Jan Timmermann
· 10.02.2023
Für Kinder und Jugendliche ist Biken voller Erlebnisse abseits vom Alltag. Ideal, um in der Natur über sich selbst und andere etwas zu lernen. Doch ist Biken wirklich per se erlebnispädagogisch wirksam? Bike-Volontär und Erziehungswissenschaftler Jan Timmermann hat das theoretisch und praktisch untersucht.
Wenn Kinder einen langen Anstieg meistern, können sie lernen, dass sich Anstrengung auszahlt. Wenn sie ihre Freunde dabei motivieren auch bis ganz oben zu fahren, haben sie die Möglichkeit, Empathie zu beweisen. Wenn junge Biker ein aufgeschürftes Knie mit nach Hause bringen, kann ihnen das eine Lehre über eigene Fehler und deren Überwindung sein. Wenn sie schließlich die ganze Runde gemeistert haben, können Kinder etwas über ihre eigene Leistungsfähigkeit erfahren. Wenn sie mit ihren Mitfahrern auf die Tour zurückblicken und anderen davon erzählen, können sie lernen, was es bedeutet Teil einer sozialen Gruppe zu sein. So betrachtet ist ein Mountainbike ein geniales Lernspielzeug, um wichtige Selbst- und Sozialkompetenzen zu erlernen. Warum also steht Biken nicht auf jedem Lehrplan? In der Realität ist es nicht immer einfach die Erlebnisse einer Mountainbike-Tour pädagogisch zu nutzen. Wir klären, was es dazu braucht.
Noch mehr zum Thema Mountainbiken und Kinder lesen Sie in BIKE 04/23. In einem großen Kinder-Special geben wir Kaufberatungen, zeigen das neuste Zubehör und die coolsten Klamotten. Natürlich haben wir auch getestet: Wer baut das beste Mountainbike für Kinder und welches Abschleppsystem ist der Favorit von Eltern und Kids?
Über eine genaue Bestimmung des Erlebnispädagogik-Begriffs ist sich die Sozialwissenschaft uneinig. Problematisch ist vor allem die mangelnde Messbarkeit in den Ergebnissen erlebnispädagogischer Angebote und die unmögliche Steuerung, beziehungsweise Rekonstruierbarkeit, von individuellen Erlebnissen. Zu den wichtigen Persönlichkeiten der frühen wissenschaftlichen Grundlagen zählen unter anderem Jean-Jacques Rousseau, David Thoreau und Kurt Hahn. Seit den 90er Jahren prägten unter anderem Heckmair, Michl und Paffrath den Diskurs. Allen theoretischen Auseinandersetzungen gemein ist die Bezeichnung der Erlebnispädagogik als handlungs- und zielorientierte Methode der Sozialpädagogik.
Durch die Reflexion von Gemeinschaft und Erlebnissen in naturnahen und pädagogisch unerschlossenen Räumen sollen mithilfe der Methode bei Kindern und Jugendlichen spätere Handlungsressourcen aufgebaut werden. Physische, psychische und soziale Herausforderungen mit Erstcharakter sollen Grenzerfahrungen und damit exemplarische Lernprozesse ermöglichen. Für ihre Instrumentalisierung in der Jugenderziehung des Dritten Reiches und in militärischen Boot-Camps steht die Erlebnispädagogik immer wieder in der Kritik. Auch aus diesem Grund existiert in Deutschland, im Gegensatz zu den USA, der Schweiz und England, bis heute keine eigene Theorieentwicklung und Erlebnispädagogik tritt oft nur als alleinstehendes Angebot einzelner Gruppen von Reformpädagogen auf.
Die Erlebnispädagogik umfasst ein facettenreiches Spektrum auf gemeinsamer konzeptioneller Basis mit einer gesellschaftskritischen Dimension. Sie thematisiert Körper, Grenzen und die Natur in bildungsrelevanten Erlebnisprozessen. Dabei bestehen für sie einerseits grundlegende theoretisch-methodische Defizite, andererseits wird sie von Professionalisierungs-Bestrebungen und einer gewissen Popularität getragen. Aktuell profitiert sie stärker von ihrem symbiotischen Verhältnis zu risikogesellschaftlichen Elementen und erlebnisgesellschaftlichen Ideologien, als je zuvor. – Jan Timmermann, BIKE-Volontär und Erziehungswissenschaftler
Wie die Beispiele aus Situationen einer Mountainbike-Tour zeigen, enthält die Aktivität prinzipiell viele erlebnispädagogisch relevanten Elemente. Beim Biken fahren Kinder von A nach B, treiben Sport und stellen sich fahrtechnischen Herausforderungen. Im Gegensatz zum Beispiel des Frontalunterrichts in der Schule ist also eine Handlungsorientierung und ein körperlicher Aspekt gegeben. Kinder biken in der Regel im Wald und nicht in erster Linie, um etwas zu lernen, sondern um Spaß zu haben. Damit bewegen sie ich in naturnahen und pädagogisch unerschlossenen Räumen. Radfahren lässt sich hervorragend in kindliche Lebenswelten integrieren, denn es ist eine der wichtigsten Fortbewegungsarten für junge Menschen und enthält viele spielerische Aspekte. Psychische und physische Grenzerfahrungen sind Grundbestandteil des Mountainbike-Sports. Doch auch soziale Herausforderungen können entstehen, wenn Kinder mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen fahren. Mountainbiken kann Heranwachsende in ihrer Identitätsbildung unterstützen und ihnen in einem pädagogischen Setting Sozialkompetenzen vermitteln, wie Teamfähigkeit, Umgang mit Erfolgsdruck, Fairness, Toleranz, Regelakzeptanz, Eigeninitiative, Risikokompetenz, Kritikfähigkeit, Führungskompetenz, Körpererfahrung, Kommunikation, Sympathie und Vertrauen.
Ein Fahrrad ist ein geeignetes Instrument, um mithilfe von direkten Rückmeldungen sowohl für Gruppen, als auch für Individuen sozialpädagogisch bedeutsame Erfahrungen bezüglich Körperlichkeit, Umwelt und Selbstwirksamkeit zu machen. Besonders in ihren Bestandteilen Kommunikation, Gruppenprozesse, Verhaltensänderungen, Selbsthilfe, beziehungsweise Empowerment, Verantwortungsübernahme, Bildung, Erwerb von Sozialkompetenzen und der Knüpfung von Kontakten lassen sich sozialpädagogische Momente in Radsportprogrammen beobachten. – Jan Timmermann
Sind Kinder oder Jugendliche auf einer Bike-Tour unterwegs, stehen in der Regel Menschen, beziehungsweise die Gruppe, im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Damit unterscheidet sich Mountainbiken von anderen Sportarten, bei denen ein Sportgerät, wie etwa ein Fußball, im Fokus der Teilnehmer steht. Die Erfahrungen, die Kinder in diesem sozialen Setting machen, benötigen einer Reflexion. Nur, wenn Erlebnisse reflektiert werden, sind sie pädagogisch nutzbar. Ansonsten bleiben sie meist zufällige Geschehnisse ohne konkreten Alltagsbezug. Wollen Trainer, Eltern oder Pädagogen die erlebnispädagogischen Potentiale des Bikens nutzen, müssen sie sensibel für außeralltägliche Erfahrungen und bereit für ein Reflexionsangebot sein.
Beispielsweise ist ein Sturz für Kinder eine außeralltägliche Erfahrung. Wird dieser nicht gemeinsam besprochen, können für das betroffene Kind allerhand negative Assoziationen entstehen. Besser ein Erwachsener hilft dann dabei, die Bedeutung des Sturzes einzuordnen: “Stürzen kommt vor und passiert den besten Bikern. Komm, steh auf und wir schauen gemeinsam, wie es zu dem Sturz kam.” Auch positive außeralltägliche Erfahrungen benötigen eine Reflektion: “Du bist diesen Anstieg zum ersten Mal ohne Absteigen hochgefahren. Das ist richtig stark und bedeutet, dass du immer besser wirst. Komm, wir feuern deinen Freund an, damit er es auch schafft.” Manche positive Erfahrungen bedürfen auch eines Hinweises, um von Kindern überhaupt wahrgenommen zu werden: “Wow, wir sind heute 400 Höhenmeter hochgetreten. Das ist viel und ich hätte das in deinem Alter noch nicht geschafft.” Um die Lernprozesse in den Alltag zu transferieren, sollten Erlebnispädagogen auch immer fragen: Welchen Bezug hat diese Erfahrung zum Alltag des Kindes? Was kann es dadurch für Schule, Familie und das Leben lernen?
In erlebnispädagogischen Angeboten mit dem Mountainbiken werden außeralltägliche Erfahrungen am besten von Profis reflektiert. Erlebnispädagogik, Sport und Bewegung wird in der sozialpädagogischen Ausbildung nur stiefmütterlich behandelt. Andererseits fehlt es Sportpädagogen oft an den nötigen sozialpädagogischen Kompetenzen. Echte Experten sind rar. Erst sie können das erlebnispädagogische Potential von freizeitpädagogischen Bike-Gruppen voll ausschöpfen. Es lohnt sich jedoch für alle Pädagogen und Eltern, welche mit Kindern auf dem Bike unterwegs sind, sich für diese Potentiale zu sensibilisieren. - Jan Timmermann
Wie beschrieben, sind Bike-Angebote ohne permanente pädagogische Reflektion nicht der Erlebnispädagogik zuzuordnen. Sie sind als Freizeit- und Sportangebot trotzdem pädagogisch wertvoll, lassen aber sozialpädagogische Potentiale ungenutzt. Dies trifft auf die meisten Angebote in Sportvereinen, Feriencamps und Bike-Schulen zu. Ein häufiges Merkmal dieser nicht-erlebnispädagogischen Angebote ist zudem die Kommerzialisierung des Erlebnisses. Damit greifen sie einen hochaktuellen gesellschaftlichen Trend auf, denn heute wird alles als “Erlebnis”, “Event” oder “Erfahrung” angepriesen. Soziologen sprechen gar von einer “Erlebnisgesellschaft” in der Produkte und Dienstleistungen, wie Autos, Parfums oder eben Bike-Gruppen, über besonders aufregende Erlebnisse vermarktet werden. Hinter einem Mountainbike-Angebot, das mit den “geilsten Abfahrten”, dem “coolsten Instagram-Foto” oder dem “totalen Flow” wirbt, steckt kein erlebnispädagogisches Konzept. Die außeralltäglichen Erfahrungen, die wirklich erlebnispädagogisch nutzbar sind, lassen sich weder erzwingen noch steuern. Für jedes Kind kann ein Erlebnis anders aussehen. Erlebnispädagogen können auch beim Biken nur den passenden Rahmen schaffen, in dem außeralltägliche Erfahrungen wahrscheinlicher werden und diese reflektiert werden können.
In ihrer erlebnispädagogischen Kritikfunktion ist Mountainbikepädagogik nur so lange glaubwürdig und wirksam, wie sie im Zuge ihrer Kommerzialisierungstendenzen erlebnisgesellschaftliche Prinzipien und die Steigerungslogik der Unterhaltungsindustrie nicht unreflektiert auf Kosten ihrer bildungsphilosophischen Ideale übernimmt und trotz ökonomischem Drucks nicht zur erlebnisorientierten Kurzzeitpädagogik ‚just for fun‘ verkommt. – Jan Timmermann