Henri Lesewitz
· 01.08.2022
Sieben Tage lang zähe Anstiege und knackige Abfahrten mit dem Mountainbike über die Alpen: Die Maxxis BIKE Transalp 2022 von Lienz nach Riva war wieder eine höllische Tortur. Aber das muss auch so sein, damit im Ziel alle vor Freude ausflippen.
Die BIKE Transalp gilt als härtestes Mountainbike-Rennen der Alpen. Was mit der Streckenführung zu tun hat. Aber nicht nur. 566 Kilometer und 18378 Höhenmeter, portioniert auf sieben Etappen, ist eigentlich die perfekte Wochendosis für Ausdauerbegeisterte.
Was das Ganze zu einem Trip zwischen Himmel und Hölle macht, ist die Startnummer. Denn die wirkt sich bei einer MTB-Alpenüberquerung noch viel verschärfender aus als bei einem klassischen Bike-Marathon. Auf die Beine, klar. Aber auch auf die Psyche. Auf das Material. Und natürlich nicht zuletzt auf die Chemie zwischen den Team-Partnern, unter Extrembelastung zu einem explosiven Gemisch werden kann.
Läuft alles gut, wird die Woche zum Intensivsten und Großartigsten, was man als Mountainbiker erleben kann. Läuft es schlecht, wird alles zum Gegner. Die Anstiege. Der Untergrund. Und manchmal auch der Team-Partner. Doch ob so oder so: Spätestens im Ziel in Riva am Gardasee entlädt sich die Anspannung der Woche in einem irren Rausch aus Triumpf und Euphorie.
Das ist der Grund, warum sich seit mehr als zwei Jahrzehnten jeden Juli Hunderte mit einer Startnummer am Mountainbike über die Alpen schinden. Profis wie Hobby-Fahrer. Die große Frage der diesjährigen Austragung war: Wie gut hat der BIKE Transalp-Mythos die Pandemie überstanden? Nach der Absage 2020 und der unter strengen Coronaschutz- Auflagen durchgeführten 2021er BIKE-Transalp-Durchführung konnte das Kult-Rennen 2022 nämlich erstmals wieder unter weitgehend normalen Bedingungen ausgefahren werden.
Die Strecke führte diesmal von Lienz in Osttirol nach Riva an den Gardasee. Schon von der Startlinie aus waren die mächtigen Zacken der Lienzer Dolomiten zu sehen. Die hellgrauen, schroff in den Himmel ragenden Felswände ließen keinen Zweifel daran, dass die Konfrontation von Mensch und Naturgewalt auch bei dieser 24. BIKE Transalp nicht lange auf sich warten lassen wird.
Nachdem das Fahrerfeld im vergangen Jahr aufgrund der strikten Corona-Beschränkungen nur wenig international war, standen nun wieder zahlreiche Starter aus Ländern wie Südafrika, Brasilien, Costa Rica, Kolumbien, Israel und den USA am Start. Prominentester Deutscher war Karl Platt, letztjähriger UCI-Marathon-Weltmeister der Masters-Klasse, der dem Etappenrennen fast zwei Jahrzehnte lang seinen Stempel aufgedrückt hatte und es zwischen 2002 und 2008 insgesamt sechs Mal gewann.
„Berge! Berge! Berge!“ antwortete BIKE Transalp-Rekordsieger Karl Platt grinsend auf die Reporter-Frage, mit welchen drei Worten er die BIKE Transalp beschreiben würde. Ähnliches hätte wahrscheinlich auch Streckenchef Marc Schneider gesagt. Die Route, die er kreiert hatte, war so anspruchsvoll wie liebreizend.
Wie ein großer, zackiger AC/DC-Blitz führte sie von Lienz über Sillian, Bruneck, St. Vigil, Kaltern und San Martino di Castrozza nach Lavrone und von dort nach Riva an den Gardasee. Die Route der MTB-Alpenüberquerung garantierte ein Konzentrat aus Sensations-Panoramen und feinsten Trail-Abfahrten, beinhaltete aber auch einige Überbrückungs-Passagen, die es galt, im Lockout-Modus wegzupressen.
Das Austüfteln der Alpencross-Strecke war schon immer eine große Herausforderung für den Streckenchef. Genehmigungsverfahren, unzureichende Bettenkapazitäten in Orten, Naturschutz-Auflagen oder ungeeignete Passübergänge zwingen bei nahezu jeder Route zu irgendwelchen Kompromissen. Dennoch war Marc Schneider zufrieden mit seiner 2022er-Kreation: „Die Strecke ist landschaftlich der Hammer und es sind richtige geile Trails dabei“.
Eine erste Kostprobe gab es direkt in Lienz. Wummernde Aufputsch-Musik hatte die knapp 600 Teilnehmer kaum aus den Startboxen auf die Strecke gepeitscht, da trieb der ultrasteile erste Anstieg hoch zur Lienzer Sternalm den Puls der Fahrer ohne einen Hauch von Vorgeplänkel in den roten Bereich. Die Team-Fahrer versuchten sich zu synchronisieren. Die Einzelstarter suchten schwer atmend nach ihren Rhythmus.
So wuchtig wie der Laktatschock, folgte 900 Höhenmeter später die Belohnung. Über den smoothen, perfekt modellierten Peter-Sagan-Trail ging es rüttelarm und ohne zu treten zur deutlich kernigeren Fun-Piste namens Alban-Lakata-Trail, auf der die johlende Menge wieder zurück nach Lienz zirkelte. Ein Intermezzo aus Hart und Herrlich, als hätten es ein Sadomasochist und ein Glücksbeauftragter gemeinsam konzipiert.
Gleichzeitig war das anfängliche Auf und Ab nur der Prolog einer sehr langen, sehr zähen Etappe, bei der sich bis zum Tagesziel in Sillian auf nur 65 Kilometer gewaltige 3100 Höhenmeter summierten. Damit war der zentrale Aspekt mal wieder geklärt. Zeiten mögen sich ändern. Auch die Streckenführung der BIKE Transalp. Der Charakter des Rennens aber bleibt gleich. Wer das Ziel erreichen will, braucht Biss und eisernen Willen. Das Finisher-Trikot kommt nicht mit der Post, und es ist auch nicht für Euro zu haben. Der Preis dafür sind Blut, Schweiß und Tränen. Wieso tun sich Menschen das an?
Der erste Tagesabschnitt offenbart fast immer eine gewisse Kluft aus eigenem Anspruch und Wirklichkeit. Was gut ist. Denn die Wucht der zu meisternden Aufgabe richtet den Fokus sofort auf das Hier und Jetzt. Alltagsprobleme und Weltgeschehen scheinen galaxienweit entfernt.
Stressig ist das, im Randbereich der Behaglichkeit über Alpengipfel zu hetzen. Gleichzeitig aber ist es angenehm, denn der Blick ist so intensiv wie sonst nie auf das Essenzielle gerichtet: auf den eigenen Körper. Auf die Steigung. Auf den Trail, die Verpflegungsstelle, das Bike. Eine ununterbrochene Abfolge von Mikro-Ereignissen, während die Schweißdrüsen die ganze verkrustete Alltagsschlacke aus dem Körper pumpen.
Alles verschmilzt miteinander. Das ist das Besondere. Und jeder erlebt es auf seine eigene Art. Ja, die BIKE Transalp ist ein Rennen. Sie ist aber auch ein Abenteuer. Und, so verrückt es klingt, ein bisschen ist sie auch Urlaub. Das Mischungsverhältnis bestimmt man selbst, es hängt von den eigenen Ambitionen ab. Das kolumbianisch-costa-ricanische Team Luis Sanches Mejia und Carlos Arroyo Herrera, das die hierarchischen Verhältnisse mit der ersten Etappe geklärt hat und in Gelb fährt, zelebriert Profisport auf höchstem Niveau – samt Mechaniker, Masseur und Betreuerstab.
Die Truppe von „Coffee and Chainrings“ dagegen, ebenfalls mit Begleit-Crew angereist, sieht das Rennen neben der sportlichen Herausforderung auch als Bühne für ihre unterhaltsamen Social-Media-Auftritte. Dran hat auch Einzelstarterin Petra Zeller ihre Freude, die es dank ihres Dirndl-Outfits zu Internet-Popularität geschafft hat. Straffen Trittes, aber wohlgelaunt, knetet sie in Tracht über die Berge, während aus der Streaming-Box am Fully stressabsorbierende Popmusik plätschert. Das Mutter-Tochter-Duo Christina und Chiara Baganz (Team Burn Baby) versucht den Spagat von Spaß und Ehrgeiz, während es Horst Drebenstedt rein ums Finishen geht.
Horst ist mit 76 Jahren der Älteste im Teilnehmerfeld, fährt in Sandalen und mit rustikalem 26-Zoll-Hardtail. „Geht auch“, lächelt er und zeigt, dass eine MTB-Alpenüberquerung im Renntempo theoretisch jeder schaffen kann, der das Feuer der Mountainbike-Leidenschaft in sich trägt. Egal, ob austrainierter Profi, top vorbereiteter Amateur, oder motivierter Hobby-Sportler. Ob mit Highend-Fully oder in die Jahre gekommenen Hardtail. Ob Jungspund oder Senior.
Und so arbeitet sich der Tross Tag für Tag durch die Alpen dem Gardasee entgegen. Rennfahrer. Aufbau-Crew. Verpflegungs-Teams. Rescue-Truppe. Rennleitung. Presseleute. Strecken-Team. Wie ein gigantischer Wanderzirkus unter einer Glocke, die wie eine Parallelwelt wirkt. Links und rechts der Strecke gehen die Menschen ihrem Alltag nach, während die Strecke selbst eine tägliche Bühne von Heldengeschichten und Dramen ist.
Den kahlen, 2275 Meter hoch gelegenen Kronplatz, von dem aus ein epischer Wahnsinns-Trails runter ins Ziel nach Bruneck führt, erreicht nur ein Teil des Fahrerfeldes. Ein heftiges Gewitter zwingt zum Rennabbruch. Diejenigen, die durchgekommen sind, stehen eingesaut, aber glücklich im Ziel.
In der Chillout-Area wird am Bitburger 0,0%-Stand Tee heißer Tee ausgeschenkt. Bei Jentschura, wo sich die Ankommenden sonst mit einem Fußbad erfrischen, werden Wärmedecken ausgeteilt. Nach einer Stunde strahlt wieder die Sonne. Weiter geht es nach St. Vigil mittenrein in Panoramen wie Fototapeten.
Die grob gezackte Etappe ins Weinreben-Paradies Kaltern gibt auf der neutralisierten Passage durch Bozen Gelegenheit durchzuatmen, zieht den Fahrern in der glühenden Südtiroler Hitze aber dennoch die letzten Kraftatome aus den Beinen. Der Passo Rolle am Tag darauf ist wie eine befahrbare Dolomiten-Skulptur, die vorletzte Etappe nach Lavarone ein Potpourri aus Zehrendem und Herrlichem.
Und dann ist sie da, die Etappe nach Riva. Ein letztes Mal alles geben, noch mal schinden, noch mal an die Grenzen gehen. Der Zeitmessteppich liegt oben, am Maso Naranch. Direkt dahinter: Freier Blick auf den Gardasee aus 900 Metern Höhe. Die letzten Kilometer zum Zielbogen: neutralisiert, aus Sicherheitsgründen. Unten am See rollt der Urlaubsverkehr. Dem Zielgefühl tut das aber nichts.
Wie Expeditions-Mitglieder, die nach mehreren einsamen Monaten in menschenfeindlichen Gegenden wieder die sichere Zivilisation erreichen, reißen die ankommenden Mountainbiker jubelnd ihre Arme in die Luft. Sektfontänen spritzen. Zerschundene umarmen sich. Einige gehen auf die Knie und küssen die Zielgerade. Die Passanten stehen da starren so fasziniert wie ratlos auf das Spektakel. Normale Alpenüberquerer würden einfach ein Eis essen und für ein Erinnerungsfoto in den Gardasee hüpfen. Da sieht man mal, welche Wirkung eine Startnummer hat.
Für eine isotonische Erfrischung sorgte der Getränkesponsor Bitburger mit einem leckeren 0,0%.
Die BIKE Transalp wurde 1998 von Uli Stanciu ins Leben gerufen, dem Gründer des Magazins BIKE. Stanciu war mit der Erste, der die Alpen mit dem Mountainbike überquert hatte und wollte eine neue, einzigartige Challenge für die damals gerade aufblühende Marathon-Szene schaffen. Weil er nicht glaubte, Genehmigungen für ein offizielles Rennen zu bekommen, wurde die BIKE Transalp als Nonstop-Adventure ausgeschrieben.
Start sollte konspirativ in Mittenwald sein, Ziel in Riva. Wer als Erster den Gardasee erreicht, wäre Sieger. Auf die Ausschreibung in BIKE meldeten sich 500 Mitmachwillige. Davon völlig überrascht bekam Uli Stanciu kalte Füße. Was, wenn nachts einer abstürzte? Was, wenn ein Unwetter kommt? Stanciu gelang es mit Hilfe eines engagierten österreichischen Politikers, das Ganze doch zu einem offiziellen Rennen umzustricken. Acht Etappen. Und Zweiter-Teammodus, um Hilfe im Falle eines Sturzes zu garantieren. Knapp 600 Fahrer gingen im Juli 1998 auf die Strecke, darunter MTB-Pioniere wie Gary Fisher und Wolfgang Renner. Die BIKE Transalp Challenge, wie sie damals noch hieß, wurde ein riesiger Erfolg.
Das Rennen wurde zum Ur-Knall eines weltweiten MTB-Etappenrennen-Booms und war Vorbild für Cape Epic, Brasil Ride und Co. Die nächste Austragung der BIKE Transalp ist gleichzeitig 25. Jubiläum. Der Termin: 9. bis 15. Juli 2023. Infos und Anmeldung: www.bike-transalp.de