Adrian Kaether
, Florentin Vesenbeckh
· 10.06.2022
Trotz 900 Wattstunden ist selbst das günstigste Canyon Spectral:On eines der leichtesten E-Mountainbikes am Markt. Wir konnten sowohl das Einstiegs- als auch das Topmodell des Canyon E-Bikes bereits ausführlich testen.
900 Wattstunden, 23,7 Kilogramm und dann auch noch ein fairer Preis? Eigentlich unmöglich, denn kapazitätsstarke E-Bike-Batterien schwer und teuer, das zusätzliche Gewicht lässt sich nur mit rigorosem Leichtbau kaschieren - und der geht noch zusätzlich ins Geld.
Umso erstaunlicher ist es, das der Koblenzer Versender Canyon dem leichten aber auch teurem Topmodell Spectral:On CFR nun ähnlich leichte, aber deutlich günstigere E-MTB-Modelle hinterherschiebt. Das Einstiegsmodell Spectral:On CF 7 kostet mit 5499 Euro nicht einmal halb so viel wie das Topmodell, wiegt aber trotzdem nur 23,7 Kilogramm - weniger als jedes andere All Mountain seiner Klasse. Im großen Vergleichstest in EMTB 3/2022 konnten wir das Canyon-E-Bike bereits ausführlich testen.
Das CF 7 ist damit das günstigste E-Bike-Modell der neuen Spectral:On Baureihe. Insgesamt gibt es drei der günstigeren CF-Modelle. Wie bei den beiden Topmodellen mit dem teuren CFR-Rahmen sind auch hier Hauptrahmen und Hinterbau aus Carbon. Allerdings kommen bei den CF-Modellen etwas günstigere Werkstoffe zum Einsatz.
Die Rahmen sollen 300 Gramm schwerer sein als die der edlen CFR-Modelle. Die drei CF-Modelle des neuen Spectral:ON liegen zwischen 5199 (720 Wh) und 7299 Euro (900 Wh). Auch hier kann der Kunde ab Werk bei allen E-Bikes wählen, ob er die große oder die kleine Batterie bevorzugt. Die Akkus alleine kosten 899,95 (720 Wh) bzw. 1199,95 Euro (900 Wh).
Zum Hintergrund: Das letzte E-Mountainbike, das Canyon neu konzipiert hat, war das Torque:On. Der Akku hatte vergleichsweise mickrige 500 Wattstunden, das war schon vor gut einem Jahr eine Überraschung. Ein gutes Handling und Gewicht seien wichtiger als schiere E-Power und Reichweite, begründeten die Entwickler damals die Entscheidung. Und jetzt erblickt das neue Wunderwerk der Koblenzer das Licht der Welt. Das Spectral:ON CFR. Akku-Größe? 900 Wattstunden. Eine neue Zeit bricht an, bei der E-MTB-Flotte des Direktversenders! Kann der Neuling an das gute Fahrverhalten seines Vorgängers anknüpfen oder wird er zum behäbigen Brummer?
Zwei Entwicklungsziele hat Canyon für das neue Trail- und All-Mountain-E-Bike ausgegeben. Erstens: Der Biker soll jegliche Reichweitenangst vergessen können. Zweitens: Das handliche, spaßige und agile Trail-Handling des Vorgängers soll darunter nicht leiden. Klingt nach der Quadratur des Kreises. Nicht wenige E-MTBs der Konkurrenz sind in den letzten Jahren mit wachsenden Akkus immer schwerer und behäbiger geworden. Gewichte von über 25 Kilogramm schienen bei Riesenakkus trotz Carbonrahmen unvermeidbar. Haben es die Koblenzer tatsächlich geschafft, diesen Teufelskreis zu durchbrechen?
Um sich dieser Perfektion zumindest anzunähern, wurde das Grundkonzept des Bikes komplett neu gedacht und ein gänzlich neuer Rahmen entwickelt, der jetzt erstmals an Vorder- wie Hinterbau auf Kohlefaser setzt. Außerdem geht Canyon in vielen Details neue Wege, um das Gewicht und die Komplexität des Chassis zu reduzieren. Nummer eins ist die Akku-Entnahme. Wie inzwischen immer mehr andere Hersteller verzichtet Canyon auf das aufgeschnittene Unterrohr, aus dem der Akku herausgeklappt werden kann. Stattdessen wird die Batterie nach unten aus dem geschlossenen Unterrohr gezogen. Dieses Konzept, mit dem 2018 erstmals Specialized für Furore sorgte, bringt Vorteile bei Gewicht und Stabilität des Rahmens. Denn es ermöglicht dünnere Wandstärken.
Auch an vermeintlichen Kleinigkeiten wie der Flaschenhalteraufnahme und den Schaltern und Ports des E-Systems wurde gefeilt. Das Ziel: möglichst wenig Löcher im Rahmen, die wiederum höhere Wandstärken erfordern und das Gewicht steigen lassen würden. Auch die Verkabelung wurde möglichst simpel gehalten – im Sinne einer geringeren Fehleranfälligkeit und im Sinne des Gewichts. In Summe soll der neue Rahmen so rund 800 Gramm gegenüber dem Vorgänger einsparen. Unser Testbike, das Topmodell Spectral:ON CFR LTD landet in Summe bei 23,2 Kilogramm, ein Novum in dieser Akku-Klasse! Selbst mit Boschs 750er-Akku hatten wir noch kein Bike in unserem Testlabor, das an dieses Gewicht rankommt.
Wichtiger Bestandteil des Konzepts: Der eigens entwickelte Akku. Nach Ansicht der Entwickler lassen die erhältlichen Batterien am Markt viel Potenzial liegen. Also hat sich Canyon an die Eigenentwicklung gemacht. Ein wichtiger Punkt dabei war die Höhe der Batterie. Trotz 900 Wattstunden sollte das Bike eine schlanke Silhouette erhalten. Mit einigen Tricks konnte die Bauhöhe des Akkus gering gestaltet werden.
Beim Thema Gewicht wurde nicht das letzte Quäntchen ausgereizt. Man hätte leichter bauen können, aber nicht mir den extremen Teststandards, auf die die Batterien ausgelegt sind, so Canyon. Stoßfestigkeit und Nässeschutz – hier sollen die eigenen Akkus höchste Sicherheit bieten. Probleme wollte das Entwicklungsteam in jedem Fall ausschließen. Mit 3866 Gramm gehört der 720er-Akku trotzdem zu den leichten Vertretern seiner Größe. Modelle mit Carbon-Hülle wie von Rotwild oder Bulls sparen aber nochmal rund 300 Gramm. Die 900er-Batterie bringt mit 4,77 Kilo rund 900 Gramm mehr auf die Waage.
Das Spectral:ON hat sich in unseren letzten Tests immer mit einem agilen und spaßigen Handling hervorgetan. Auch dank der gemäßigten Geometrie. Bei der Neuauflage hat Canyon versucht, das Chassis komplett aufzufrischen, ohne ins Extreme abzudriften. Heißt: Der Hauptrahmen ist deutlich länger geworden (Reach 485 mm in Größe L), der Sitzwinkel viel steiler (76,5°). Moderne Trends eben.
Beim Lenkwinkel haben sich die Koblenzer allerdings dem „Lang-und-Flach-Trend“ entzogen. 65,5 Grad sind alles andere als extrem und sollen das Bike handlich halten. Die Kettenstreben sind mit 440 Millimetern etwas länger geworden, um die Balance mit dem deutlich längeren Reach zu halten. Geht das Konzept auf? Unser Eindruck aus der Praxis sagt ganz klar: Ja! Die Geometrie vereint Laufruhe und Agilität ziemlich ideal. Und trifft auch die Mitte zwischen dem Sportlich-Extremen und dem Unkomplizierten ziemlich gut.
Als eines der ersten E-MTBs setzt das Topmodell CFR LTD auf das elektronische Flight Attendant-Fahrwerk von Rockshox. Kleine Servos schalten hier automatisch die Druckstufe zu, um ungewollte Fahrwerksbewegungen zu verhindern. In der Praxis funktioniert das zuverlässig. Bei längeren Passagen im Wiegetritt und auf ruhigem Untergrund schaltet das Fahrwerk auf die mittlere Position "Pedal" oder auf "Lock". Wird der Untergrund rauer, schlucken die Federelemente Hindernisse wieder mit voller Sensibilität. Am Spectral:ON unterstützt das Elektro-Fahrwerk den spritzigen Charakter des Bikes. Der Vorteil durch das elektronische Fahrwerk ist allerdings marginal, denn der Hinterbau steht ohnehin sehr gut im Federweg. Die drahtlose Kommunikation zwischen den verschiedenen Bauteilen ist zwar schick, bringt jedoch regelmäßiges Laden der kleinen AXS-Akkus an Dämpfer und Federgabel mit sich. In Summe muss man sich am CFR LTD neben dem Haupt-Akku um vier AXS-Batterien kümmern.
Das neue Spectral:ON CFR gibt es in zwei Ausstattungsvarianten, die beide ab sofort verfügbar sind. Das Topmodell CFR LTD kostet 11299 Euro, das CFR 9299 Euro. Mit 720er-Akku kann man bei beiden Bikes noch 300 Euro sparen. Diese Option ist allerdings erst ab Mai 2022 verfügbar.
Bekommt man ein Spectral:ON CFR in die Finger, hinterlässt es einen extrem hochwertigen und durchdachten Eindruck. Edel, robust, durchgestylt. Das fängt bei dem cleanen Carbon-Cockpit mit integrierter Kabelführung an und zieht sich über die abgedichteten Zugeingänge in den Steuersatz bis zum ausgeprägten Kettenstrebenschutz mit top Dämpfung.
Im Laufe des Testzeitraums ist uns aber der ein oder andere Schönheitsfehler aufgefallen. An unserem Testbike klapperte die Bremsleitungen bei hochfrequenten Schlägen auf dem Trail im Unterrohr. Das ist vor allem deshalb schade, weil sich die Bemühungen der Entwickler um ein leises Bike ansonsten bemerkbar machen. Für ein Bike mit EP8-Motor ist das Spectral:ON verhältnismäßig leise. Das Zugklappern tritt nur in bestimmten Fällen auf. Zweiter Schwachpunkt, den Canyon allerdings schon erkannt und für die Serie abgestellt haben will: Die Lackschutzfolie am Hinterbau löste sich nach kurzer Zeit unschön ab.
Canyon beweist mit dem Spectral:ON, dass ein E-MTB mit Riesen-Akku handlich und agil bleiben kann. Das gibt es am Markt aktuell kein zweites Mal. Hut ab! Allerdings stößt Canyon mit unserem ersten Testbike, dem CFR, auch preislich in neue Dimensionen vor. Ein Bike vom Direktversender für über 11000 Euro – auch das ist am Markt aktuell einzigartig. Dass es auch anders geht, beweist unser zweites Testbike des Spectral:On. Das Einstiegsmodell für 5500 Euro mit 900er-Akku und Vollcarbonrahmen ist ein sehr faires Paket und mit 23,7 Kilogramm fast schon unverschämt leicht. Zumal vor dem Hintergrund von Preis und Akkugröße. Ob diese Variante den Testern und Lesern auf dem Trail ebenfalls ein dickes Grinsen ins Gesicht zaubern konnte, lesen Sie in EMTB 3/2022.