nachbarort Hengen bauen Menschen und Maschinen die Teile zusammen. Das ist die zweite Ebene.
Magura, das ist klassischer deutscher Mittelstand mit spezialisierten Highend-Produkten, cleanen Industriebauten, rund 680 Mitarbeitern und einem Namen, der auf den Gründer verweist: Gustav Magenwirth, Urach. Dass der heute geschäftsführende Spross der Gründerfamilie nicht Fabian Magenwirth, sondern Fabian Auch heißt, liegt bloß am Stammbaum. Der Firmengründer hatte keinen Sohn, also ging der Nachname bei den verheirateten Töchtern verloren. „Magura ist in der Region gesellschaftlich eingebettet. Wir produzieren jetzt in der vierten Generation hier und würden das gerne auch in der fünften, sechsten und siebten Generation machen“, sagt Auch, der Urenkel des Gründers. Und er ergänzt: „Auch Nachhaltigkeit und Reshoring, also die Rückverlagerung der Fertigung, sind Themen, die uns bewegen. Es ist gut, auf einen großen Teil der Lieferkette zugreifen zu können. Da geht es um kurze Transportwege und auch um die Berechenbarkeit der Lieferzusagen.“
Ein Thema, das Magura während der Corona-bedingten Turbulenzen in die Karten spielte: Beim Branchenprimus Shimano hakte es im Bremsenbereich mächtig, etliche Kunden schwenkten auf Magura um. Dass auch in einer Magura-Bremse ein gewisser Taiwan-Anteil steckt, ist unbestritten. Doch das Herz der Marke schlägt zweifelsfrei im Dreieck zwischen Bad Urach, Hengen und Hülben. In Hülben kann man ihm dabei zusehen, ohne allzu vielen Menschen im Weg zu stehen.
Eine fensterarme Werkshalle in der Ortsmitte. Darin: 50 Kunststoff-Spritzgießmaschinen. Darüber, auf einer Empore: ein Schlauchgewirr, verschlungen wie ein halbes Dutzend Oktopusse beim Rugby. Durch die Schläuche sirren die Granulatkörner von über 130 Kunststoffsorten, um am Ende zu fast allem zu werden, woraus eine Bremse besteht. Dichtungen, Abstreifringe, Kolben, Hebel, Griffstücke – etwa tausend verschiedene Kunststoffteile kann Magura hier selbst herstellen. Die meisten davon sind Puzzleteile für Fahrrad- oder Motorradbremsen.
Dass die Produktion im teuren Schwabenland konkurrenzfähig ist, liegt am hohen Automatisierungsgrad, und es liegt am ausgefuchsten Verfahren. Kunststoffe, wie das carbonfaservestärkte Carbotecture, können Metall ersetzen. Und die Teile, die aus den komplexen Maschinen in Auffangbehälter klackern, sind „werkzeugfallend“, heißt: Sie kommen aus der Form und sind fertig. Glänzende Oberflächen, klare Logos, keine Grate. Metall müsste entgratet, befräst, poliert und beschichtet werden. Die Kunststoffteile aus Hülben sind einfach fertig.
Und dann kommt das „Ja, aber …“ ins Spiel. Dieses „Ja, aber …“ heißt Taichung und ist das Zentrum der taiwanesischen Bike-Industrie. Zwischen Taichung und Bad Urach sind ständig Teile unterwegs. Auf beiden Seiten heißt der Empfänger Magura. Magura Asia hat 150 Angestellte, und es liegt dicht bei den großen Bike-Herstellern. Was in den dortigen Fahrradfabriken an die Bikes kommt, wird überwiegend dort montiert – auch aus deutschen Zutaten. Auf dem Rückweg reisen Bremsscheiben und geschmiedete Bremssättel ins Schwäbische.
Es ist die Logik einer globalisierten Branche, die Magura-Geschäftsführer Michael Funk im Uracher Besprechungsraum erklärt:
„Wir stehen in einem globalen Wettbewerb. Wenn ein Mitbewerber in einem Niedriglohnland fertigen lässt, müssen wir uns dem stellen. Aber alles, was überwiegend Maschinen machen, können wir hier produzieren.“
In der Montage sieht es teilweise anders aus. Trotzdem werden auch die Kunststoffteile für die Bremsen, die in Taiwan montiert werden, in Hülben gespritzt.
„Das Engineering, das Kunststoffwissen und die Werkzeuge werden wir sicher nicht rausgeben. Das Kern-Knowhow bleibt in Deutschland – schon um die Fertigung hierzulande aufrechtzuerhalten,“ so Funk.
Unserer MT7 bleibt die Seefahrt ohnehin erspart. Die Bremsen für Europa montieren Magura-Mitarbeiter in Hengen, ganz in der Nähe des Firmensitzes – unsere MT7 Bremse für das BIKE Project Europe also auch. Beim letzten Montageschritt werkelt ein eingespieltes Trio. 45 Bremsen pro Stunde, also 360 in einer Acht-Stunden-Schicht, sind das Soll. Kolben einsetzen, Leitung anschließen, ablängen. Ein Automat befüllt das System mit Hydrauliköl und checkt die Dichtigkeit. Dann baumelt die fertige MT7 noch kurz im gleichmäßig weißen Licht der Halle. Mit ein wenig Fantasie wirken die gelben Ringe der Bremssättel wie Roboteraugen, die dem Einsatz am Europa-Bike entgegensehen.
Gustav Magenwirth, Bad Urach. Aus Namen und Standort bastelte sich der Unternehmensgründer 1893 den Firmennamen. Magenwirth war ein vielseitiger Techniktüftler mit diversen Patenten bei Motoren, Pumpen und Ventilen. In den Zweiradbereich stieg Magura 1923 mit einem „Geradzugregulierungshebel“ für Motorräder ein. Seitdem liefert Magura BMW-Motorradbremsen. Obwohl heute kein Magenwirth die Firma führt, ist sie noch im Familienbesitz: Der Gründer hatte ausschließlich Töchter, die bei der Heirat den Namen aufgaben. Immerhin sind deren Namen in den früheren Bremsenmodellen Luise, Julie und Martha verewigt.
Dass Magura 1957 zusätzlich zur Metallverarbeitung in die Kunststofftechnik einstieg, ist eine Grundlage für die heutige Fertigung Made in Germany. Das Werk steht nicht in Bad Urach, sondern im nahe gelegenen Hülben. Den entscheidenden Schritt vom Motorrad zum Mountainbike ging Magura aber erst 1987 mit der Erfindung und Fertigung der ersten Hydraulikbremse für Fahrräder. Die legendäre HS-22-Felgenbremse leuchtete bald in Raceline-Neongelb an den Bikes von frühen Heroen wie John Tomac. Der Gründer selbst taucht namentlich erst in der 1996 vorgestellten Downhill-Disc-Brake Gustav M wieder auf – einer miniaturisierten Motorradbremse. Sie begründete maßgeblich den Siegeszug der Scheibenbremse am Mountainbike.
Unser Europa-Rad giert eher nach abschüssigen Höhenmetern als nach Kletterpassagen. Die passende europäische Bremsanlage ist Maguras stärkste Vierkolben-Kneifzange, die MT7.
Vier Kolben für ein Halleluja: Die kräftigste Bremse aus dem Magura-Programm überzeugte auch im BIKE-Test: Zuletzt in Heft 5/21 bescheinigten ihr die Tester eine starke Bremsleistung, geringes Fading und gute Dosierbarkeit. Als Hydraulikmedium verwendet Magura Mineralöl. Das gilt als weniger toxisch als übliche DOT-Bremsflüssigkeiten.
Konstruktion: Vierkolben-Hydraulikbremse Gewicht: 255 Gramm/Stück Preis: ca. 230 Euro/Stück (ohne Bremsscheibe)
Die Carbotecture-SL-Bremsgriffe und -hebel sind Maguras besonderer Stolz, denn fast sämtliche Einzelteile entstehen im eigenen Werk in Hülben. Der mit Carbon-Kurzfasern verstärkte Kunststoff wird seit 2010 eingesetzt. Er soll eine leichtere Bauweise als Aluminium erlauben. Der im Griff gleitende Kunststoffgeberkolben wird ebenso wie die Stahlbolzen des Griffs in Deutschland oder Taiwan hergestellt, die Dichtungen sind europäisch. MT7-Käufer haben die Wahl zwischen drei Hebelformen mit unterschiedlichen Einstellmöglichkeiten, etwa für den Druckpunkt.
Oben Deutschland, unten Taiwan: Einen Bremssattel baut man sinnvollerweise nicht aus Thermoplast, das in der Hitze dahinschmilzt. Er besteht auch bei der MT7 aus Aluminium und wird einteilig geschmiedet. Auch aufgrund der zahlreichen weiteren Bearbeitungsschritte ist das in Deutschland zu teuer für den globalen Wettbewerb. Die Alu-Teile kommen deshalb aus Taiwan, wo Magura ein Zweitwerk unterhält. Die Nehmerkolben entstehen dort oder hierzulande. Der Bremssattel der MT7 unseres EU-Projekt-Bikes wurde in Hengen auf der Alb montiert, doch teilweise geschieht auch das in Taiwan.
Die internationale Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Taiwan zieht sich auch bei den übrigen Komponenten einer MT7 durch. So stammen sowohl das Hydrauliköl als auch die Bremsleitungen aus deutscher Fertigung, während Magura die nach eigenen Vorgaben gefertigten Bremsscheiben aus Taiwan bezieht. Bei den Bremsbelägen (wie bei den Scheiben und Bremshebeln stehen mehrere Varianten zur Wahl) sitzen die Zulieferer in Fernost oder Europa. Auch wenn die Fertigung dieser Komponenten ausgelagert ist, bleiben Entwicklung und Qualitätskontrolle in Händen von Magura Deutschland.
Für Magura als Teil der Magenwirth Technologies Group sind Fahrradbremsen nur eines von mehreren Geschäftsfeldern. Neben Magura als Hersteller von Kunststoffteilen, Fahrrad- und Motorradtechnik gehört auch die Elektronikfirma Bebro zum Konzern, die weltweit über 1200 Mitarbeitende beschäftigt. Etwa zwei Drittel des Umsatzes von über 200 Millionen Euro erwirtschaftet Magura. Im Stammsitz in Bad Urach finden Einkauf, Entwicklung und Vertrieb von Fahrrad- und Motorradkomponenten statt. 170 Angestellte produzieren bei Magura Kunststofftechnik in Hülben auf der Schwäbischen Alb Bauteile der Bremsen. Im nahe gelegenen Hengen sitzen Montage und Versand mit 130 Angestellten. Im Fahrradbereich ist Magura zudem Service-Partner der Pedelec-Antriebe von Bosch. Eine Tochterfirma in Taichung/Taiwan mit 150 Angestellten montiert nahe an den asiatischen Fahrradfabriken die Bremsen für dort ansässige Marken. Die US-Niederlassung in Olney/ Illinois steuert überwiegend den Vertrieb in Übersee – neben Fahrradteilen geht es auch um Teile für Schneefräsen und Harley-Davidson-Motorräder.