Ludwig Döhl
· 26.07.2021
Die Olympischen Spiele in Tokio markieren das Highlight der 2021er-Mountainbike-Saison – und sie demonstrieren auch, welches Potenzial im Sport steckt.
Thomas Pidcock gewinnt nach 1:25.14 Stunden das olympische Mountainbike-Rennen und holt Gold für Großbritannien. Silber geht an Mathias Flückiger aus der Schweiz, Bronze an den Spanier David Valero. Schurter landet auf Rang vier. Die formalen Rennergebnisse der Herren lassen sich schnell und nüchtern verkünden – lesen Sie dazu auch unseren ausführlichen Rennbericht.
Der Tragweite des olympischen MTB-Rennens wird man damit aber nicht annähernd gerecht. Denn der Olympia-Wettbewerb der Herren in Tokio 2021 hat eindrucksvoll bewiesen, welch steile Entwicklungskurve der Cross-Country-Sport in den vergangenen Jahren hingelegt hat.
Die Kombination aus steilen, selektiven Anstiegen, schnellen, rhythmischen Passagen, durchweg technischen Abfahrten und spektakulären Schlüsselstellen machten das olympische Rennen in Tokio wohl zum mitreißendsten Mountainbike-Rennen, welches je in einem Livestream übertragen wurde.
Die Strecken-Designer haben eine grandiose Arbeit abgeliefert, um dem Sport die Plattform zu geben, die ihm auch gebührt. Die vielen stationären Kameras an den felsigen Abfahrten und Sprüngen haben die Härte des Kurses so eingefangen, dass es einem selbst vor dem heimischen Fernseher einen Adrenalinstoß versetzte, wenn die Favoriten sich in die waghalsigen Passagen stürzten.
Im Gegensatz zur Worldcup-Strecke in Leogang wirkten die Fahrer in den Abfahrten und Schlüsselstellen durch ein gewisses Grundtempo aber stets ästhetisch. So muss Mountainbiken aussehen, wenn es die Massen begeistern soll! Die immer wieder eingestreuten Bilder aus dem Helikopter lieferten zudem einen ganzheitlichen Überblick über das Renngeschehen.
Lediglich die Regie lieferte eine Angriffsfläche zur Kritik. Denn weder die entscheidende Attacke von Pidcock gegen Flückiger noch Valeros Attacke in der letzten Runde gegen Schurter waren in der Live-Übertragung zu sehen. Ein kleiner Wermutstropfen, wenn man bedenkt, welche Euphorie die restlichen Bilder der TV-Übertragung weltweit ausgeübt haben dürften.
Es hat sechs Olympische Spiele gebraucht (Atlanta 1996; Sydney 2000, Athen 2004, Peking 2008, London 2012, Rio 2016, Tokio 2021), um den Cross-Country-Sport zu dem zu formen, was er heute repräsentiert. Ein vielseitiges, spannendes und mitreisendes Format, welches sich ohne Zweifel als Königsdisziplin des Radsports bezeichnen darf.
Neben der gelungenen Strecke und den spektakulären Bildern waren natürlich auch die sportlichen Dramen auf menschlicher Ebene wie gemacht, um die Fans zu begeistern. Medienstar Mathieu van der Poel bewies echten Sportgeist, als er sich nach einem spektakulären Sturz in der ersten Runde von der letzten Position wieder ins Mittelfeld kämpfte.
Selbst den ansonsten eher nüchternen ZDF-Kommentator ergriff kurz das Mitleid, als van der Poel letztendlich doch aufgrund einer Verletzung das Rennen beenden musste. Der Ausdruck von Ondrej Cinks Enttäuschung, als er auf Position drei liegend einen Platten fuhr und damit aus dem Rennen ausschied, war herzzerreißender als die schnulzigsten Szenen der Titanic-Verfilmung.
Als der Viertplatzierte Nino Schurter dem 21-jährigen Thomas Pidcock nach dem Rennen zum Sieg gratulierte, glich das fast schon einer symbolischen Handlung. Es war, als würde der regierende König Schurter mit 35 Jahren das Zepter an die nächste Generation von jungen Sportlern weiterreichen. Mit seinem attraktiven Fahrstil und sportlich fairen Höchstleistungen hat Schurter den Sport in den letzten Jahren geprägt wie kaum ein anderer.
Es ist die Kombination aus einer exzellenten Strecke, einer gelungenen Übertragung, hervorragenden sportlichen Leistungen und menschlichen Dramen, die das olympische Rennen von Tokio zum Meilenstein in der Mountainbike-Geschichte gemacht haben. Denn erstmals wurde durch eine Live-Übertragung eines Cross-Country-Rennens das volle Potenzial des Sports deutlich. So lässt sich der Sport medientechnisch vermarkten.
Dass der Rennsport ausgerechnet jetzt dieses Entwicklungsstadium erreicht, wo sich die ganze Welt pandemiebedingt neue Mountainbikes gekauft hat, ist eine glückliche Fügung. Denn jeder, der das Rennen am Montagmorgen um 08:00 Uhr gesehen hat, wird nach Feierabend mit umso mehr Begeisterung selbst aufs Bike steigen. Während sich der Rennsport von seiner besten Seite präsentiert, dringt der Bike-Sport als Ganzes immer weiter in die Mitte der Gesellschaft vor. Ich bin mir sicher: Dem Mountainbike-Sport steht eine glorreiche Zukunft bevor.