Josh Welz
, Markus Greber
· 16.03.2021
Vor zehn Jahren lief bei Haibike das erste Mountainbike mit E-Antrieb vom Band. Der Urahn aller Serien-E-MTBs veränderte nicht nur die Geschichte des Schweinfurter Unternehmens. Die Meilensteine einer jungen Bike-Kategorie.
Belächelt, verpönt, verachtet: In der MTB-Szene glaubte zu Anfang kaum einer, dass der E-Antrieb auch in Mountainbikes Karriere machen würde. Zumindest, bis Haibike auf der Eurobike 2010 das erste sportliche Serien-E-MTB präsentierte und damit einer beispiellosen Entwicklung den Weg ebnete. Das eQ XDURO stahl den motorlosen Verwandten die Show, und vielen Mitbewerbern stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Denn die Händler rissen sich um die Haibike-Kreation, mit der die Schweinfurter den Grundstein für ihre jahrelange Marktdominanz legten. 2011 ging Haibike mit vier Modellen in Serie – und konnte sogar manch überzeugten Bio-Biker begeistern. Denn da die Konstrukteure den Bosch-Motor gedreht im Rahmen verankerten, hatte das erste XDURO schon eine erstaunlich sportliche Geometrie. Damit gilt es zu Recht als Ur-Ahn moderner E-Mountainbikes.
Grundlage für das erste Haibike war der allererste Bosch-E-Bike-Motor. Die Schwaben stiegen mit dem Classic Plus-Motor ebenfalls auf der Eurobike 2010 ins E-Bike-Business ein. Der Motor hatte bereits vier Unterstützungsstufen und bot den Bike-Herstellern die Möglichkeit einer variablen Batterieposition, wahlweise am Unterrohr oder auf dem Gepäckträger. Der Motor begeisterte mit seinen 50 Newtonmetern Drehmoment und seiner Dosierbarkeit auch sportliche Fahrer. Bosch etabliete mit dem Classic Plus das System des Mittelmotors und konnte sich nach kurzer Zeit gegenüber der Konkurrenz von Bionix, Panasonic und Impulse abheben.
Moutainbiker, Geschäftsmann, Visionär – Kurt Schär gründete 2001 die erste reine E-Bike-Firma. Flyer wurde bald zum Maß der Dinge, was City – und Trekking-E-Bikes betraf, doch bis zum ersten echten E-MTB sollten noch Jahre vergehen. „Ich wusste, dass das E-MTB irgendwann kommt und wir hatten auch schon Mitte der 2000er-Jahre Prototypen konstruiert. Aber die Zeit war nicht reif, weil vor allem die Batterietechnik noch nicht so weit war”, erinnert sich der Schweizer Pionier heute. Auf der Eurobike 2010, als auch Haibike sein Ur-E-MTB zeigte, war es auch bei Flyer soweit und Schär präsentierte seine X-Serie. Vollgefedert und mit einem 300-Watt-Antrieb von Panasonic samt 15 Ah-Akku sollte das Bike neue Maßstäbe in Sachen Komfort und Geländetauglichkeit setzen. Mit seinen superlangen Kettenstreben war es allerdings weniger sportlich ausgelegt, als das Haibike-Pendant.
Er brachte das Windsurfen nach Europa, gründete 1989 das BIKE Magazin und gilt als Urvater der MTB-Alpenüberquerung-Bewegung – klar dass Uli Stanciu auch das Potential des E-MTBs früh für sich entdeckte. Allerdings war auch Stanciu als eingefleischter Biobiker lange Zeit skeptisch. So versuchte Flyer-Gründer Kurt Schär über Jahre vergeblich, ihn von den Vorteilen seiner E-Bikes zu überzeugen. „Erst wenn du mir ein vernünftiges vollgefedertes E-MTB hinstellst, kann ich das Thema ernst nehmen.“ Das geschah dann auf der Eurobike 2010. Mit der brandneuen X-Serie von Flyer startete Stanciu noch im September 2010 mit Partner Jürgen Renner die erste E-MTB-Alpenüberquerung von Innsbruck zum Gardasee. Unter der Überschrift „Berge ohne Schrecken” schrieb sich Stanciu in seinem Buch „Faszination Transalp” seine Begeisterung für das E-MTB von der Seele.
Während ein Teil der Radbranche immer noch darüber nachdenkt, ob sich der Einstieg ins E-Segment lohnt, geht Haibike mit 37 Modellen in die Vollen. Das E-Mountainbike ist bei den Visionären von Haibike schon längst Normalität, während andere Firmen dem Thema noch die kalte Schulter zeigen. Mit 180 Millimetern Federweg soll das XDURO NDURO sogar die Freeride- und Downhill-Fraktion locken, neue Perspektiven tun sich auf.
Rotwild steigt mit dem Hardtail R.C1 in den sportlichen E-MTB-Sektor ein. Wie zuvor schon Haibike, bauten auch die Dieburger den Bosch-Motor umgedreht in den Rahmen ein. Das war der Anfang von Rotwilds Philosophie, den Motor als Bestandteil des Chassis zu integrieren.
Die Tatsache, dass man dank Motorunterstützung auch bergauf in einen Flow-Zustand kommen kann, liegt irgendwie auf der Hand. Trotzdem kam in den Anfangsjahren des E-MTBs keiner so richtig auf die Idee, sein Bike auf Singletrails von unten nach oben zu bewegen. Bis Ende 2013, als Claus Fleischer, Chef von Bosch eBike Systems, zusammen mit Trialer Stefan Schlie das Potential der neuen Bikes auf La Palma auslotete. Um dem Kind einen Namen zu geben, war der Begriff des Uphill-Flow geboren. Wenig später, im Jahr 2014, sorgte der gleichnamige Actionfilm für Furore. Unbestritten sorgte der Streifen für eine Initialzündung für das sportliche E-Biken und beschleunigte die Entwicklung des E-MTBs enorm. Der Bosch Performance Line-Motor mit 63 Newtonmetern, der im gleichen Jahr herauskam, war der erste echte E-MTB-Motor.
Vier Jahre, nachdem Bosch mit dem Classic Plus in den E-Bike-Markt einstieg, bringen die Schwaben die Version Performance CX auf den Markt. 75 Newtonmeter Drehmoment, verstärktes Getriebe – schnell wird er zum meistverbauten Antrieb in der E-MTB-Kategorie. Die Entwicklung des CX fand maßgeblich unter der Leitung des eingefleischten Mountainbikers Claus Fleischer statt, unter dessen Einfluß bis heute alle weiteren Innovationen stattfanden: Der E-MTB-Modus (2018), der Performance CX Gen4 (2019) und der Extended Boost als neueste Errungenschaft.
Wenn schon, dann richtig. Nachdem man sich bei Specialized bis zum ersten E-MTB lange Zeit gelassen hatte, leiten die Amerikaner mit dem Turbo Levo gleich einen Paradigmenwechsel ein. Während das Gros der E-MTBs noch mit klobigen Aufsteck-Akkus und Motoren auskam, erschien das erste Turbo Levo mit schick integriertem Antrieb und herausragenden Fahreigenschaften. Auch der Motor von Brose wurde dank Specialized salonfähig – allerdings in einer speziellen Specialized-Version. Auch in Sachen Software war das Turbo Levo ein Wegbereiter: Mit der neu entwickelten Mission Control App war es erstmals möglich, in die Motorsteuerung einzugreifen und beispielsweise die Unterstützungsstufen zu individualisieren. Das fehlende Display war dabei keine Sparmaßnahme, sondern Teil des Konzepts: Ziel war es, dass sich der Motor anhand der vorgegebenen Eckdaten der jeweiligen Tour automatisch reguliert. Das Zentrum der gesamten E-Bike-Entwicklung von Specialized findet bezeichnenderweise von Anfang an nicht im kalifornischen Morgan Hill, sondern in der Schweiz statt – mit einer Entwickler-Crew rund um Innovator und Chefingenieur Jan Talavasek.
Etwa zeitgleich mit Specialized kam auch Rotwild mit einem vollintegrierten System, bestehend aus dem Brose-Motor und einer eigens entwickelten Batterieeinheit. Mit seinem Carbon-Rahmen und der kurzen, sportlichen Geometrie war das Bike der Dieburger die deutsche Antwort auf das Specialized Turbo Levo. Rotwild konzentrierte die geballte Entwicklungspower bald nur noch auf das E-MTB und stellte kurze Zeit später die Produktion von klassischen Bikes komplett ein.
Als Guido Tschugg als einer der bekanntesten deutschen Mountainbiker 2015 als erster großer Name aufs E-MTB wechselte, war der Aufschrei groß. „Verrat am Sport”, warfen ihm seine Kritiker vor. Doch Guido war das herzlich egal. „Das E-MTB hat mir völlig neue Möglichkeiten eröffnet und ich habe gleich gerochen, dass das die Zukunft ist”, sagt der Freeride-Künstler und Ex-Fourcross-Champ heute. Etwa zeitgleich engagierte Bosch mit dem zweifachen Trial-Vizeweltmeister Stefan Schlie einen weiteren professionellen Botschafter fürs E-Mountainbiken. Und so staunte die Szene schon nach kurzer Zeit über Moves, die man mit einem schweren E-MTB nie für möglich gehalten hatte. Im Dienste von Sponsor Haibike zeigte Guido, der schon immer nebenher ein top Motocrosser war, mit seinem XDURO NDURO verdrehte Sprünge (Whips) und extreme Kurvenmanöver. So ist den ersten E-MTB-Profis zu verdanken, dass der E-MTB-Sport schon bald sein Opa-Image verlor. Auch die Kritiker verstummten bald und ein Profi nach dem anderen wechselt heute aufs motorisierte Bike .
Am 1. März 2016 feiert der Delius Klasing Verlag mit EMTB Premiere. Das Magazin gibt dem bis dahin etwas schwerfälligen Image des E-MTBs ein sportliches Antlitz. Inspiriert vom Uphill-Flow und dem daraus entstandenen Innovationsfeuerwerk entstand das Motto der EMTB-Crew: „Steil ist geil“. Mit einer völlig neuen Bildsprache, seriösen Testberichten und einer begeisterten Crew wird EMTB aus dem Stand das marktführende Medium.
Die ersten Gerüchte tauchten schon 2015 auf, doch 2016 wurden die Japaner konkret und stellten den Steps-E8000-Motor vor. Kleiner und leichter als der Bosch Performance CX sollte er sein. Vor allem aber konnte Shimano auf das Vorlegegetriebe verzichten, einem neuralgischen Schwachpunkt bei den Bosch-Motoren früherer Generationen. Shimano landete mit dem E8000 einen Treffer und nahm Bosch innerhalb eines Jahres die Vorherrschaft bei den hochwertigen E-MTBs ab. Mit seiner kompakten Bauform und geringem Gewicht legte der Steps-Antrieb außerdem den Grundstein für eine neu, wendigere Generation der E-Mountainbikes. Heute zählt der Shimano EP8 zu den meistverkauften E-MTB-Motoren.
Die trauen sich was! So interpretierte das Gros der Branche die Premiere des Rocky Mountain Powerplay. Die Kanadier hatten mit ihrem ersten E-MTB nicht nur die Kategorie agiler Trailbikes neu definiert, sie haben auch gleich einen eigenen Motor eingebaut. Das bärenstarke Rocky-Aggregat konnte gegen die etablierte Konkurrenz bestehen und wird bis heute in den Powerplays verbaut. Das Powerplay-Antriebskonzept basiert auf einem komplett neuartigen System. Der Motor treibt nicht, wie bei anderen Mittelmotoren, die Tretlagerachse an, sondern sitzt dezentral etwas nach vorne versetzt. Die Kette wird mit einer speziellen Führung über das Antriebsritzel umgelenkt. Das Tretlager, die Kurbeln und der komplette Hinterbau sind identisch mit einem klassischen Bike. Der Clou am Powerplay ist der spezielle Drehmomentsensor, der mittels der Kettenspannung funktioniert. Tritt man stärker in die Pedale, dann spannt sich die Ketten umso stärker und dementsprechend wird mehr Motorleistung hinzugeregelt.
Während die meisten Hersteller ihre Motoren auf pralle Maximalkraft züchten, setzt eine kleine, bayerische Motorenschmiede eine Gegenbewegung in Gang. Mit dem Fazua-Motor etabliert sich der erste Minimal-Assist-Antrieb am Markt. Premiere feiert er im 15,3 Kilo leichten Focus Raven². Das Prinzip des Fazua: Akku und Motor sind eine Einheit und können bei Bedarf komplett aus dem Unterrohr genommen werden. Das System liefert immerhin 60 Newtonmeter und 400 Watt Spitzenleistung und soll, im Gegensatz zum damaligen Bosch Performance CX-Motor, komplett entkoppelt sein.
Der leichte Minimal-Assist-Antrieb von Fazua macht's möglich: Das Convertible-E-MTB, das sich wahlweise mit oder ohne Antrieb einsetzen lässt. Nach dem Race-Hardtail von Focus zeigt die französische Bike-Schmiede Lapierre auf der Eurobike 2018 mit dem E-Zesty das erste abfahrtsorientierte Fully mit Fazua-Antrieb. Mit wenigen Handgriffen lässt sich Motor samt Batterie entfernen. Die Lücke schließt eine Kunststoff-Hülse. Das Bike verwandelt sich so in ein leichtes Enduro-Bike. 150 Millimeter Federweg hinten und 160 Millimeter vorne, kurze Kettenstreben und aggressive Geometrie. Knapp über 15 Kilo bringt das Bike mit seinem Carbon-Chassis ohne Antrieb auf die Waage, also knapp drei Kilo weniger als in der Variante mit Motor. Wer im Bikepark mit Lift unterwegs ist, entfernt einfach die Antriebseinheit und profitiert vom agileren Fahrverhalten. Den aktuellsten Wurf mit Fazua-Antrieb bringt übrigens Trek mit dem E-Caliber.
Es war der Shooting-Star auf der Eurobike im Herbst 2018 und stellte die bisherigen Powerbikes in den Schatten: das Haibike Flyon. 120 Newtonmeter Drehmoment , wuchtiges Carbon-Chassis, Federweg satt. Herzstück des neuen Haibike-Flaggschiffs war die neueste Version des ultrastarken TQ-Antriebs. Doch das Haibike Flyon sollte nicht nur durch schiere Power glänzen. So versteckten sich im und am grellen Kohlefaserrahmen viele Innovationen. Die 5000 Lumen starke Beleuchtung, in den Sitzstreben eingelassene Rückleuchten, in den Belüftungswaben des Steuerrohrs verschwindende Züge, ein leistungsstarker Bordcomputer, ein Tuning-resistenter Speedsensor – Systemintegration wo immer es möglich ist, hatten sich die Schweinfurter Entwickler auf die Fahnen geschrieben. Doch der Zeitgeist ging seither eher in Richtung leicht, schlank und kleine Motoren. So hört man heute kaum mehr etwas vom Flyon. Der gesamtheitliche Ansatz des Flyon bleibt dennoch richtungsweisend.
Man kann es einfach nicht wegdiskutieren: Bike-Gewichte weit jenseits der 20-Kilo-Marke limitieren nicht nur den Fahrspaß. Wenn alleine schon das Verladen ins Auto zum Kraftakt gerät, träumt man oft vom leichten E-MTB. Ein solches Traumbike stellt Specialized Anfang 2020 vor: Das Specialized Levo SL kann gegenüber dem Klassiker Levo mit vier Kilo Gewichtsersparnis aufwarten. Mit 17 Kilo spielt es zwar immer noch in der Liga schwerer Enduro-Bikes ohne Motor, aber bei den E-MTBs setzt es neue Massstäbe. Allein schon die schlanke Optik findet schnell Zuspruch. Mit seinem schlanken Unterrohr und dem Mini-Motor ist das Gerät auf den ersten Blick kaum als E-Bike identifizierbar. Dafür macht man allerdings deutliche Abstriche bei der Leistung: Die von Specialized mitentwickelte Version des deutschen „Mahle”-Motors leistet mit 35 Newtonmetern weniger als die Hälfte des Brose-Antriebs beim klassischen Turbo Levo (90 Newtonmeter). Auch die Kapazität des fest im Unterrohr eingebauten Akkus ist begrenzt auf 320 Wattstunden. Doch das Levo SL mit seinem großen Bruder zu vergleichen, wäre wie Äpfel mit Birnen. Es richtet sich an ein Klientel, dem es nicht um reine Motorleistung, sondern mehr um das Fahrerlebnis eines klassischen, unmotorisierten Bikes geht.
Zehn Jahre nachdem Haibike das erste E-MTB zur Serienreife brachte, ist es Zeit für einen Rückblick. Und den feiern die Schweinfurter mit einer Jubiläumsedition. Die Krone der Schöpfung – zumindest was die Haibike-Historie angeht: das All Mtn SE. Auch beim neuesten Wurf bleiben die Schweinfurter ihrer Philosophie treu: Ein E-Mountainbike darf sich auch als E-Mountainbike zeigen. Angelehnt an das Powerbike Flyon werden die E-Bike-typischen Attribute demonstrativ zur Schau gestellt: bulliges Unterrohr, kraftvoller Yamaha-Motor, extravagante Formen, massive Reifen – damit zielt der neueste Haibike-Wurf voll auf Trail-Performance ab. Der aktuelle Stand der Technik wird unterstrichen durch die hochwertige Carbon-Konstruktion: Hauptrahmen, Umlenkwippe, Hinterbau – alle Einzelteile werden aus Kohlefaser gefertigt. Standesgemäß versorgt ein 600-Wh-Akku das Yamaha-Aggregat. Das EMTB-Fazit nach den ersten Tests mit den neuen All Mtn-Modellen: So sportlich war ein Haibike-E-MTB noch nie! Teil des Konzepts des All Mtn ist weiterhin das neu entwickelte Modular-Rail-System, das es ermöglicht, diverse Tools, Flaschenhalter, Werkzeugtasche oder ein Schloss am Rahmen zu befestigen.