Markus Greber
· 30.10.2019
Über kein E-MTB wurde so wild diskutiert wie über die Flyon-Serie von Haibike. Der TQ-Motor bringt mehr Power als die gängige Konkurrenz, die Integration ist besonders. Wie fährt das starke E-Bike von Haibike? Unser Test klärt auf.
„Wir waren schon immer selbstbewusst, das liegt in unserer DNA“, sagt der Chefingenieur der Marke Haibike, Ingo Beutner, mit Blick auf die neue Flyon-Flotte. Dieses Selbstbewusstsein braucht es auch, um ein so radikales E-Mountainbike wie das Haibike Flyon Xduro Nduro auf die Beine zu stellen. Bullige Optik, extrem starker Motor, hohes Gewicht, das neue Wunder-Bike geht seine eigenen Wege und sorgt seit seiner Präsentation im vergangenen Jahr für Diskussionsstoff. Praxiserfahrungen und Fahrberichte gab´s bisher kaum, die Schweinfurter E-Bike-Pioniere hüteten ihr Geheimnis gut. Für die erste EMTB-Ausgabe 2019 hatten wir die Möglichkeit, das Bike im harten Geländeeinsatz zu testen.
Ab ins Gelände: Auf den ersten Metern sticht der kraftvolle E-Motor heraus. Der TQ-Antrieb ist der kräftigste E-MTB-Antrieb den wir kennen, das macht steile Anstiege zum Kinderspiel. Fiese Rampen reißt das Bike förmlich nieder, die 25 km/h-Grenze ist rasend schnell erreicht. Bei der Fahrt auf dem Haibike Flyon mit voller Unterstützung kommt unweigerlich Moped-Feeling auf. Und auch was die anderen Fahreigenschaften anbelangt, überrascht das Flyon mit Werten, die wir von einem Haibike bisher nicht gewohnt waren.
Es ist, als hätte irgend jemand unsere Testrunde planiert, entschärft, freigeräumt. Die Sektion mit dem kindskopfgroßen, losen Geröll, die einem trotz Turbo-Modus den Puls auf Anschlag treibt, wirkt jetzt wie ein harmloser Schotterweg. Die steile Felspassage, auf der man bei konstantem Zug auf der Kette zentimetergenau zielen muss, um nicht gnadenlos abzurutschen, meistern wir heute mit Leichtigkeit. Und auch über die Stelle mit den Wurzeln, an denen man so gut wie immer hängen bleibt, wenn man versucht, hier ohne Tippeln durchzupedalieren, entlockt uns heute nur ein müdes Lächeln.
Sind wir zu Fuß unterwegs? Nein. Haben wir das Sportgerät gewechselt? Fast. Es ist der erste Praxistest des neuen Haibike Flyon.Massives Carbon-Chassis mit konsequenter Systemintegration, dazu der bekannt starke TQ-Antrieb – mit diesen Attributen war das Flyon der Shooting Star der letzten Eurobike-Messe. Die Vorschusslorbeeren waren zahlreich, die Auftragsbücher voll: Haibike hatte mit dem selbstbewussten Erscheinungsbild und den Features des Flyon offenbar den Zeitgeist getroffen. Und trotzdem gab es seither auch kritische Stimmen. Tenor: zu schwer, zu sehr Motorrad. Um zu zeigen, was das Flyon wirklich kann, stellten uns die Schweinfurter-E-MTB-Pioniere ein Vorserienmodell des Top-Modells Nduro 10.0 für einen exklusiven Fahrtest zur Verfügung.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Flyon wiegt etwa 27,5 Kilo, das ist nicht wegzudiskutieren. Allerdings haben die Haibike-Ingenieure beim Flyon an einigen Stellschrauben gedreht, um das Mehrgewicht auszugleichen. Keine Spur mehr von der aufrecht komfortablen Sitzposition der klassischen Haibike-Modelle. Auch keine Spur vom gewohnt weichen, fast leblosen Fahrwerks-Feeling. Auf dem Flyon geht es sportlich gestreckt und eher mit straffer und lebendiger Federung zur Sache. Damit das Fahrwerk in steilen Uphills nicht einsackt, haben sich die Haibike-Ingenieure eines probaten Mittels aus der Kinematik-Trickkiste bedient. Stichwort Anti-Squat. Vereinfacht gesagt zieht der Kettenzug die Federung auseinander und verhindert so allzu starkes Einfedern. So kommt es, dass das Flyon selbst steilste Rampen ohne steigendes Vorderrad bewältigt. Auch Kurbelaufsetzer kennt es trotz recht niedrigem Tretlager kaum. Wer es gewohnt ist, in spielerischer Uphill-Wheelie-Manier und mit viel Körpereinsatz bergauf zu fahren, muss sich auf dem Flyon umgewöhnen. Durch die ausgeprägte Anti-Squat-Kinematik und den recht langen Hinterbau fällt es schwer, überhaupt das Vorderrad zu lupfen. Der Motor ist dabei über jeden Zweifel erhaben. Schon in den mittleren von fünf Stufen schiebt er kräftig an, in der höchsten Stufe gibt es kein Halten mehr. Die Geräusche liegen gefühlt etwas über Bosch-Niveau, also recht laut. Die Kraftentfaltung ist in den mittleren Stufen gleichmäßig, das Bike lässt sich gut dosieren. Beim Losfahren setzt die Motorkraft früh ein und hilft so beim Anfahren in Steilpassagen.
Doch wehe, wenn man bergauf im rauen Geläuf stecken bleibt. Dann kommt, im Wortsinn, das Gewicht zum Tragen. Das Hochwuchten über verblockte Felspassagen ist Schwerstarbeit, da hilft auch die an sich potente Schiebehilfe kaum. Wer auf große Reichhöhen aus ist, muss der hohen Leistung des TQ-Antriebs Tribut zollen. Der Wechsel-Akku liefert 630 Wattstunden, nach einer unserer Test-Uphills von 460 Höhenmetern, vorwiegend im Low- und Mid-Modus, zeigte die Kapazitätsanzeige halb voll an. Wir vermuten die realistische Reichhöhe also etwa bei 1000 Höhenmetern. Theoretisch ließe sich zwar der Akku mit wenigen Handgriffen wechseln, doch dieser wiegt satte vier Kilo. Ein Ersatz-Akku im Rucksack dürfte also für die wenigsten in Frage kommen.
Leuchtende Augen gibt es dafür wieder bei der Abfahrt. Hier sind es nicht alleine die 180 Millimeter Federweg und die hohe ungefederte Masse, die für Sicherheit und Reserven sorgen. Das Fahrwerk arbeitet progressiv und gibt Rückmeldung. Das Flyon lässt sich schon an kleinen Hindernissen erstaunlich spielend abziehen und liefert Gegendruck in Anliegern. Je schneller die Fahrt, desto spielerischer lässt es sich auch in engen Trails dirigieren – hier kommt die enorme Rahmensteifigkeit zum Tragen.
Wer auf schiere Power steht, kommt am Flyon schwerlich vorbei. Kaum ein anderes Bike bietet ein vergleichbares Drehmoment. Wer auch optisch Stärke zeigen will, bekommt hier ein Bike mit konsequenter Integration, einzigartigen Features und tollen Fahreigenschaften. Wer den Fokus auf das volle Spektrum eines Mountainbikes legt, zu dem auch lange Tages-Touren (Reichhöhe) mit Tragepassagen zählen, der entscheidet sich eher für ein anderes Modell – der starke Motor, die konsequente Integration und das Augenmerk auf kompromisslose Stabilität fordern klar ihren Tribut. So ist das Flyon ein Spaßgerät für E-Biker mit einem Faible für Technologie und Konnektivität, und bestimmt das sportlichste Haibike, das es je gab – und vielleicht sogar der Vorreiter einer neuen E-MTB-Kategorie: die der Powerbikes.
Federgabel: Fox 36 Float Factory 180
Dämpfer: Fox Float X2 Factory
Bremsen: Magura MT7
Schaltung: Sram EX1
Laufräder: DT Swiss FR1950
Reifen: Schwalbe Magic Mary 27,5" x 2,6''
Motor: Flyon/TQ HPR 120S; 120 Nm
Akku: 630 Wh
Gewicht: 27,5 Kilo (Herstellerangabe)
Preis: 8999 Euro
Haibike war der erste Bike-Hersteller, der das Thema E-MTB ernst genommen hat. Chefingenieur Ingo Beutner ist seit der ersten Stunde dabei. Das neue Flyon ist seine persönliche Interpretation eines perfekten E-Bikes fürs Gelände.
EMTB: Das Flyon weicht ab von den typischen Merkmalen früherer Haibikes. Sportliche Sitzposition, lange Geometrie, responsives Fahrwerk. Wie kam es zum Sinneswandel?
INGO BEUTNER: Unsere etablierten Modelle der XDuro- und SDuro-Serie haben wir über die Jahre weiterentwickelt, sie basieren aber in puncto Geometrie und Fahrwerk auf den Erkenntnissen der Anfangszeit. Beim Flyon haben wir das E-MTB von null an neu gedacht. Wir standen vor einem weißen Blatt und haben ein Bike gebaut, das unseren Ansprüchen von heute gerecht wird.
Welche Ansprüche habt Ihr denn genau?
Zunächst einmal wollten wir uns nicht mehr am Namen des verbauten Motorenherstellers messen lassen. Wir wollten kein Bosch- oder Yamaha-Bike, sondern ein Haibike. Dafür haben wir mit TQ den idealen Partner gefunden. Dann wollten wir natürlich konsequent integrieren, und zwar nicht nur die Batterie, sondern auch Licht, Züge und Display. Und natürlich wollten wir auch Power demonstrieren. Nicht nur mit der Optik, sondern auch durch enorme Motorleistung. Aber Flyon ist nicht nur ein starker Motor, sondern ein ganzheitliches Konzept.
Ist es gut, diese eine Art Bike auf den Markt zu bringen, in einer Zeit, in der wir alle Angst haben müssen, dass unserem Sportgerät der Status des Fahrrades aberkannt wird – mit schlimmsten Konsequenzen?
Wir waren schon immer selbstbewusst, das liegt in unserer DNA. Die gesetzliche Situation ist uns bewusst. Wir tun das Möglichste, um illegales Tuning konsequent zu verhindern. Zum Beispiel mit unserer codierten Speed-Sensor-Disc. Klar sind wir kräftiger als andere, aber bis 25 km/h kann uns da keiner was. Das ist ja das Schöne.
Das deutlich höhere Gewicht ist der Preis für Power und Integration?
Das hohe Gewicht ist nicht nur dem stärkeren Antrieb und der konsequenten Integration geschuldet. Wir arbeiten an einer neuen Norm, bei der unsere Bikes bis 150 Kilo Gesamtgewicht getestet werden. Der Flyon-Rahmen ist so stabil gebaut, dass er einmal diese Norm erfüllen könnte. Auch für den Einsatz mit Anhänger ist das Bike freigegeben, wir haben extra eine Kupplung integriert. Das Flyon ist eine neue Klasse und lässt sich nicht mit anderen vergleichen.