BIKE Redaktion
· 02.01.2023
Die Profi-Tipps von Yanick Gyger: Als Team-Mechaniker von MTB-Superstar Nino Schurter weiß er, wie man Racebikes für höchste Ansprüche fitmacht. Bremsen zählen zu seinem Spezialgebiet.
BIKE: Die Bremsen zählen zu den wichtigsten Bauteilen am Bike, wieso?
Yanick Gyger: Na ja, schließlich hängt als Biker dein Leben dran. Alles andere ist halb so tragisch bei einem Ausfall. Aber toi, toi, toi – in all den Jahren als Rennmechaniker habe ich es nicht einmal erlebt, dass die Bremsen versagt hätten.
Was macht eine leistungsfähige Bremse aus?
Die entscheidenden Bauteile sind die Bremsscheiben, die Bremskolben und die Bremsbeläge. Die Größe der Bremsscheiben ist in Relation zum Gewicht des Fahrers und zum Bike in hohem Maße ausschlaggebend für die Brems-Power. Auch der Einsatzbereich und das Terrain spielen eine Rolle: Schnelle und lange Downhills erfordern größere Scheiben, auch Abfahrten auf langen alpinen Touren mit Rucksack. Aluminiumteile an der Scheibe leiten Hitze besser ab als Stahl, die Bremsen überhitzen weniger schnell. Wichtig ist zudem die Abstimmung der Größe des Rotors auf die Bremsbeläge. So lässt sich ein Fading, das Nachlassen der Bremsleistung auf langen Abfahrten, vermeiden.
Bremsbelag ist nicht gleich Bremsbelag. Worin liegen die Unterschiede?
Organische Bremsbeläge leiten weniger Hitze an andere Teile weiter und beugen damit einer Überhitzung der Bremsen und einem Leistungsverlust besser vor. Sie sind leicht und leise – gute Allround-Beläge. Ideal für trockene Verhältnisse. Allerdings verschleißen sie schneller als gesinterte Beläge aus Metall. Letztere packen spürbar härter zu, verschleißen die Bremsscheibe aber auch schneller. Sie sind geräuschintensiver, neigen eher zum Quietschen. Gesinterte Beläge setzen wir vor allem bei Regen ein.
Bremsen mit Vier-Kolben-System haben sich weitgehend gegen solche mit zwei Kolben durchgesetzt. Was ist daran besser?
Ich bin überzeugt, dass sich Vier-Kolben-Bremsen künftig komplett durchsetzen werden. Der Gewichtsvorteil von Zwei-Kolben-Systemen ist weitgehend dahin. Klarer Vorteil der Vier-Kolben-Modelle ist die bessere Leistung. Die Bremsbeläge sind länger, was die Reibung auf der Scheibe vergrößert. So kann man später bremsen, aggressiver fahren und die Geschwindigkeit schneller reduzieren.
Wann kommen Mountainbike-Bremsen an ihre Leistungsgrenze?
Da spielen eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle. Das Gewicht von Bike und Biker, die Geschwindigkeit, das Gefälle der Strecke. Je höher das Systemgewicht, desto größer sollten die Bremsscheiben sein. Entscheidend aber ist auch das Bremsverhalten. Viele Biker bremsen falsch. Sie lassen bei Abfahrten die Bremsen von oben bis unten schleifen. Die Scheiben überhitzen. Ergebnis: Fading. Die Bremse verliert den definierten Druckpunkt, die Bremsbeläge verglasen, sie zeigen weniger Grip.
“Glänzende, verglaste Bremsbeläge und eine Verfärbung der Bremsscheibe ins Schwärzliche signalisieren: Die Teile wurden überhitzt. Die Bremse verliert an Leistung.” - Yanick Gyger, Team Mechaniker von CC-Suprestar Nino Schurter
Wie bremse ich richtig?
Ähnlich wie bei einem ABS-System – mit Stotterbremse: abwechselnd stark bremsen und dann wieder die Bremse loslassen. Dabei ausgeglichen die Vorder- und Hinterradbremse ziehen. Solange man geradeausfährt, kann man durchaus auch mehr mit der Vorderbremse arbeiten. In Kurvenlage jedoch sollte man die Vorderbremse gefühlvoll einsetzen, um nicht zu blockieren und wegzurutschen. Hobbyfahrern empfehle ich vorne und hinten mindestens eine 180-Millimeter-Scheibe, schweren und downhill-orientierten Fahrern vorne eine 200er-Scheibe. Vor einem Wechsel sollte man checken, ob die Federgabel für die geplante Scheibengröße zugelassen ist.
Wovon hängt die Dosierbarkeit ab?
Wie stark die Bremse zupacken soll, und ob sie das mehr oder weniger abrupt tut, ist eine individuelle Geschmackssache. Ich bevorzuge richtig bissige Bremsen. Dabei ist das richtige Einschleifen von Bremsbelägen und Bremsscheiben entscheidend. Früher verbrachte ich Stunden damit, ausreichend Reservebeläge auf dem Trail einzubremsen. Heute nutze ich dafür eine spezielle Maschine, die mir ein Ingenieur gebaut hat. Die Bremsleistung von neuen, unbehandelten Belägen und Scheiben liegt weit unter dem, was mit dem Material möglich ist. Im Grunde verkaufen die Hersteller Teile, die noch nicht hundertprozentig einsatzfähig sind. Das Maximum aus dem Material herauszuholen, wird dem Kunden überlassen. Der aber kann ohne entsprechendes Knowhow einiges falsch machen. Wenn die Bremse beim Einbremsen überhitzt, ist es nicht mehr möglich, später das volle Potenzial aus ihr herauszukitzeln.
Was ist sonst noch wichtig, damit die Bremsen am Bike ordentlich zupacken?
Eine präzise Montage ist das A und O. Die erfordert etwas Zeit und Muße. Aber der Aufwand lohnt sich. Wenn alles passt, hat man lange Zeit Ruhe. Tiptop montierte Bremsen muss ich eine ganze Saison lang nicht entlüften. Bevor ich die Stopper montiere, kümmere ich mich um die Kolben. Ich mobilisiere sie so lange, bis sie links und rechts exakt gleichmäßig herauskommen. Dazu halte ich jeweils einen Kolben zurück und mobilisiere jeweils den der Gegenseite. Wenn nötig, kann man die Kolben zusätzlich mit etwas DOT-Flüssigkeit schmieren.
Wichtig ist ein Wechsel von Erhitzen und Abkühlen. Mit schleifender Bremse pedalieren oder bergab rollen, bis sie heiß wird. Die Bremse darf aber nicht überhitzen, sonst verliert sie an Leistung. Nun die Bremsscheibe abkühlen lassen. Nach 40 Sekunden bis einer Minute das Ganze wiederholen. Wahlweise zehn Sprints und Vollbremsung bis zum Stillstand. Nie mit neuen Bremsen gleich einen 1000-Höhenmeter-Downhill starten.
Nach dem Waschen des Bikes verbleiben Rückstände der Pflegemittel auf den Bremsen. Sie reduzieren die Bremsleistung. Diese Rückstände kann man durch Erhitzen mit einem Bunsenbrenner vorsichtig entfernen. Achtung bei Carbon- oder Textilspeichen!
Liefert die Bremse trotz sachgemäßen Einbremsens nicht die gewünschte Leistung, muss man nicht gleich die gesamte Bremse wechseln. Oft reichen eine größere Scheibe oder andere Beläge.