Florentin Vesenbeckh
· 16.12.2022
In diesem Artikel verwenden wir sogenannte Affiliate Links. Bei jedem Einkauf über diese Links erhalten wir eine Provision vom Händler. Alle vermittlungsrelevanten Links sind mit * gekennzeichnet. Mehr erfahren.
Keine Kategorie verzeichnet derartige Zuwachsraten wie die Gattung leichter E-Mountainbikes. Focus zeigt mit dem Jam² SL ein E-Bike mit dem neuen Fazua Ride 60, das zwischen den Kategorien Trail, All Mountain und Enduro wandelt. Besonderheit ist eine anpassbare Geometrie. Wir haben das Focus E-Bike getestet.
Wer baute 2017 das erste E-MTB mit Light-Motor der Geschichte? Richtig, es war Focus! Das Hardtail Raven² war das erste E-Mountainbike mit dem damals brandneuen Fazua Evation-Motor. Und blickt man noch etwas weiter zurück, war der Light-Ansatz bei Focus schon früher präsent. Das Jam² setzte schon 2016 auf ein flexibles Akku-System mit fest verbautem 378-Wh-Akku plus optionalem Range Extender. Doch später war es bei den Stuttgartern ruhig geworden um die Light-E-Bike-Kategorie. Jetzt, wo die Gattung mit dem neuen Ride 60-Antrieb, ebenfalls von Fazua, richtig Aufwind bekommt, ist auch Focus wieder mit von der Partie. Das Jam² SL ist ein rassiges Trailbike mit Vollcarbonrahmen, 160/150 Millimetern Federweg, 29er-Laufrädern und einer umfangreichen Geometrieanpassung.
Wie schon bei seinem ersten E-MTB mit Light-Motor setzt Focus auch jetzt auf den bayerischen Motorenhersteller Fazua. Der brandneue Ride 60 ist für den Einsatz am E-MTB ein enormer Fortschritt gegenüber seinem Vorgänger. In unserem großen Vergleichstest leichter E-Bike-Antriebe konnte er voll überzeugen. Insbesondere das starke Verhältnis aus Leistung und Gewicht lässt den kompakten Motor herausstechen. Im Vergleich der Light-Liga schiebt der Antrieb richtig kräftig. Das könnte manchen Verfechter klassischer E-MTBs ins Grübeln bringen. Auch der verhältnismäßig große Akku mit 430 Wattstunden macht den Ride 60 - und damit auch das Focus Jam² SL - zum starken Allrounder. Vom spitzen Produkt in der Nische werden Light-E-MTBs zu Allroundern mit breiterem Einsatzbereich.
Besondere Bedeutung kommt beim Light-E-MTB der Integration des Akkus zu. Denn hier lässt sich einiges an Gewicht sparen. Auf der Suche nach dem leichtest möglichen E-Bike verbauen viele Hersteller, wie die Vorreiter Specialized beim Levo SL und Orbea beim Rise, die Batterie fest im Rahmen. Das spart Pfunde, schreckt aber auch viele Kunden ab. Denn so lässt sich die Batterie weder zum Laden oder Lagern entnehmen, noch kann man die Reichweite durch einen Wechsel-Akku verdoppeln. Für Focus war das keine Option. Benutzerfreundliches Handling stand bei der Entwicklung ganz oben. So kann das Focus Jam mit einer simplen und schnellen Akku-Entnahme punkten, die man so bei kaum einem Light-E-MTB findet.
Bei Light-E-MTBs, der Name sagt es schon, ist das Gewicht eine Schlüsselgröße. Bei exakt 18,98 Kilo checkt unser Testbike in Größe L ein. Ein Rekordwert ist das bei Weitem nicht. Doch das Gewicht muss man natürlich in die passende Relation setzen. Bikes wie das Levo SL waren schon vor Jahren deutlich leichter. Allerdings spielt das Specialized auch in einer anderen Klasse, was Motor- und Akku-Power angeht. Das Fazua-Paket ist diesbezüglich deutlich potenter, was sich unweigerlich beim Gewicht bemerkbar macht. Das zeigt auch unser aktueller Vergleichstest der Light-Antriebe. Und auch die Ausstattung am abfahrtsorientierten Focus Jam 9.9 lässt deutlich Luft nach oben. Carbon-Parts sucht man vergeblich. Das gewichtsoptimierte Topmodell soll nochmal über ein Kilo leichter sein. Außerdem geht die komfortable Akku-Entnahme auf die Pfunde. Bezieht man diese Punkte bei der Bewertung des Gewichts mit ein, hängt Focus durchaus ein attraktives Paket an die Waage. Dazu haben die Stuttgarter dem Rahmen einige Sparmaßnahmen aufgedrückt. Einen externen Ladeport am Bike gibt´s nicht. Das soll rund 200 Gramm bringen. Der Akku muss zum Laden also zwingend aus dem Rad entnommen werden. Außerdem haben die Focus-Ingenieure ihre FOLD-Dämpferanlenkung auf Diät gesetzt. Die Vielzahl an schweren Umlenkhebeln ist einem deutlich simpleren Design gewichen.
Weiteres zum Thema Gewicht: Focus hat für die Modellpalette zwei unterschiedlich hochwertige Carbonrahmen im Angebot. Die beiden teureren Modelle 9.9 und 9.0 setzen auf hochwertigere Carbonfasern, die Gewicht einsparen, ohne die Steifigkeit des Bikes einzuschränken. An den Modellen 8.8 und 8.7 kommt ein Rahmen mit etwas günstigerem Carbon-Layup zum Einsatz. Dieser soll in Größe M etwa 300 Gramm schwerer sein. Fun-Fact: Unser letztes Jam²-Testbike mit Shimano-Antrieb und 720-Wh-Akku bringt fast sieben Kilo mehr auf die Wage als das SL-Modell. Und das bei ähnlichem Preis!
Um die Geometrie an unterschiedliche Einsatzbereiche, Geschmäcker und Körperproportionen individuell anzupassen, spendiert Focus dem Jam² SL zwei Verstelloptionen. Dadurch soll sich der Charakter vom abfahrtsorientierten Bike mit viel Laufruhe bis hin zum wendigen Allrounder trimmen lassen. Erste variable Größe ist die Kettenstrebenlänge. Dafür setzen die Stuttgarter Ingenieure auf zwei Flipchips. Einer davon sitzt in der Kettenstrebe vor dem Ausfallende, der andere in der Sitzstrebe. Warum es dafür zwei Flipchips braucht? Weil so die Kettenstrebenlänge isoliert verändert werden kann. Bei herkömmlichen Flipchip-Verstellungen ändern sich auch andere Parameter wie der Sitzwinkel und die Tretlagerhöhe mit. Insofern ist der Ansatz, den Focus gewählt hat, super. In der Umsetzung hätten wir uns allerdings eine klarere Kennzeichnung der Flipchips bzw. der Stellungen “lang” und “kurz” gewünscht. So kann die doppelte Verstellung für Verwirrung sorgen. Die zwei Optionen beim Jam² SL: kurze 440 Millimeter oder moderate 447 Millimeter. Ausgeliefert werden die Größen S und M in der kurzen, L und XL in der langen Einstellung.
Auch die Winkel des Focus Jam sind variabel. Dafür sorgt eine drehbare Lagerschale am Steuersatz, die den Lenkwinkel um ein Grad abflacht bzw. aufsteilt. 65,5 oder 64,5 Grad gibt Focus für die beiden Positionen an. In Summe variiert der Radstand zwischen den beiden Extrempositionen kurz/steil und lang/flach um 27 Millimeter. Das ist eine ganze Menge und im Praxiseinsatz ein deutlich spürbarer Unterschied.
Der Radstand des E-Bikes nimmt in der kürzesten Einstellung in Größe L kompakte 1247 Millimeter ein. Das ist moderat und klassisch für ein wendiges E-Trailbike. Flacht man den Lenkwinkel ab und verlängert den Hinterbau, landet der Radstand bei 1274 Millimetern. Ein Wert, der selbst an einem Full-Power-Enduro-E-Bike kaum unterdimensioniert wäre. Der Reach fällt mit 485 Millimetern in Größe L erwachsen und modern aus.
Unser Testbike, das Jam² SL 9.9, nimmt in der Modellpalette eine Sonderrolle ein. Die Produktmanager haben dem Bike eine Extraportion Nehmerqualitäten eingehaucht und die Ausstattung auf Abfahrt ausgelegt. Als einziges Bike der Linie setzt das 9.9er auf einen Dämpfer mit Ausgleichsbehälter. Auch der überbreite 820er-Lenker mit 35 Millimetern Rise dreht den Regler in Richtung Enduro. Unser Testbike brachte in Größe L knapp 19 Kilo auf die Wage. Das gewichtsoptimierte Topmodell soll laut Focus über ein Kilo leichter sein.
Vier Ausstattungsvarianten des Jam² SL wird es geben. Der Einstiegspreis von 6199 Euro ist dabei für ein E-MTB mit Vollcarbonrahmen absolut fair. Das Topmodell ist mit 11.499 Euro hingegen das - soweit wir uns entsinnen können - teuerste Focus aller Zeiten. Ab sofort sollen einige Bikes bei Focus-Händlern verfügbar sein. Wenn auch erstmal in überschaubarer Stückzahl. Doch die nächste Produktionscharge soll nicht lange auf sich warten lassen. Zuerst im Handel sind die Ausstattungsvarianten 9.9 und 8.8 >> hier erhältlich*.
Wer auf dem Jam² SL E-Bike Platz nimmt, hat das Gefühl auf einem großen E-Mountainbike zu sitzen. Neben dem langen Reach verstärkt der sehr breite und hohe Lenker dieses Gefühl. Unangenehm gestreckt ist die Sitzposition aber nicht, denn der steile Sitzwinkel positioniert den Fahrer zentral ins Bike. Uphills kann man so gemütlich angehen. In der langen Kettenstrebenposition klettert das Bike auch steile Rampen recht unkompliziert. Und dank dem kräftigen Fazua-Antrieb verirrt man sich durchaus gerne mal auf anspruchsvolle Uphills. E-Bike-Feeling und Uphill-Flow haben Bike und Antrieb definitiv an Bord. Bei rutschigen Bedingungen schränkt allerdings der mäßige Grip des Hinterreifens die Kletterfähigkeiten ein.
Bevor es auf den Trail geht, muss man sich für eine der diversen Geometrie-Optionen entscheiden. Oder man startet einfach so, wie man das Focus Jam in die Hände bekommt. In unserem Fall war das die Kombi aus langem Heck und steilem Lenkwinkel. Schon nach kurzer Testphase haben wir auf die kurzen Kettenstreben gewechselt und uns in dieser Kombi deutlich wohler gefühlt. Steiler Lenkwinkel, kurze Kettenstreben: So wird das Bike mit seinem eher kompakten Radstand zum agilen und spaßigen Trail-Flitzer. Einzig der superbreite und hohe Lenker wollte zu diesem Charakter nicht so recht passen. Stimmig gliedert sich hingegen der eher straffe Hinterbau ein, der das spritzige Handling und die Sprungfreude unterstreicht.
Wird das Gelände rauer, die Abfahrten steiler und die Geschwindigkeit höher, wünscht man sich etwas mehr Radstand und damit verbundene Fahrstabilität. Also ab in den Bikepark. Hier hat uns die lange Geometrie (lange Kettenstreben, flacher Lenkwinkel) am meisten überzeugt. Die Nehmerqualitäten steigen spürbar, trotzdem fühlt sich das E-MTB nicht sperrig oder unhandlich an. Enduro-Feeling will an Bord des Focus Jam² SL 9.9 aber trotz aufgebohrter Ausstattung nicht aufkommen. Der Hinterbau generiert nur mäßig Traktion und beruhigt ruppige Passagen nicht in Enduro-Manier. Das wird zwar besser, wenn man den Dämpfer weicher abstimmt. Doch dann ist das Ende des Hubs zu schnell erreicht und das Heck schlägt durch. Schade: Unser Testbike klapperte auf holperigen Abfahrten.
Das Focus Jam² SL spricht eine sehr breite Zielgruppe an. Zum einen passt es mit seiner variablen Geometrie auf viele Fahrertypen. Gleiches gilt für den Fazua-Antrieb mit guter Power und ordentlicher Reichweite bei geringem Gewicht und niedriger Lautstärke. Die komfortable Akku-Entnahme ist an einem Light-E-MTB alles andere als selbstverständlich - auch das macht das Bike sehr vielseitig. Und nicht zuletzt ist der Einstiegspreis für diese Kategorie fair. Uns hat das Bike als spritziges und verspieltes Trail-Bike am besten gefallen. Der Spagat in Richtung Enduro gelingt trotz Geometrieverstellung und viel Federweg nicht so ganz. Hier fehlt es dem Hinterbau an Schluckvermögen.
Was braucht es noch, um ein E-Bike einer breiten Masse zugänglich zu machen? Richtig, einen fairen Preis. Mit 6199 Euro kann das Einstiegsmodell 8.7* zwar nicht als echtes Schnäppchen bezeichnet werden. Doch im Vergleich zu anderen aktuellen Light-Bikes ist das ein guter Deal. Zumal auch dieses Modell mit Vollcarbonrahmen auf den Trail rollt. Laut Focus soll das Bike in dieser Konfiguration 20,2 Kilo wiegen.
Diese Ausstattungsvariante für 8499 Euro* wurde etwas stärker auf Abfahrt getrimmt. Mit dem sehr breiten und hohen 820er-Lenker fühlt sich das Bike groß an, die Front ist hoch. Dank steilem Sitzwinkel nimmt man zentral im Bike Platz. Uphills kann man so gemütlich angehen, die Sitzposition fällt ausgewogen aus. In der langen Kettenstrebenposition klettert das Bike auch steile Rampen recht unkompliziert. Und dank des kräftigen Fazua-Antriebs verirrt man sich durchaus gerne auf anspruchsvolle Uphills. E-Bike-Feeling und Uphill-Flow haben Bike und Antrieb definitiv an Bord. In der Abfahrt wird das Jam2 SL zum spaßigen und agilen Trail-Flitzer.
Die Geo-Einstellung mit steilem Lenkwinkel und kurzen Kettenstreben resultiert in einem eher kompakten Radstand, das bringt Wendigkeit. Einzig der superbreite und hohe Lenker wollte zu diesem Charakter nicht so recht passen. Wer den Hinterbau etwas straffer als gewohnt abstimmt, bekommt passend dazu einen poppigen Hinterbau, der das spritzige Handling und die Sprungfreude des Bikes unterstreicht. Etwas softer abgestimmt generiert der Hinterbau mehr Traktion, kann bei stärkeren Kompressionen und in Anliegern aber nicht den nötigen Gegendruck aufbauen.
Wird das Gelände rauer, die Abfahrten steiler und die Geschwindigkeit höher, wünscht man sich etwas mehr Fahrstabilität. Also: Geometrie auf lange Kettenstreben und flachen Lenkwinkel anpassen – so wächst der Radstand deutlich. Die Nehmerqualitäten steigen spürbar, trotzdem fühlt sich das E-MTB nicht sperrig oder unhandlich an. Enduro-Feeling will an Bord des Focus Jam² SL 9.9 aber trotz aufgebohrter Ausstattung nicht aufkommen. Der Hinterbau generiert nur mäßig Traktion und schluckt ruppige Passagen nicht ultimativ satt, der dünne Hinterreifen verstärkt dieses Gefühl.
Überrascht waren wir, dass der Ride 60 an unserem Test-Bike in der Abfahrt leicht klapperte. Nicht so drastisch wie ein Shimano- oder Bosch-Motor, aber klar wahrnehmbar. Laut Fazua lag das am frühen Produktionsdatum dieses Motors und einer falschen Einstellung im Lagerspiel. Der Austauschmotor war wieder angenehm leise, wie wir es vom Ride 60 bis dato gewohnt waren.
PLUS:
MINUS:
¹ Die Reichhöhe wurde bei standardisierten Messfahrten an einem Asphaltanstieg mit 12,2 Prozent Steigung ermittelt. Höchste Unterstützungsstufe, 150 Watt Tretleistung des Fahrers, Fahrergewicht inkl. Ausrüstung 89 kg. In Klammern die Höhenmeter im deutlich gedrosselten Notlauf-Modus. Die Durchschnittsgeschwindigkeit bezieht sich auf die Fahrt bei voller Unterstützung.
² Ermittelt auf den Prüfständen im EMTB-Testlabor, Gewicht ohne Pedale. Akku-Gewicht ggf. inkl. verschraubtem Cover.
³ Herstellerangabe
⁴ Stufentest, gemessen mit 36 Zentimeter erhöhtem Hinterrad.