Jan Timmermann
· 25.11.2022
Blut, Schweiß, Tränen und im Ziel ein unvergleichliches Gefühl von Triumph: Marathons sind die Heldenschmieden der Bike-Szene. Auf dem Weg zum Helden liegen aber auch Zweifel und Rückschläge. Wir wollten vom sportpsychologischen Experten Paul Schlütter wissen: Warum tun sich jedes Jahr tausende Biker Ausdauer-Rennen an?
In diesem Artikel finden Sie weiter unten ein Interview mit Sportpsychologe Paul Schlütter.
Atemnot, Muskelschmerz und manchmal Verzweiflung - für Außenstehende ist es alles andere als leicht zu verstehen, was Mountainbiker dazu treibt an einem MTB-Marathon-Rennen oder MTB-Etappenrennen teilzunehmen. Hinter der Faszination stecken eigenartige Tricks der Psyche und biologische Ur-Instinkte. Auf der Erlebnisebene lässt sich die Marathon-Erfahrung in sechs Phasen einteilen.
Die Aufregung startet bereits beim Klick auf den Anmelde-Button für den Marathon. Das ist der Startschuss zu einem oft monatelangen Projekt, das manchmal mit einer Recherche beginnt, manchmal mit einer Schnapsidee. Je näher der Startschuss rückt, desto heißer brennt das Lampenfieber. Trotz letzter Lockerungsübungen zieht sich am Morgen des Rennens der Körper zusammen und das Herz wummert. In der Startaufstellung des Rennen wird klar: Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Den ersten Antritt begleiten schwitzige Hände.
Als Gruppe rollt das Fahrerfeld ins Rennen. Prüfende Blicke scannen Form und Material. Ein Marathon macht alle gleich. Alle müssen über dieselben Berge, alle sehen nach einer Schlammdusche gleich (gut) aus. Doch die Gemeinschaft teilt mehr, als die Strecke. Es ist geteilte Leidenschaft und geteiltes Leiden. Beim Blick in das Gesicht des Nebenmannes ist dasselbe Erlebnis zu erkennen, das der eigene Kopf gerade durchmacht – egal, ob an der fiesen Rampe oder unter dem Zielbogen.
Vom Start weg geht es eng zu. Das Tempo beim Marathon ist hoch, jeder kämpft um ein bisschen Raum. Die Stresshormone übertünchen im Wiegetritt den Schmerz in den Beinen und boosten die Leistung. Der Ehrgeiz flammt auf und die erhöhte Alarmbereitschaft setzt bislang ungekannte Energiereserven frei. In der Trailabfahrt dann: Tunnelblick. Jetzt muss die Fahrtechnik sitzen. Das Gehirn befindet sich im Zustand höchster Konzentration und jeder Muskel steht unter Spannung. Wenn der vom Adrenalin geflutete Körper mit dem Bike zu einer Einheit verschmilzt, werden alle anderen Emotionen ausgeblendet.
Egal, ob dichter Wald im Mittelgebirge oder schroffe Felswände im alpinen Gelände: Die Landschaft bietet dem Kopf Zerstreuung von den Anstrengungen des Marathons. Das Rot des Sonnenaufgangs und ein atemberaubendes Panorama bilden die Kulisse für das große Kino Marathon. Mit dem Mountainbike für mehrere Stunden über die Berge zu treten ist für die meisten außeralltäglich. Nur eine dünne Lage Stoff überspannt den auf Hochtouren laufenden Körper beim Rennen durch die Natur. Immer wieder steht die Idylle im harten Kontrast zur physischen Quälerei und generiert so Erlebnisse, die für immer bleiben.
Zweifel äußern sich beim Ausdauerrennen am stärksten in Selbstfragen. Habe ich das richtige Material gewählt? Wird mein Training ausreichen? Wenn sich der Körper anfühlt wie ein alter Ballon, aus dem alle Luft herausgeschrumpelt ist, nimmt ihn die Psyche zusätzlich in den Schwitzkasten. Knappe Karenzzeiten, Hunger und übersäuerte Muskeln sind Garanten für einen bitteren Emotions-Cocktail. Der Blick aufs Höhenprofil, einsetzender Regen und schnellere Mitfahrer höhlen das Selbstbewusstsein beim Marathon stetig aus. Nicht selten versetzt ein kleiner Sturz oder ein Defekt der angeschlagenen Motivation dann den Todesstoß. Wer die Herausforderung Marathon meistern will, muss es mithilfe kleiner Tricks schaffen, das Stakkato aus Sorgen zu überwinden.
Die letzten Meter durch den Zielbogen scheinen wie aus einem Traum. Das Überfahren dieser Linie ist ein Sieg. Mitstreiter und Familien jubeln zusammen mit Wildfremden und fallen sich um den Hals. Dann sickert langsam ins Bewusstsein, dass man geschafft hat, worüber man sich nicht sicher war. Die Anspannung fällt ab und weicht einer aufregenden Mischung aus Glücksgefühlen und Ungläubigkeit. Das Ziel ist erreicht, das Projekt abgeschlossen, die Heldengeschichte geschrieben. Wer wissen will, wie sich völlige Verausgabung und Euphorie gleichzeitig anfühlen, der muss einen Marathon fahren.
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Paul Schlütter ist Verbandspsychologe beim Bund Deutscher Radfahrer. Uns erklärt der sportpsychologische Experte, was bei einem Marathon in Kopf und Körper vor sich geht.
BIKE: Die Herausforderungen eines Marathons wirken auf Außenstehende erstmal ziemlich abschreckend. Warum tun sich Menschen so etwas trotzdem an?
Paul Schlütter: Eine der offensichtlichsten Motivationen ist es, die Grenzen des eigenen Körpers auszulasten. Menschen lieben das! Sie wollen sich und anderen beweisen, dass sie die Voraussetzungen haben, einen Marathon zu überstehen. Ab einem gewissen Niveau ist ein Mountainbike Marathon ein einziger Willenskampf, in dem sich Sportler ihrem Selbst in ehrlicher Art und Weise stellen können. Das ist ein Erlebnis, das es woanders nur sehr selten gibt.
Welche Momente erzeugen während eines Mountainbike Marathons Gänsehaut und was macht das mit den Sportlern?
Nicht nur externe Stimuli, wie Kälte, sondern auch interne Zustände können körperliche Signale zur Folge haben. Die Wahrnehmung dieser Erregung variiert von Person zu Person. Am Start eines Marathons kann Gänsehaut die Reaktion auf starke Emotionen sein. Auslöser sind oft schöne Momente, wie die Anwesenheit von Freunden und Familie. Wenn die Haare im Nacken hochstehen, handelt es sich manchmal aber auch um eine Schockreaktion oder die Folge eines Druckempfindens. Der Körper fährt seine Grundaktivierung hoch und bereitet sich auf die bevorstehende Aufgabe vor. Grundsätzlich ist diese Hochregulierung der verfügbaren Ressourcen ein positives Signal. Wenn der Körper im Rennen nach dem Ende der Belastung schreit, kann das Überwinden der körperlichen Signale ein sehr erfüllendes Gefühl sein. Gerade im Kontext von Selbstoptimierungsprozessen führt die Überwindung der Herausforderungen im Marathon zu starker positiver Freude.
In welchen Momenten eines Bike-Marathons ist das Gemeinschaftsgefühl am stärksten?
Schon in der Vorbereitung auf einen bestimmten Wettkampf kann es – oft verstärkt durch soziale Medien – zu Gemeinschaftsgefühlen kommen. Besonders stark sind diese Emotionen in der großen Gruppe am Start eines Marathons. An der Startlinie steht meist ein im wahrsten Sinne bunter Haufen. Jeder fährt für sich und doch alle zusammen. Man unterstützt sich, zieht andere mit und wird mitgezogen. Dieses Erlebnis schweißt zusammen und ist die Geburtsstunde so mancher Biker-Freundschaft. Das Fahrerfeld hat eine große Bandbreite an unterschiedlicher Vorbereitung und doch ein ähnliches Ziel. Auch, wenn jeder Teilnehmer andere Ressourcen zu einem Marathon mitbringt, eint alle die Herausforderung. Das ist etwas grundlegend anderes, als wenn man in einem Boxring aufeinander einprügelt. Der Gedanke an die gemeinsame Aufgabe lässt den Marathon-Teilnehmer im Hier und Jetzt ankommen. Solche Momente sind Höhepunkte im menschlichen Dasein, die Kirsche auf der Sahne des Lebens. Während des Rennens bilden sich Grüppchen mit einem gemeinsamen Tempo. Man teilt den Rhythmus und die Bewegung. Das Zugehörigkeitsgefühl durch den Anschluss an die Gruppe hat einen leistungserhaltenden Effekt. Solche Gemeinschaftsgefühle sind beflügelnd und schön.
In welchen Rennsituationen spielt Adrenalin beim Marathon eine Rolle?
Unter Adrenalineinfluss wird ein Marathon eventuell als Bedrohung statt als Herausforderung wahrgenommen. Flucht oder Kampf? Schwitzende Hände, rasende Gedanken, Magenprobleme. Ein Marathon ist weniger bedrohlich, als ein Überlebenskampf im Dschungel, doch die Wahrnehmung von Gefahr erst ermöglicht es Grenzen auszuloten und Leistungen zu erbringen, die man bislang für unmöglich hielt. Manche Menschen gehen in diesem Gefühl richtig auf.
Was macht die Landschaft mit den Teilnehmern eines Marathons?
Beim Marathon fährt man nicht mit dem SUV durch die Stadt, sondern mit dem Mountainbike durch die Landschaft. Das bietet die Möglichkeit dem Planeten, auf dem man sich bewegt, ein Stück näher zu kommen. Die Naturverbundenheit des Marathon-Sports kann ein starkes Motiv für die Teilnahme sein. Wer mit dem Ziel „Naturgenuss“ in einen Marathon startet, kann im Rennen aus sportpsychologischer Sicht persönliche Erfolge feiern. Besonders weite Aussichten in bergige Landschaften und schöne Wälder bieten Abwechslung und Entspannung für die Augen. Doch Landschaften können auch bedrohlich wirken. Das gilt vor allem, wenn man in einer Wettkampfsituation bei schlechtem Wetter an einem rutschigen Abhang unterwegs ist. Die Wahrnehmung von Gefahr setzt Adrenalin frei. Die körperliche Belastung des Marathons ist unabhängig von der Schönheit der Landschaft. Dennoch kann diese positive Wirkungen haben, Glücksgefühle freisetzen und die subjektive Wahrnehmung der Anstrengung mindern.
Welche Zweifel sind typisch auf der Marathon-Strecke?
Halte ich das noch durch? Schmerzen und Zweifel sind bei Ausdauersportarten ganz normal. Man muss schon etwas von beidem aushalten können. Dabei sind Zweifel zunächst nur Gedanken als Folge von Stress. Sie müssen nicht bestimmen, wie ein Mensch handeln wird. Kann man keinen Abstand zwischen sich Selbst und diese Gedanken bringen, fängt die Leistung an zu schwächeln. Eine Fluchtreaktion erscheint verlockend. Durch sportpsychologisches Training kann man den positiven Umgang mit Zweifeln erlernen. Wer dies im Marathon beherrscht, der beweist sich selbst seine und anderen Dominanz. Menschen lieben es Herausforderungen zu meistern. Fällt der Abgleich von benötigten und vorhandenen Ressourcen negativ aus, sind Zweifel vorprogrammiert. Wer der Fluchtreaktion Herr wird, hat im Marathon eine Gelegenheit sich selbst zu beweisen.
Welches sind die wichtigsten Momente des Triumphs im Marathon-Rennen?
In der Regel begeben sich Menschen mit einer Selbstwahrnehmung in die Situation Marathon, in der sie die nötigen Ressourcen besitzen, um die Herausforderung zu bewältigen. Egal, ob bei der Zieleinfahrt oder am Start: Triumphe hängen aus sportpsychologischer Sicht komplett von der individuellen Zielsetzung ab. In dieser ist jeder Teilnehmer vollkommen frei. Das kann die Platzierung, die Weiterentwicklung als Athlet oder schlicht die Teilnahme sein. Im Zentrum steht stets der Wille sein Können unter Beweis zu stellen. Triumph kann als Freude oder auch als Erlösung wahrgenommen werden. Die Kombination aus körperlicher und mentaler Belastung gibt es fast nur im Sport. Manche geben dem Erfolg einen starken Ausdruck, andere feiern ihn still und für sich.