Soziologie des Bikens Teil 2Mountainbiken in der Ergebnisgesellschaft

Jan Timmermann

 · 12.05.2025

Kein Blick für Berge und Sonnenuntergang: Was bedeutet die Ergebnisgesellschaft für uns Biker?
Foto: Storychief KI/Jan Timmermann
Manchmal scheint es als fahren einzelne Radsportler heute nur noch den Zahlen auf ihrem Bikecomputer hinterher. Andere unternehmen keine Ausfahrt ohne Actioncam am Helm. Warum eigentlich? Wir tauchen tief ab in die soziologische Populärwissenschaft und schauen uns an warum der Mountainbike-Sport so hervorragend in die Ergebnisgesellschaft passt.

Mal ehrlich: Welcher Radfahrer nutzt nicht irgendeine App zum Aufzeichnen seiner Trainingsdaten? Wer erwischt sich nicht ständig dabei das Smartphone aus der Tasche zu ziehen und den Kumpels ein Foto von der absolut genialen Trailabfahrt zu schicken? Hier noch ein KOM, da noch schnell der Videoschnipsel für den anstehenden Vlog. Wir Biker sind ganz verrückt nach harten Fakten, dokumentierten Erinnerungen und Ergebnissen, wollen unsere Erlebnisse in Zahlen und Bilder bannen, um sie schließlich mit unserer sozialen Gruppe zu teilen. Autor Jan Timmermann ist studierter Erziehungswissenschaftler und stellt sich oft die Frage nach dem Warum: “Warum gehe ich ohne Strava nicht mehr aus dem Haus und warum habe ich das Bedürfnis meiner Familie Fotos von all den exotischen Orten zu schicken, an denen ich Radfahren bin?” Es gibt eine sozialwissenschaftliche Theorie, welche dieses Verhalten erklären könnte. In unserem zweiten Teil der Soziologie des Bikens widmen wir einer Gegenwartsanalyse der Ergebnisgesellschaft ein paar akademische Gedanken.

Daten, Zahlen, Fakten: Die ganze Welt ist ganz verrückt danach. Sportler sind besonders betroffen, Biker erst recht.Foto: UnsplashDaten, Zahlen, Fakten: Die ganze Welt ist ganz verrückt danach. Sportler sind besonders betroffen, Biker erst recht.

Von der Erlebnis- zur Ergebnisgesellschaft

Der Soziologe Gerhard Schulze analysierte in der deutschen Gesellschaft Ende des 20. Jahrhunderts mit zunehmendem Wohlstand und mehr Wahloptionen den Faktor des Erlebnisses als neue Orientierungsstütze. Produkte, wie etwa Mountainbikes, würden vor allem wegen ihres Erlebnisversprechens verkauft und auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, wie etwa der MTB-Szene, definiere sich inzwischen über gemachte und geteilte Erlebnisse. Der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger wiederum beobachtete 2015 einige Veränderungen in der sogenannten “Erlebnisgesellschaft”. Die Innenorientierung, mit der die Subjekte in ebendieser Gesellschaft ein schönes, aufregendes Leben anstrebten, sei für die meisten Menschen im Alltag zur kaum zu bewältigenden Herausforderung geworden. Erlebnisse bedürften für den Bezug zum Innern den Prozess der Reflektion. Durch die ständige Verfügbarkeit und Entgrenzung des Erlebnischarakters in allen Dienstleistungen, Produkten und Handlungen fände dieser Prozess laut Bausinger jedoch zunehmend verkürzt statt. Möglichkeiten und Reize seien inzwischen so dicht gelagert, dass sie ein schnelles Abarbeiten nahelegten. Im Zusammenhang mit der Schnelllebigkeit des Alltags bestünde vielmehr das Bedürfnis nach Ergebnissen. Extrinsische Motive hätten intrinsische inzwischen vielerorts abgelöst.

Meistgelesene Artikel

1

2

3

Lässt sich ein leidenschaftliches Hobby in Zahlen bannen? Dank moderner Technologie wird es an allen Ecken und Enden versucht.Foto: UnsplashLässt sich ein leidenschaftliches Hobby in Zahlen bannen? Dank moderner Technologie wird es an allen Ecken und Enden versucht.

Tatsächlich eignet sich ein Mountainbike hervorragend, um in kurzer Zeit möglichst viele Erlebnisse zu sammeln. Bereits in 90 Minuten bietet sich auf dem Bike eine Vielzahl außeralltäglicher Erfahrungen, wie körperliche Anstrengung, die Geräusche der Natur, das Alleinsein im Wald und am Berg, Geschwindigkeit, Kälte, Hitze, oder Airtime. Kaum ein Radfahrer dürfte sich wirklich die Zeit nehmen nach jedem einzelnen Erlebnis innezuhalten und zu reflektieren, was gerade geschehen ist. Zu schnell ist man schon im nächsten Trail, an der nächsten Aussicht oder zurück am Schreibtisch. Was von der Inflationierung bleibt ist der Versuch die Erlebnisse in Ergebnissen festzuhalten. Bausinger ist sich sicher: Wenn Menschen bei einem Sonnenuntergang die Kamera zücken und das Bild auf Social Media teilen, dann weil sie Ergebnisse produzieren und damit soziale Zusammenhänge herstellen wollen.

Den Drop noch schnell in ein Ergebnis bannen und so für die Nachwelt festhalten: Dank Smartphone heute ganz einfach.Foto: Wolfgang WatzkeDen Drop noch schnell in ein Ergebnis bannen und so für die Nachwelt festhalten: Dank Smartphone heute ganz einfach.

Sport nach Zahlen

In einer Studie analysierte Bausinger, dass die bürokratische Kontrolle von Bildung, Arbeit, Medizin und Statistik immer mehr zu einer Ergebniskontrolle umgewandelt würde. Auch für den Sport sah er eine zunehmende Verkürzung auf Ergebnisse. Was als Erfolg verbucht werde sei nicht länger nur ein gesunder Körper sondern zusätzlich Zeitmessungen und Tabellenplatzierungen. Auch andere Sozialwissenschaftler sehen zum Beispiel im Besuch des Fitnessstudios eine Ergebnisorientierung, die den Körper in einer eigenen Industrie zum Medium eines symbolischen Ausdrucks macht. Ebenso lenke die Annahme täglicher Unsicherheiten in der Risikogesellschaft den Fokus immer mehr in Richtung schneller Ergebnisse. Da Risiken immer inflationärer, abstrakter und gleichgültiger wahrgenommen würden, biete Risikosport attraktive, in konventionellen Sicherheitsvorstellungen verlorengeglaubte Reize und Befriedigung des menschlichen Unsicherheitsbedürfnisses. Risikosportliche Heldentaten werden heute massenmedial verbreitet. Das Ergebnis all dessen: Erlebnisse würden weiterhin immer stärker entwertet.

Zu welchem Zweck fahren wir Mountainbike? In der Erlebnisgesellschaft droht jedenfalls der Selbstzweck in den Hintergrund zu geraten.Foto: Max FuchsZu welchem Zweck fahren wir Mountainbike? In der Erlebnisgesellschaft droht jedenfalls der Selbstzweck in den Hintergrund zu geraten.

Und beim Mountainbiken? Bei vielen Formen des Bikens sind die Risiken dabei doch alles andere als abstrakt. Für viele mag es so scheinen als sei in dieser Nische noch der Weg selbst das Ziel. Das mag in vielen Fällen stimmen, in anderen ist jedoch das Ziel selbst das Ziel: “Ich bin heute bis zum Tegernsee und zurück geradelt!” Über Handys, Fitnesstracker und Smartwatches ist die eigene Bewegungsleistung rund um die Uhr abrufbar. Getretene Watt, Durchschnittsgeschwindigkeit, Sauerstoffsättigung, Schlafqualität und Regenerationsdauer - alles messbar, alles faszinierend, alles zur Bewerbung neuer Technik verwertbar! Fakt ist, dass viele Biker nach einer bestimmten Jahreskilometerzahl schielen oder sich andere zahlenbasierte Ziele setzen: die erste Tour mit 3000 Höhenmetern, der Fünf-Meter-Drop im Bikepark, 1000 verbrannte Kalorien, 500 Views des POV-Videos, 100 Likes des Gipfelfotos.

Der Screenshot aus Strava zeigt: Alles ist messbar. In der Ergebnisgesellschaft macht sich der Biker zum gläsernen Sportler.Foto: ScreenshotDer Screenshot aus Strava zeigt: Alles ist messbar. In der Ergebnisgesellschaft macht sich der Biker zum gläsernen Sportler.Wie weit, wie schnell, mit welchem Ziel? Auf dem Bikecomputer oder Handy haben Radfahrer ihre Ergebnisse immer im Blick.Foto: UnsplashWie weit, wie schnell, mit welchem Ziel? Auf dem Bikecomputer oder Handy haben Radfahrer ihre Ergebnisse immer im Blick.

Einschätzung

Jan Timmermann, BIKE-Redakteur, Erziehungswissenschaftler (MA), Sozialpädagoge (BA): Die Erlebnisinflationierung und Ergebnisorientierung der aktuellen Zeit ist nicht von der Hand zu weisen. In vielen Lebensbereichen geht Erlebnis-Quantität heute über -Qualität und die Zementierung des eigenen Handelns in Ergebnisse über Reflektion. Mountainbiken trägt all diese Aspekte in sich. Nimmt man sich die soziologische Kritik Bausingers zu Herzen, sollten Biker wieder öfters ohne Tracking aufbrechen und ganz bewusst auf Foto- und Videoaufnahmen verzichten. Wie wäre es zudem mit einer Woche Social-Media-Detox? Gerade für Sportler, welche über die Zeit die intrinsische Motivation zum Radfahren verloren haben, steckt in diesem populärwissenschaftlichen Gedankengang viel Potential für neue Freude am Biken. Die Umsetzung aber ist gar nicht so leicht.

BIKE-Redakteur Jan TimmermannFoto: Georg GrieshaberBIKE-Redakteur Jan Timmermann

Meistgelesen in der Rubrik Über Uns