Henri Lesewitz
· 02.04.2015
Millionen Biker weltweit im Strava-Fieber: Die Strava App analysiert jeden Kilometer und schürt mit Bestenlisten den Ehrgeiz. Unser Autor im Selbstversuch: Tage später geriet sein Leben aus den Fugen.
Zwei Wochen, nachdem ich mir die App aufs Handy geladen hatte, ging es mit meinem Eheleben bergab. Es war einer dieser Abende, die einem vollberufstätigen Elternpaar viel zu selten vergönnt sind. Kinder versorgt. Kerzenlicht an. In der Anlage die CD eines sensiblen Gitarren-Poeten. "Na, wie sieht’s aus?", fragte meine bezaubernde Gattin und wedelte mit dem Fläschchen Massage-Öl, Duftaroma Mandel. Der menschliche Körper strotzt geradezu vor erogenen Zonen. Selbst ein Mann verfügt angeblich über zwei Dutzend. Doch ich antwortete: "Oh ja, so ’ne kleine Wadenmassage wäre super!" Mausebärchen schien mich mit ihrem Blick erdolchen zu wollen. Sie guckte, wie Uma Thurman auf dem Filmplakat von Kill Bill. Es war nicht mehr zu leugnen: Ich hatte ein Problem.
Diese Programme, die man sich auf das Smartphone lädt, um sich fortan von ihnen terrorisieren zu lassen. Schlaumeier-Programme, die einem sagen, was man anziehen, essen, einkaufen soll. Und die ständig rumnerven, weil sie immerzu "upgedatet" werden wollen. In einem Anfall von Neugier hatte ich mir mal eine App auf das Telefon geladen, die Töne simuliert, wie sie Embryos im Mutterleib wahrnehmen. Soll angeblich für ein tiefes, friedliches Schlaferlebnis sorgen. Ein Quatsch, über den ich mich so dermaßen aufgeregt habe, dass ich stundenlang nicht einschlafen konnte. Nun also diese Strava-App, von der alle reden. Die ganze Bike-Welt ist angeblich im Fieber. Touren-Aufzeichnung. Leistungsanalyse. Soziale Vernetzung. Mit Strava wird jeder Weg, jeder Berg, jede Kurvenkombination zum Austragungsort um den Titel "King of the Mountain". Überall gibt es "Segmente", zu denen die App ungefragt Bestenlisten erstellt. Strava ist das Scharnier zwischen echtem und virtuellem Leben. Man kachelt einsam durchs Gelände, stets verfolgt von einer unsichtbaren Meute. So wie Facebook. Nur mit Schwitzen.
Es war Freitag, ein kalter Novembertag, als ich die Strava App zum ersten Mal aktivierte. Aus Angst vor zu viel Leistungsdruck hatte ich mir vorsorglich einen Decknamen zugelegt: Lars Vegas. So war die Gefahr minimiert, sich vor Kumpels für jeden gemütlich gefahrenen Kilometer rechtfertigen zu müssen. Eine weise Entscheidung, wie sich bereits eine halbe Stunde später herausstellen sollte. Ich war nur adrenalinleer von der Wohnung zum Büro gerollt, doch Strava hatte bereits alles analysiert. Die NSA hätte es nicht besser hinbekommen: 6,4 Kilometer, 40 Höhenmeter, 22,6er-Schnitt. Dazu Höhenprofil und Bewegungsbild. Sowie alle durchfahrenen "Sektionen" inklusive meiner Platzierungen. Meine Laune kollabierte augenblicklich: Ein müder Platz 22 im Segment namens "Evil Little Climb 2", in dem ausgerechnet mein Kollege Stefan Loibl die Rangliste anführte. Ich hatte gar nicht gewusst, dass der giftige Stich hoch zur Hauptstraße eine Bühne des Wettkampfsports ist. Loibl, der Sack!, dachte ich. Jetzt konnte ich nur hoffen, dass meine Tarnung nicht auffliegt. Sonst würde ich auch noch nach Trainingsplan leben und omnimolekulare Lebensmittel essen müssen. So, wie diese mageren Leistungsstreber mit ihren Pulsuhren, deren rock ’n’ rolligster Moment im Jahr das Glas Radler (0,3 Liter) bei der Vereinsweihnachtsfeier ist.
Generell liebe ich ja sportliche Auseinandersetzungen. Bei Marathons zum Beispiel. Man hechelt zu siebenhundert einen Berg hinauf, bis vor Schwäche der Sabber aus den Mundwinkeln rinnt. Alles tut weh, und man beschimpft ununterbrochen die Strecke. Für mich eine der herrlichsten Formen von Freizeitgestaltung, keine Ahnung, wieso. Noch besser ist der Kampf um die Vorherrschaft im Heimrevier. Man radelt mit Grundlagenausdauerpuls durch den Wald. Taucht ein Fahrer vor einem auf, treibt man ihn flotten Trittes vor sich her, um ihn dann mit einer geschickt platzierten Tempo-Forcierung in die hierarchischen Schranken zu weisen. Gekrönt durch ein lässig genuscheltes "Servus" während des Überholvorgangs, resultiert daraus ein Gefühl von Macht und Power, wie es sonst nur Steinzeitmenschen beim Erlegen eines Mammuts gespürt haben dürften. (Das nur als kurzer Einblick in die männliche Psyche.) Die Strava-Sache schien irgendwie anders. Brutaler. Durchdringender. Sobald man den Startknopf drückt, kann jeder alles sehen. Jede Kurbelumdrehung wird mit einem Zeugnis bedacht, kommentiert und bewertet. Ein permanenter Prüfungsstress. Die größtmögliche öffentliche Entblößung des menschlichen Körpers.
Der Abend hatte nett begonnen, da kam die Strava-Mail: "Gut! Stefan Loibl folgt dir jetzt auf Strava." Panik durchzuckte mich. Ich war enttarnt! Offenbar hatte ich meinen Kollegen zu plump über das "Evil Little Climb 2"-Segment ausgefragt. Jetzt war ich im Zugzwang! Um die 30 Sekunden von Loibl zu überbieten, müsste ich mit 42:11 in das Segment hineinkacheln. Der Puls würde am Maximum nageln, ich müsste versuchen, den Schmerz in den Oberschenkeln zu ignorieren. Die Anstrengung würde Blutgefäße in der Lunge zum Platzen bringen, woraufhin mir der Geschmack von Blut in den Mund schießen würde. Das größte Problem war jedoch die Hauptstraße, die ich beim Anlaufnehmen kurz vor Segment-Beginn überqueren müsste. Eine Russisch-Roulette-mäßige Aktion. Triumph oder Notaufnahme? Reiner Zufall. Die Straße war kaum einzusehen. "Schatz, ich brauche jemanden, der mir ’ne Straße absperrt", erklärte ich meiner Gattin die verzwickte Situation. Ihr Mitgefühl hielt sich in Grenzen. "Ja, ja, schon klar. Übrigens, die leeren Flaschen müssen noch weggebracht werden." Sie verkannte völlig den Ernst der Lage!
Es gibt Biker, die sich aus Abscheu vor Leistungsstress niemals eine Trainings-App auf das Handy laden würden.
Und es gibt Biker, die sich bewusst diesem Druck aussetzen, um nicht auf der Couch zu verwahrlosen. Wie viele Menschen Strava nutzen, darüber hüllt sich der Anbieter in Schweigen. Mehrere Millionen sollen es sein. Jede Woche kommen angeblich Hunderttausend hinzu. Überhaupt ist nicht viel bekannt über die Firma. Informationen finden sich kaum im Netz. Presseanfragen werden ausgesessen oder nur sehr allgemein beantwortet. Gegründet wurde Strava 2009 von den US-Amerikanern Mark Gainey und Michael Horvath als "virtuelle Umkleidekabine", in der sich Sportler über ihre Trainingserlebnisse austauschen können. Aller paar Wochen wird zu Mitmachaktionen aufgerufen. Unlängst etwa zur "Climbing Challenge". Es galt, innerhalb von 20 Tagen so viele Höhenmeter zu fahren, wie der Mount Everest misst. Der Sieger, ein gewisser "Marc MTB Biker Vegan Power", sammelte bei 15 Touren unfassbare 68413 Höhenmeter. 773 Prozent Planerfüllung!, lobte Strava. 47282 Nutzer hatten insgesamt teilgenommen. Biker aus Russland, Australien, Deutschland, Afrika. Es war das vielleicht größte Uphill-Rennen der Menschheitsgeschichte. Es kam ohne Flatterband aus. Und ohne Startnummern.
Es war Montag, im Fernsehen lief "Bauer sucht Frau", als mir Strava mal wieder eine Mail schickte: "Hallo Lars, wow, du bist groß im Rennen! Christoph Listmann folgt dir jetzt auf Strava." Ich starrte erschrocken auf das Display. Christoph Listmann, mein antrittsstarker Arbeitskollege, der diverse Strava-Segmente unter seiner Kontrolle hielt, beobachtete jetzt jeden meiner Meter. Na, super! Der Abend war gelaufen. "Das ist ja nervig. Jetzt lösche endlich diese blöde App", kommentierte Mausebärchen, als ich mit Hinweis auf möglichen Leistungsverlust das angebotene Glas Rotwein verweigerte.
Ich beschloss, den Rekordversuch auf dem "Evil Little Climb 2"-Segment zunächst auf Eis zu legen und statt dessen meine Stammrunde auf Segmente zu überprüfen. Ich fuhr mit forschem Tempo, jedoch keineswegs am Limit. Strava wusste Bescheid: elf Sektionen. Zwei dritte Plätze, einmal Sechster, einmal Platz sieben. Ich zoomte in das Segment "Under the Tennispark north uphill". Es war der Schotterweg von der Isar hoch in Richtung Grünwald. 0,2 Kilometer, 13 Höhenmeter, sechs Prozent Steigung. Schnellster war User Gerald Lederstatter* mit 25 Sekunden. Ich war mit 27 Sekunden als Dritter gelistet. Ich spürte, wie eine Kraft in mir aufstieg, die ich so noch nie gekannt hatte: Ehrgeiz! Echter, hemmungsloser Sportehrgeiz! Da stand ich nun. Ein Ü40-Mann mit Hang zu genussorientierter Lebensweise, dem plötzlich nichts mehr wichtiger erschien, als diesen Gerald Lederstatter vom Thron des Schotterwegs zu stoßen. Ich konnte ja nicht ahnen, was so etwas nach sich zieht.
Es war um die Mittagszeit des folgenden Tages, als ich mit voll ausbelasteten Oberschenkeln den Schotterhügel hochknallte. Die Muskeln brannten, vor Sauerstoffnot wurde mir ganz schwindelig. Ich brauchte Minuten, ehe ich fähig war, aus den Pedalen zu klicken. Fehlanzeige. Mir fehlte eine Sekunde. Hasserfüllt starrte ich auf das Handy-Display. Ich war sehr, sehr enttäuscht von mir.
Jahrzehntelang war ich ein selbstbestimmter Mensch gewesen.
Etwaige Trainingseffekte hatte ich stets mit Naschkram neutralisiert. Die Ergebnislisten bei Marathons hatten mich nie die Bohne interessiert. Doch das war nun vorbei. Die App begann das Ruder zu übernehmen. Es war eine subtile, aber deutlich spürbare Machtübernahme. Ich fing an, die Sattelitenaufnahme des Schotterhügels zu studieren, um den optimalen Antrittspunkt zu finden. Ich las Artikel über Aminosäuren und basenbildende Lebensmittel. Ich grübelte darüber nach, wie viel Watt Tretleistung ich rausholen könnte, wenn ich den Ersatzschlauch im Trikot statt in der 150 Gramm schweren Satteltasche transportieren würde. Ich googelte Gerald Lederstatter und erfuhr, dass er bei der TOUR Transalp mit straffer Kette unterwegs war und das Techno-Gewummere von Firedog mochte. Ich war so fixiert wie ein Olympionike vor dem große Finale.
"Ey, der Typ hat die Bestzeit im Juni aufgestellt. Und ich muss jetzt bei zwei Grad Kälte fahren", sprach ich beim Abendessen. "Super! Baust Du Dich jetzt damit auf, dass es der Typ wärmer hatte?", verdrehte meine Tochter theatralisch die Pupillen. Herrje: Die App hatte mein Körperbewusstsein radikalisiert. Ich war ein vorbildlicher
Biker geworden und gleichzeitig ein peinlicher, platzierungsgeiler Spießbürger. Die App war ein Segen für die Beine, aber ein Folterinstrument für den Kopf. Mein Leben oszillierte zwischen Himmel und Hölle.
Es war ein Sonntag, als ich zu einem erneuten Rekordversuch aufbrach.
Ich hatte sportwissenschaftlich optimal gefrühstückt. Die Atemluft kondensierte, und ich spürte das nervöse Zucken meiner Halsschlagader. Der Stresshormonspiegel schwoll mit jeder Kurbelumdrehung mehr an. Adrenalin, Testosteron, dieses ganze körpereigene Aufputsch-Zeug. Wäre Videokünstler Chris Cunningham mit der Verfilmung der Szene beauftragt worden, hätte er links und rechts von mir fauchende Feuerfontänen aus der Erde ploppen lassen, unterlegt von düsterem Death-Metal-Sound. Ich stampfte auf die Pedale wie ein testosterongesteuerter Ork. Mein ganzer Organismus war in Wallung. Du meine Güte, was hat sich das Universum bei der Programmierung des Mannes nur gedacht?, ratterte es mir durch den Kopf. Dann jagte ich zornig all meine Energie in die Kurbeln. Blutgeschmack schoss in den Mund, der Schmerz in den Oberschenkeln war kaum zu ertragen. "KOM", blinkte es auf dem Display auf – King of the Mountain! Ein pures, knisterndes Gefühl von Glück ergoss sich in jeden Winkel meines Körpers. Fast schon empörend, dass kein Vertreter der internationalen Presse anwesend war. Die Frage war: Und jetzt? Als Segment-Nomade Abschnitt für Abschnitt erobern? Nur noch für die Waden leben? Die einzige nicht erogene Zone des menschlichen Körpers?
Drei Wochen, nachdem ich Strava heruntergeladen hatte, löschte ich die App vom Handy. Ein Moment, so befreiend und wonnig, wie ein Feierabendbier nach einem harten Arbeitstag.
Die Strava-App ist in Sekundenschnelle auf das Smartphone geladen. Doch bevor man den Startknopf drückt, sollte man einige Dinge wissen.
Die Grundversion von Strava ist gratis und reicht für die meisten Biker völlig aus. Sie zeichnet Touren auf, inklusive aller relevanten Daten sowie der dazugehörigen Höhenprofile und Bewegungsbilder. Die Abo-Mitgliedschaft für Strava kostet im Jahres-Abo ca. 60 Euro und bietet zahlreiche Extras wie beispielsweise gefilterte Bestenlisten (z. B. nach Körpergewicht), Tourenplanungs-Funktionen oder noch detailliertere Leistungsanalysen.
Die Trainingsdaten erstellt Strava auf Grundlage von GPS-Signalen. Das funktioniert in den meisten Fällen gut, Höhenmeter werden aber oft ungenauer gemessen als mit barometrischen Geräten. Die GPS-Funktion saugt das Smartphone ziemlich schnell leer. Bei den Bestenlisten setzt Strava auf die Selbstkontrolle der Mitglieder. Verdächtige Zeiten können angezweifelt und gemeldet werden.
Mit Strava wird man zum gläsernen Menschen. Jeder kann sehen, welche Touren man fährt. In England soll es sogar zu Einbrüchen in Bike-Keller gekommen sein, weil Diebe auf Strava die Adressen von Radsportlern ausspioniert hatten. Mit der Einstellung "Privatsphäre" bleibt der Wohnort und die Büro-Adresse verborgen.
Strava animiert zum Rasen. In den USA starb ein Radfahrer bei einem Unfall, weil er eine Bestzeit knacken wollte. Die Eltern verklagten Strava, doch die Richter urteilten: Jeder muss Gefahren selbst beurteilen können und sich auch trotz App an Verkehrsregeln halten.
1,6 Billionen So viele Kilometer wurden alleine in den letzten zwölf Monaten von Strava-Nutzern hochgeladen. Weltweit sind mehrere Millionen Biker angemeldet. Die genauen Zahlen der Nutzer hält Strava aber geheim.
60 % Mehr als die Hälfte der Strava-Nutzer sind Radfahrer, 30 Prozent sind Läufer, weitere 10 Prozent entfallen auf andere Sportarten.
Hunderttausend Jeden Monat kommen rund 100000 neue Nutzer hinzu. 70 Prozent der Strava-Kunden leben außerhalb der USA. Das Unternehmen hat 90 Mitarbeiter.
47.282 Biker nahmen an der Climbing Challenge teil. Der Sieger sammelte dabei innerhalb von 20 Tagen 68.413 Höhenmeter.