Erste Hilfe bei Fahrradunfällen“Der größte Fehler ist, nix zu tun!”

Dimitri Lehner

 · 14.04.2023

Erste Hilfe bei Fahrradunfällen: “Der größte Fehler ist, nix zu tun!”Foto: privat
Hat eine Menge gesehen: Flugretter Thomas Widerin aus Seefeld in Tirol.

Fahrradunfälle kommen leider immer wieder vor - und Erste Hilfe muss geleistet werden. Unser Experte Thomas Widerin ist Flugretter. Der Tiroler spricht mit uns über bewusstlose Biker, übereilte Notrufe, Einsätze im Bikepark, Stürze auf den Kopf und Sensoren-Helme.

BIKE: Thomas, du hast auf 2500 Heli-Einsätzen ’ne Menge gesehen. Was läuft bei Fahrradunfällen falsch?

Thomas Widerin: Leute wollen helfen, schauen sich die Situation aber nicht an, sondern setzen gleich einen Notruf ab. Die Folge: Sie können keine Auskünfte geben, was genau passiert ist. Doch die Helfer in den Rettungsleitstellen brauchen Informationen.

Was gibt es beim Notruf zu beachten?

Die Rettungsleitstelle muss den exakten Ort wissen und eine Beschreibung der Situation. In dem Moment, wenn der Leitstellendisponent exakt informiert ist, hast du gewonnen. Denn dann kriegst du Anweisungen per Telefon, was als nächstes zu tun ist.

Im Bikepark ist leichter festzustellen, wo ich bin, dafür sind die Unfälle mit dem Bike heftiger. Was muss ich als Erste Hilfe tun, wenn ein Biker nach dem Sturz ohnmächtig liegen bleibt?

Auch hier: Zuerst feststellen, was passiert ist. Ist der Biker tatsächlich bewusstlos, also: keine Reaktion auf Ansprechen und Berühren, aber der Verletzte atmet noch. In diesem Fall gibt es vorerst nur eine wichtige Maßnahme: Du musst die bewusstlose Person in die stabile Seitenlage drehen! Das ist die erste lebensrettende Maßnahme. Erst dann setzt du den Notruf ab.


Erste Hilfe für das Mountainbike bieten kleine Pannenhelfer:


Was kann passieren – ohne die richtige Erste Hilfe – bei einer Person ohne Bewusstsein?

Wenn ein Bewusstloser auf dem Rücken liegen bleibt, besteht Erstickungsgefahr. Denn die Zunge fällt zurück. Oder Erbrochenes kann in die Luftröhre gelangen. Fazit: Unabhängig von der Verletzung, kann man an der Bewusstlosigkeit sterben. Daher ist die Seitenlage ein Muss.

Man hört immer wieder, dass man bei der Ersten Hilfe auch den Verletzten schaden kann - etwa beim Helmabnehmen: Soll der Helm aufbleiben oder ab?

Wenn der Bewusstlose einen Vollvisierhelm trägt, muss du den Helm abnehmen. Immer wieder kommt es vor, dass Ersthelfer den Helm deshalb nicht abnehmen, weil sie Angst haben, die Wirbelsäule zu verletzten. Der Bewusstlose kann jedoch an seinem Erbrochenem ersticken, das sich im Vollvisierhelm sammelt.

Was gibt’s beim Helmabnehmen zu beachten?

Wenn möglich, sollen zwei Personen den Helm abnehmen. Einer stabilisiert den Hals, der andere zieht den Helm vorsichtig in Längsrichtung vom Kopf. Beim Freeriden sind meist mehrere unterwegs, daher sollte das kein Problem sein.

Wann muss ich nach einem Sturz auf den Kopf zum Arzt?

Bei deutlichen Wunden, nach Bewusstlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Orientierungslosigkeit und ähnlichen Auffälligkeiten musst du sofort ins Krankenhaus. Nur dort kann genau überprüft werden, ob etwa beim Anprall ein Blutgefäß im Kopf geplatzt ist. Es ist schon vorgekommen, dass solche Leute einige Stunden später an einer Hirnblutung gestorben sind. Hast du dagegen nur kleinere Wunden oder Schürfungen und keinerlei besonderen Auffälligkeiten, kannst du weiter fahren.

Viele haben Angst bei der Ersten Hilfe vor der Herzdruck-Massage, weil sie auch hier was falsch machen könnten.

Die Angst ist komplett unbegründet. Viele Studien haben gezeigt: Du kannst bei der Wiederbelebung, überhaupt nichts falsch machen. Ich habe viele Wiederbelebungen erlebt und kann mich an keinen Fall erinnern, dass der Ersthelfer einem Patienten geschadet hat. Das Einzige, was man falsch machen kann, ist nix zu machen.

Wann muss ich die Herzdruck-Massage anwenden?

Ab dem Zeitpunkt, wenn du feststellst, dass eine Person nicht mehr atmet. Dann musst du mit der Wiederbelebung beginnen. 30 Mal Herzdruck-Massage, dann zwei Mal beatmen. Wenn sich jemand eine Beatmung nicht zutraut oder hygienische Bedenken hat, dann genügt die Herzdruck-Massage. Diese muss rasch und kräftig erfolgen. Über den Patienten knien und mit gestreckten Armen und übereinander gelegten Händen in der Mitte des Brustkorbes rasch und kräftig drücken. Studien haben ergeben, dass nahezu alle Ersthelfer zu wenig machen, sie drücken also zu langsam oder zu wenig tief.

Fliegst du oft zum Einsatz in den Bike-Park?

Im Sommer vergeht nahezu kein Tag, ohne dass wir in einen Bikepark fliegen. Unfälle enden dort oft mit schwereren Verletzungen. Für den Ersthelfer im Bikepark besonders wichtig: Trail sofort absperren, genügend weit vor der Unfallstelle, damit kein Folgeunfall passiert. Mein Tipp: sofort einen weiteren Helfer herbei rufen und die Arbeiten aufteilen: Ein Helfer bleibt beim Verletzten und führt die Erstversorgung durch. Der zweite Helfer kümmert sich um die Absperrung und um den Notruf!

Wer muss den Heli-Einsatz bezahlen?

Hinsichtlich Kosten gibt es europaweit ähnliche Regelungen: Nur Sport- und Freizeitunfälle sind kostenpflichtig. Der klassische Fall: Sturz im Bikepark. Da muss also der Verunfallte den Einsatz bezahlen, und der kostet im Durchschnitt zwischen 3000 und 4000 Euro. Doch 90 Prozent der Outdoor-Sportler haben irgendeine Versicherung, die das abdeckt. Ob z. B. durch die Kreditkarte oder die Mitgliedschaft im Alpenverein. Mein Tipp: Checke, ob du so eine Versicherung hast, denn im Notfall hast du keinen Einfluss drauf, ob ein Heli gerufen wird. Das entscheidet die Rettungsleitstelle.

Welche Tipps hast du zur Schutzausrüstung beim Mountainbiken?

Unbedingt den passenden Helm tragen. Es ist erstaunlich wie viele schwere Kopfverletzungen entstehen, weil Hobby-Biker keinen Helm tragen. Das wird einem ambitionierten Freerider nicht passieren. Für die gilt: in rauem Gelände – Vollvisierhelm! Auch bei Stürzen, die brutal ausgesehen haben, passiert oft nur wenig, wenn der Biker die komplette Schutzausrüstung trug. Umgekehrt wurden wir zu Unfällen gerufen, die zahm aussahen, doch schlimme Folgen hatten, weil der Biker keinerlei Schutzausrüstung getragen hat. Wir von den Rettungsinsitutionen befürworten alles, was schützt. Auch z. B. Neckbraces, selbst wenn es darüber noch wenig Informationen gibt. Denn alles was den Nacken und die Wirbelsäule unterstützt, ist empfehlenswert.

Glücklicherweise sind nicht alle Fahrradunfälle so gravierend und es braucht Erste Hilfe. Oft sind es nur Prellungen. Da wird die Regel PECH (Pause, Eis, Kompression, Hochlegen) empfohlen. Was sagst du dazu?

So ist es. Prellungen tun weh und es dauert, bis man wieder einsatzfähig ist. Mit der PECH-Maßnahme kann ich die Heilung beschleunigen. Mache ich nichts, verlängert sich die Phase der Genesung. Tipp: Daran denken, dass man Eis nicht direkt auf die Haut legen sollte. Zum Arzt sollte ich immer dann, wenn ich z. B. nicht mehr auftreten kann oder der Arm oder das Bein anfangen zu kribbeln. Es passiert nämlich oft, dass die Leute erst viel später merken, dass sie sich z. B. das Handgelenk gebrochen haben. Dabei sind sie nach dem Sturz noch weitergefahren. Mein Tipp: Ist die Bewegung stark eingeschränkt oder hat man heftige Schmerzen, besser klinisch abklären!

Wie sind die modernen Sturz-Melder, wie Angi oder Tocsen, einzuschätzen?

Ist jemand alleine unterwegs, stürzt, hat einen Anprall und das System meldet, ist das natürlich eine super Sache. Doch laut Aussagen diverser Rettungsleitstellen sind bis zu 50 Prozent der Meldungen Fehlalarme. Die werden z. B. ausgelöst, weil der Biker seinen Helm unsachgemäß verwendet, diesen runterfallen ließ oder ins Auto geworfen hat. Daher: sorgsamer Umgang mit dem Sensor-Helm!

Buchtipp: Wer mehr wissen will, findet hier die wichtigsten Erste-Hilfe-Maßnahmen von Flugretter Thomas Widerin. Preis: 16,90 €, delius-klasing.de
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