Jan Timmermann
· 23.11.2022
Mit dem Bike bis ins Weltall, einmal um die halbe Welt oder über schier unfahrbare Berge. Setzt man die Leistungen von Extrem-Bikern ins Verhältnis, ergeben sich für Normalos kaum vorstellbare Werte. Es scheint, als gäbe es für echte Vielfahrer keine Limits. Wir klären, welche Motivation und welche Faszination Biker zu Fahrleistungen jenseits der Vorstellungskraft antreiben.
Eigentlich sollen Portale, wie Strava, Biker ja dazu motivieren mehr zu fahren. Angefixt von der Idee, sich selbst und Anderen aufzuzeigen, wie viele Kilometer man jährlich zurücklegt, wird jede Fahrt zum Bäcker aufgezeichnet. Schon wieder 1000 Höhenmeter hochgetreten und zwei Stunden im Sattel verbracht? Ab damit aufs Vielfahrer-Konto! Am Ball bleiben, weitermachen, Kilometer sammeln, Strecke machen - die Dokumentation der eigenen Fahrleistung spielt dem Urinstinkt von Jägern und Sammlern in die Karten. Aber wehe, wenn ein anderer mehr gesammelt hat! Im Vergleich zu den Heavy-Usern des Mountainbike-Sports tritt der Durchschnitts-Biker ja quasi auf der Stelle. Zwischen Sonntagsfahrern und echten Vielfahrern klafft eine gewaltige Leistungskluft. Im Seite-zu-Seite-Vergleich erscheinen selbst die Fahrstrecken gestandener BIKE-Redakteure noch klein.
Was macht einen Biker also zum Vielfahrer? Wer täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit, in die Schule oder zur Uni pendelt, der erfüllt bereits ein wichtiges Vielfahrer-Merkmal: Konstanz. Dabei lassen sich Biker mit hohen Fahrleistungen auch nicht von harscher Witterung oder unbequemen Jahreszeiten aufhalten. Die Vielfahrer unter den Vielfahrern sitzen 365 Tage im Jahr auf dem MTB - bei Dunkelheit, Nässe, Kälte, Schnee und Hitze, an Feiertagen, Geburtstagen, Arbeitstagen, Sommertagen und Wintertagen. Natürlich macht dabei auch Kleinvieh Mist, wenn aber die tägliche Radfahrt mindestens 90 Minuten umfasst, kommt über die Zeit eine enorme Fahrleistung zusammen.
In BIKE 01/23 stellen wir drei MTB-Vielfahrer und ihr Material vor. Unter ihnen Melanie Mandel. Die 33-Jährige kämpfte sich nach einem Sturz zurück aufs Bike, denn trotz intensiver Angstphasen in der Abfahrt will sie sich nicht von ihrem liebsten Hobby abhalten lassen. Dass im Jahr 500 Fahrstunden, also konstant zehn Stunden pro Woche zusammenkommen, liegt ihrer Meinung nach auch daran, dass sie in der Abfahrt ständig auf der Bremse steht. Trotz langsamer Abfahrten sammelt Melanie rund 8000 Kilometer und 120.000 Höhenmeter pro Jahr. Das entspricht der Luftlinie zwischen Deutschland und Südkorea sowie der 13,5-fachen Fahrt von Meereshöhe auf den Mount Everest.
Edgar Brigel legt einen ganz anderen Ansatz an den Tag. Sein bevorzugtes Höhenprofil ist dreieckig und spitz. Ein ambitionierter Rennradfahrer legt Edgars 1600 Jahreskilometer in nur einer Woche zurück. Dass auf dieser Strecke trotzdem 70.000 Höhenmeter zusammenkommen, liegt daran, dass Edgar gerne steil geht. Als Bike-Bergsteiger legt er rund die Hälfte der Höhenmeter zu Fuß zurück - mit dem Bike auf den Schultern. Viel fahren heißt im Falle des 57-Jährigen also viele Höhen- und Tiefenmeter auf kurzer Distanz zu fahren. Im Schnitt haben seine jährlichen Kilometer 24 Prozent Steigung.
Clemens Riese ist der Konstante unter den Mountainbike-Vielfahrern. Der 36-Jährige fährt jeden Tag Rad - ununterbrochen seit mittlerweile drei Jahren. Unfassbare 1200 Tage ist er inzwischen ohne Pausentag durchgefahren. Dabei legt Clemens täglich mindestens 1000 Höhenmeter zurück. In Summe kommen so jährlich 18.000 Kilometer und 430.000 Höhenmeter zusammen. Zahlen, bei dem jedem Biker der Kopf schwirrt und für die ein durchschnittlicher Deutscher rund 60 Jahre lang Rad fährt. Clemens Jahreskilometer entsprechen der Luftlinie zwischen Deutschland und Neuseeland. Würde er alle jährlichen Höhenmeter am Stück fahren, würde Clemens von der Erdoberfläche bis zur Grenze zwischen Atmosphäre und Weltall klettern. Jedes Jahr verbringt Vielfahrer Clemens unfassbare 800 Stunden auf dem Bike. Das sind über zwei Stunden täglich!
Offensichtlich ist der körperliche Aspekt des Vielfahrer-Daseins. Wer solche Distanzen und Höhen zurücklegt, ist zwangsläufig fit. Die drei Vielfahrer aus unserem Beispiel eint die Lust an konditioneller Anstrengung. Melanie Mandel hat einen großen sportlichen Ehrgeiz und jagt regelmäßig auf Strava-Segmenten nach Bestzeiten. Vor ihrem Sturz machte sie erfolgreich bei Marathon-Rennen Tempo. Nun treibt es sie an, die schnellste Frau im Umkreis zu sein. Edgar Brigel liebt am Bike-Bergsteigen vor allem die Kombination aus körperlicher Herausforderung und fahrtechnischem Anspruch. Um mit seinem Bike am Gipfelkreuz der schönsten Alpenberge zu stehen, muss Edgar topfit sein. Nach einem Einbruch auf der Stoneman Miriquidi Runde entschloss sich Clemens Riese jeden Tag 1000 Höhenmeter zu biken, um solche Tiefpunkte zukünftig zu vermeiden. Als IT-Spezialist sitzt er beruflich viel am Computer. Für ihn sind die täglichen Ausfahrten der perfekte körperliche Ausgleich zur langen Bildschirmzeit.
Viel zu fahren heißt auch viel Zeit auf dem Bike zu verbringen. Nicht Jeder ist zeitlich so flexibel aufgestellt, und auch das soziale Umfeld muss ein so leidenschaftlich ausgelebtes Hobby mittragen. Mit einem Vollzeit-Job als Project Consultant bleibt Melanie vor allem samstags und sonntags Zeit für lange Touren. Da passt es gut, dass Partner Marc selbst Vielfahrer ist. “Würde ich nicht so viel Rad fahren, säße ich ja ständig alleine zu Hause!” schmunzelt Melanie bei diesem Thema. Edgar steht meist alleine mit seinem Bike am Gipfelkreuz. Die Bike-Bergsteiger Szene ist klein. Als freiberuflicher Cutter fürs Fernsehen arbeitet Edgar im Schichtdienst. Mit genügend Motivation sind da während der schneefreien Saison auch zweimal wöchentlich sechs bis sieben Stunden Bike-Bergsteigen drin. Seit Corona kann sich Clemens seine Termine im Homeoffice recht frei einteilen. Eine zweistündige Mittagsrunde ist ihm heilig. Der Extrem-Biker legt viel Hingabe in sein intensives Hobby und Alltagsentscheidungen fallen meist zugunsten der Bike-Zeit aus.
Kaum jemand kennt sich mit Verschleißerscheinungen am MTB besser aus als Vielfahrer. Bei ihren Fahrleistungen muss das Material tausende Kilometer halten. Natürlich gibt es auch unter Profi-Bikern Vielfahrer. Sie sitzen aus sportlichen und beruflichen Gründen extrem viel auf dem Rad. Wer Bike und Zubehör gestellt bekommt, muss sich in der Regel aber weniger Sorgen um Verschleiß machen. Sind Antrieb oder Bremsbeläge durch, werden eben neue Teile verbaut. Fahren Biker aber rein privat sehr viel, geht das ständige Radfahren bei allen Wetterbedingungen schnell ins Geld. Neben der Funktion ist deshalb die Dauerhaltbarkeit von Parts das entscheidende Auswahlkriterium bei MTB-Vielfahrern.
Melanie setzt an ihrem BMC Twostroke Hardtail auf eine Kombination aus günstig und hochwertig. Mit billigen Bremsbelägen für zehn Euro wurden die Scheiben zu heiß. Deshalb fährt sie in ihrer Sram Level Bremse ausschließlich Originalbeläge. Ein preisgünstiges Kettenblatt aus Stahl verschleißt an ihrem Vielfahrerbike deutlich langsamer als das leichtere Pendant aus Alu. Dagegen hält das härtere Material der Sram X01 Eagle Kassette länger als die Verschleißteile günstigerer Gruppen. Da Melanie das ganze Jahr durch fährt, bekommt ihr Bike vor allem im Winter viel Dreck ab. Nichts ist auf langen Touren nerviger, als ein rasselnder Antrieb. Von der Sorglos-Funktion des kabellosen Sram GX Eagle AXS Antriebs ist sie begeistert, denn die Schaltung wechselt im Gegensatz zu mechanischen Teilen auch im Schlamm zuverlässig und präzise die Gänge. Für eine höhere Pannensicherheit setzt Melanie auf Tubeless-Reifen. Um ihre Fahrleistung noch genauer zu dokumentieren, fährt sie eine Wattmesskurbel vom deutschen Hersteller Power2Max. Diese liefert auch bei Nässe und Kälte konstant alle nötigen Informationen. “Mein Bike muss leicht sein. Hätte ich ein schweres All Mountain Fully, würde ich sicher nicht so viel fahren” sagt Vielfahrerin Melanie. Ihr BMC Twostroke Hardtail wiegt fahrfertig 11,2 Kilogramm.
Beim Bike-Bergsteigen ist auch die Materialauswahl eine Gratwanderung, denn zuverlässige Teile sind überlebenswichtig. Gleichzeitig darf das Bike nicht zu viel wiegen, um noch gut geschultert zu werden. Das Liteville 901 MK1 von Edgar wiegt 13,5 Kilogramm. Mehr als ein Kilo dürfen da auch die Reifen nicht auf die Waage bringen. “Für richtig geile Trails braucht es eigentlich keine Kette. Dafür kann ich zusehen, wie sich die Reifen auflösen” sagt Bike-Bergsteiger Edgar. Weniger als einen Bar Druck gibt er in seine Maxxis Reifen. Bei dieser Fahrweise muss Edgar alle 400 Kilometer neue Reifen aufziehen. Gerade im technischen alpinen Gelände entscheidet Reifengrip über Leben und Tod. Gleiches gilt für Bremskraft. Edgar vertraut auf Magura MT7 Vierkolbenmodelle mit Originalbelägen und Trickstuff Dächle Bremsscheiben. Auch die Beläge muss er alle 400 Kilometer erneuern, um eine allzeit starke Bremskraft zu haben.
Clemens hält sich bei seinen täglichen Ausfahrten vor allem mit Abwechslung bei Laune. “Da ich wirklich jeden Tag auf dem Rad sitze, darf der Spaß nicht auf der Strecke bleiben. Am einfachsten erreiche ich den, wenn ich zum Beispiel von der Hardtail-Feile aufs Longtravel-Sofa umsteige” sagt Clemens. Deshalb ist der Vielfahrer nicht nur auf mehreren Mountainbikes, sondern auch auf dem Rennrad und dem Gravelbike unterwegs. Seine Fahrleistung verteilt sich in etwa zu gleichen Teilen auf Gelände und Straße. An seinen insgesamt sechs Bikes macht er alles selbst. Mit seinem Evil The Wreckoning LB Enduro legt Clemes jährlich rund 3000 Kilometer und 80.000 Höhenmeter zurück. Auch er setzt auf ein langlebiges Kettenblatt aus Stahl.
Außerdem kombiniert er eine Sram GX 11-fach-Schaltung mit einer Shimano XT Kassette. Im Gegensatz zur Sram GX-Kassette lassen sich bei Shimano die verschleißanfälligen kleinen Ritzeln einzeln tauschen. Müsste er jedes Mal die gesamte Kassette entsorgen, würden das für Vielfahrer Clemens über 1000 Euro Verschleißkosten nur für Kassetten bedeuten. Die Laufräder seines Custom-Enduros hat Clemens aus zuverlässigen DT Swiss Komponenten selbst aufgebaut. Ein Tribut an die große Laufleistung sind Nippel aus Messing. Nach Clemens Erfahrungswerten neigen Alunippel im Salz- und Spritzwasser des Winters zum Verwittern. Trotz Enduro-Einsatz kommt am Hinterrad eine haltbare harte Gummimischung von Maxxis zum Einsatz. Von Leichtbau hält er nichts. Die Teile an seinem 15,8 Kilo schweren Evil The Wreckoning LB müssen vor allem stabil sein und lange halten.