Florentin Vesenbeckh
· 06.12.2022
Was im PKW längst Alltag ist, will Shimano nun auch aufs Mountainbike übertragen: das automatische Schalten. Kann Auto-Shift im Geländesport wirklich funktionieren? Und was bringt die neue Shimano XT Di2 noch? EMTB konnte das brandneue Elektro-Flaggschiff bereits ausprobieren.
Ghost-Shifting ist ein negativ besetzter Begriff. Er bezeichnet ungewollte Schaltvorgänge durch falsch eingestellte oder abgenutzte Komponenten. Gangwechsel ohne die Betätigung eines Hebels könnten allerdings schon bald zum guten Ton unter E-Mountainbikes gehören. Das möchte zumindest Komponentenriese Shimano. Denn mit Auto-Shift, der Highlight-Funktion der neuen XT-Di2-Gruppe, soll das Bike vollautomatisch schalten. Anhand von Geschwindigkeits-, Trittfrequenz- und Drehmomentänderungen soll das System die Gangwechsel selbstständig erledigen. Der Schalthebel muss theoretisch nicht mehr angefasst werden. Möglich macht das die Kombination aus E-Motor und E-Schaltung. Damit das System die persönlichen Präferenzen in Sachen Tretgeschwindigkeit berücksichtigt, können Biker zwei an der Di2-Schaltung verschiedene Automatik-Modi über die E-Tube-App einstellen. So passt man die gewünschte Trittfrequenz, die Reaktionsfreudigkeit und ein Anfahrgang auf den persönlichen Bedarf an. Aber funktioniert die Automatik in der Praxis wirklich? Wir haben die neue elektronische Di2-Schaltung ausprobiert.
Grundvoraussetzung für die neuen Funktionen ist die Kommunikation zwischen Schaltung und Motor. Die neue Shimano Di2 funktioniert daher ausschließlich mit der neuesten Generation des Steps-Systems, dem EP801 und dem EP6, die Shimano kurz vor der Eurobike 2022 vorgestellt hat. Die größte Neuerung bei dieser Generation ist die neue Elektronik mit CAN-Port. Der bisherige EP8-Antrieb funktioniert daher nicht mit der neuen XT Di2. Für unseren ersten Fahreindruck stand uns ein Bulls Sonic EVO EN-SL des Jahrganges 2023 zur Verfügung. Mit an Bord der neue EP801, die XT Di2 und die robusten Linkglide-Komponenten (Kette und Kassette). Die Wahl von Kette und Kassette ist bei der elektonischen Di2 Schaltung übrigens entscheidend. Denn nur mit Linkglide funktionieren die vollständigen Autoshift-Funktionen. Gänzlich neu sind die Linkglide-Verschleißteile zwar nicht. Doch bisher wurden sie an sportlichen E-MTBs nicht verbaut. Mit der neuen Di2 und dem Modelljahr 2023 wird sich das allerdings ändern, wie unser Testbike zeigt.
Mit den Ketten und Kassetten mit Linkglide-Technologie bringt Shimano robuste Komponenten, die explizit auf die höheren Belastungen an E-Bikes ausgelegt sind. Das bekannte Pendant dazu ist die sportlicher ausgelegte Hyperglide-Technologie. Statt 12 (Hyperglide) bietet Linkglide nur noch 11 Gänge. Diese 11-fach-Kassette setzt auf dickere Ritzel und eine Abstufung von 11 bis 50 Zähnen (statt 10 bis 51 bei den bekannten 12fach-Hyperglide-Kassetten).
Die robustere Konstruktion soll die Haltbarkeit drastisch erhöhen. Außerdem wurden die Schalthilfen der Ritzel so angepasst, dass die Gangwechsel schonender, aber dafür nicht mehr so zackig vonstatten gehen. Das soll die Kräfte auf Kette und Kassette deutlich reduzieren und das ist vermutlich auch der Grund, warum Autoshift nur mit diesen Parts kombiniert werden kann. Grundsätzlich können E-Biker und Hersteller also künftig zwischen der haltbaren 11-fach-Linkglide und der bekannten, schnelleren Hyperglide mit zwölf Gängen wählen. Wer sich die Beschreibung der Linkglide-Technologie durchliest, kann den Eindruck bekommen, dass die langsamere und schonendere Technologie für sportliche Bike-Einsätze nicht geeignet ist. Doch nach unserem ersten Test können wir Entwarnung geben. Die Gangwechsel sind auch für rassige Trail-Fahrten und Uphills schnell genug.
Motor und Schaltung an unserem Testbike, dem Bulls Sonic EVO EN-SL, waren für unsere exklusive Vor-Premiere noch nicht im endgültigen Serienzustand. Doch von den neuen Grundfunktionen der Shimano XT Di2 Schaltung konnten wir uns schon ein ausführliches Bild machen. Der erste Aha-Effekt geht gänzlich unspektakulär vonstatten, und zwar im manuellen Modus: Aufsteigen, Losrollen, Schalten – und auf Anhieb sitzen die gewünschten Gänge. So selbstverständlich, wie das klingt, ist das gar nicht. Denn Hebelergonomie und Schaltlogik anderer Elektro-Schaltungen unterscheiden sich deutlich von den mechanischen Pendants. Sowohl beim Di2-Vorgänger als auch bei der Sram AXS ist eine Gewöhnung an die Bedienung nötig. Nicht so bei der neuen Shimano XT Di2. Die Hebel sind sehr ähnlich platziert wie Mountainbiker es seit Jahren von mechanischen Schaltungen kennen. Umgewöhnung? Braucht es nicht! Einzig die Zwei-Wege-Bedienung mit dem Zeigefinger entfällt.
Der Druck mit dem Daumen auf den zwei Hebeln ist definiert und landet vom Charakter zwischen dem superdirekten, elektronischen Klick einer Sram AXS und dem mechanischen Gefühl der Vorgänger-Di2. Der gewählte Gang wird im Steps-Display angezeigt. Die Schaltvorgänge sind knackig, gehen aber eine Nuance langsamer über die Bühne als bei einer Sram AXS. Das würden wir allerdings eher auf die Linkglide-Kette und -Kassette schieben als auf die Di2-Komponenten. Doch selbst mit den auf Haltbarkeit getrimmten Linkglide-Verschleißteilen ist das Schalten auch für sportlichste E-MTB-Einsätze und knifflige Uphills absolut schnell genug. Doch was können die revolutionären Automatik-Funktionen?
Wer kennt es nicht: Im Auf und Ab eines welligen Trails rauscht man auf einen steilen Gegenanstieg zu. Keine Chance, jetzt noch in die Pedale zu treten, um den richtigen Gang einzulegen. Mit Free-Shift reicht ein Druck auf den Di2-Hebel, und der Motor lässt den Antriebsstrang auch ohne Pedalumdrehung rotieren. Solange das Bike rollt, ermöglicht das Gangwechsel, ohne zu treten. In der Praxis funktioniert Free-Shift einwandfrei, wenn auch die Schaltvorgänge etwas länger dauern als aus dem Pedalbetrieb gewohnt. Allerdings: Free-Shift hat seine logischen Grenzen. Die Kassette kann sich nur so schnell drehen wie das Laufrad. Bei sehr langsamem Rollen benötigen die Gangwechsel also deutlich länger. Blockiert das Hinterrad beim Bremsen, schaltet das Shimano Di2 System nicht. Im Stillstand ist Schalten ebenfalls nicht möglich.
Der Automatikmodus ist die revolutionärste Neuerung der elektronischen Shimano Di2 Schaltung. Damit man sich mit dem System wohlfühlt, ist eine Einstellung mit der App aber nahezu unumgänglich. Im ersten Schritt muss die gewünschte Trittfrequenz ausgewählt werden, an der sich die gesamte Regelung orientiert. Und hier sind die Geschmäcker verschieden. Wer mit einem unpassenden Wert startet, wird mit Autoshift nicht glücklich, weil er gefühlt strampelt wie im Hamsterrad oder unangenehm dicke Gänge knetet. In der App können zwei Automatik-Modi programmiert werden. Ein zusätzlicher Knopf am Schalthebel ermöglicht die Auswahl einer dieser beiden Modi und auch den Wechsel zum manuellen Schalten.
In der Praxis fühlt sich Auto-Shift erst mal ungewohnt an, da die Gangwechsel unvorbereitet ablaufen. Nicht immer passt die Trittfrequenz exakt zu den eigenen Vorstellungen. Doch lässt man sich auf die Automatik ein, erledigt sie auch im Gelände die Schaltvorgänge erstaunlich zuverlässig. Eine Runde Isar-Trails, ohne den Schalthebel zu berühren? Das klappt überraschend gut. Echten Mehrwert liefert Auto-Shift dabei auf flachen Trails oder in Downhills. Denn beim Abbremsen legt die Di2 im Rollen den passenden Gang ein, dank Free-Shift. So muss man sich beim Antreten nach Kurven oder in schnellen Abfahrten weniger Gedanken über den passenden Gang machen. Insbesondere weniger versierte Biker, denen das Schalten in anspruchsvollen Passagen zusätzlichen Stress bereitet, können profitieren. Denn ihnen bleibt mehr Kapazität, um sich auf das Gelände zu konzentrieren.
In einigen Fällen fühlte sich unser Vorserien-System allerdings noch etwas unausgereift an: Nicht immer erkennt die Elektronik Situationen schnell genug. Zum Beispiel: Wechselten sich Abfahrten, enge Kurven und Uphills in schneller Folge ab, landeten wir trotz Automatik ab und zu im zu dicken Gang und mussten manuell nachsteuern. Auch Piloten, die eine eher aggressive Fahrweise pflegen, werden ihr Geschick nicht gänzlich dem Automatik-Modus überlassen. Kurzes, hartes Anbremsen vor Kurven, mit Schlupf am Hinterrad, und anschließend kerniges Antreten - da kommt die Schaltautomatik nicht schnell genug mit. Das Gute: Auch im Automatik-Modus kann man immer manuell schalten und der Di2 damit auf die Sprünge helfen.
Auf Drehmomentänderungen und Antritte reagierte die Automatik in einigen Situationen ebenfalls unpassend. Beispiel: Geht man im Uphill einfach mal in den Wegetritt, um zu beschleunigen, will man dazu nicht unbedingt den Gang wechseln. Die Schaltautomatik aber schaltet aufgrund des höheren Fahrerinputs in einen leichteren Gang. Über die Einstellung der Reaktionsfreudigkeit in der App kann man diesen Effekt beeinflussen, allerdings reagiert die Automatik dann auch in Fahrsituationen träger, in denen das nicht gewünscht ist.
In anspruchsvollen Uphills kann es besonders kniffelig werden. Hier nimmt Auto-Shift keine Rücksicht auf die Fahrsituation und schaltet zum Beispiel mitten im Antritt vor einer Stufe oder beim Pedalieren in Kurven. Das stört den Fahrfluss. Erfahrene Biker wählen mit einer manuellen Schaltung den passenden Gang bereits vor der Einfahrt in die Schlüsselstelle, dieses Vorausschauen hat Auto-Shift logischerweise nicht drauf. Tipp: In der App kann die Automatik so programmiert werden, dass die Di2 Schaltung im Rollen selbstständig agiert (Freeshift), im Pedalierbetrieb aber der Fahrer manuell schaltet. So können versierte Biker aus unserer Sicht das meiste aus den Automatik-Funktionen herausholen. Übrigens: Autoshift während dem Rollen soll auch mit den Hyperglide-Verschleißteilen und damit 12-fach-Systemen funktionieren, da hier die Kräfte geringer sind, als bei vollem Fahrer- und Motorschub.
Auf den ersten Blick mag es enttäuschen, dass Shimanos Elektro-Schaltung nicht kabellos über Funk kommuniziert. Doch funktional kann die neue Di2 überzeugen, insbesondere die Ergonomie gefällt. Dass eine Automatikschaltung im Gelände funktionieren kann, konnten wir uns vorab kaum vorstellen. Doch Auto-Shift macht einen erstaunlich guten Job. Insbesondere weniger versierten Bikern kann das System auf dem Trail helfen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Um auch im Extremeinsatz zu brillieren, muss die Automatik aber noch deutlich zulegen. Wir sind gespannt, ob das Serienprodukt in Sachen Präzision und Geschwindigkeit noch eine Schippe drauflegen kann. Super: Die robuste Linkglide-Kette und Kassette schalten auch für sportlichste E-MTB-Einsätze knackig genug und könnten die Lebensdauer des Antriebs deutlich verbessern. Wir sind auf Langzeiterfahrungen und Verschleißtests gespannt!