Zuerst die schlechte Nachricht: Motorisches Lernen funktioniert nur in jungen Jahren gut. Genauer gesagt im Alter zwischen 8 und 12 Jahren, denn dann ist die Plastizität des Gehirns hoch, und der Mensch lernt, so die Wissenschaft, neue Bewegungsmuster schneller. Mehr noch: Auch die neuronalen Verknüpfungen gelingen schneller, die Muskulatur ist flexibler und die Motivation zum unermüdlichen Üben höher. Prominente Beispiele sind Jackson Goldstone, Brandon Semenuk oder Peter Henke. Sie lernten das Springen mit dem Mountainbike gleich nach dem aufrechten Gang – und verbrachten jede freie Minute auf den Sprunghügeln – ein weiterer Faktor: Zeit zum Üben.
Und die gute Nachricht? Die gute Nachricht: Auch im Alter kann man noch neue Bewegungen lernen. Voilà! Wer also das magische Lernalter längst überschritten hat, muss trotzdem nicht aufs Springen verzichten. Airtime ist möglich, wenn auch mit etwas mehr Aufwand, und damit sind wir schon beim ersten Knackpunkt: der Erwartungshaltung.
Kade Edwards stürzt über 20-Meter-Sprünge, Adolf Silva dreht Backflips über Motocross-Distanzen, Clemens Kaudela springt in den Himmel – wir werden mit Superlativen bombardiert. Insta, Facebook, Internetseiten, Magazine (auch FREERIDE) zeigen ständig die ultimative Airtime und machen dem Hobby-Freerider unmissverständlich klar: Die können es, Du nicht! Die Bilder wecken Begehrlichkeiten, die Realität dagegen frustriert. Zum Beispiel im Bikepark, wenn andere Biker lässig über Sprünge segeln, man es selbst aber nicht mal in die Landung schafft.
"Völliger Quatsch", sagt Fahrtechniktrainer Stefan Herrmann. "Diese Vergleiche machen nicht nur unglücklich, sie sind auch an den Haaren herbeigezogen. Denn ob Profis oder andere Parkbiker – sie haben nichts mit Dir zu tun! Denk' dran: Du weißt nicht wie talentiert der andere ist und wie hart er trainiert hat." Deshalb Herrmanns Tipp: “Konzentriere Dich ausschließlich auf Dich selbst, Deine Lernvoraussetzungen, Deine Vorkenntnisse, Deine Möglichkeiten.”
Springen lernen braucht Zeit. FMB-Weltmeister Emil Johansson hat seine ganze Kindheit und Jugend ausschließlich mit Dirtjumping verbracht, Superbiker Brandon Semenuk ebenfalls – und Semenuk verfügte als Whistler-Local über die idealen Trainingsbedingungen. "Ein ganz entscheidender Faktor: 'Wo nix ist, kannst Du auch nicht üben!'", sagt Stefan Herrmann.
Auch Bike-Profi Peter Henke begann als Kind mit dem Dirtjumpen. "Eine gute Fahrtechnik braucht Routine, und Routine bekommt man nur durch konsequentes Üben – da gibt es keine Abkürzung. Du musst den richtigen Absprung so lange üben, bis er klappt, so wie wir alle", sagt Peter.
Aber genau das wollen viele von uns nicht akzeptieren. Wir leben im Zeitalter der "instant gratification", der augenblicklichen Belohnung. Das heißt: Wir wollen es sofort können und am besten so gut wie Erik Fedko – auch wenn wir nur dreimal im Jahr im Bikepark fahren. Fahrtechnik-Coach Herrmann bestätigt: "Die Leute wollen zu viel in zu kurzer Zeit. Das erlebe ich in meinen Fahrtechnikkursen immer wieder. Aber so funktioniert das nicht, schon gar nicht bei komplexen Bewegungen wie dem Sprung beim Mountainbiken.”
Es gibt viele Arten zu springen – auch ohne Absprung. Man kann sich allein durch Geschwindigkeit über einen Sprung tragen lassen. Will man aber Airtime erleben, muss man dynamisch abspringen. Dabei beugt man Arme und Beine, presst aktiv in die Federung des Bikes, um sich danach dynamisch herauszustrecken, sobald das Bike die Absprungkante erreicht. All diese Bewegungen müssen wohldosiert und exakt getimt sein. Hier liegt die Crux: Denn diese Aktionen passieren in Sekundenschnelle, und je höher die Bewegungsdynamik, desto größer das Risiko für Kontrollverlust.
Rekordhochspringer Timo Pritzel appelliert an die Geduld: "Versuche, nichts zu erzwingen, sonst steigt die Sturzgefahr. Suche dir einen kleinen Sprung und übe dort, bis die Bewegung sitzt”. Sprung-Ass Peter Henke rät zu einem Table-Jump mit flachem Absprung. “Da fällt es dir leichter, einen Bunny-Hop zu machen. Erst wenn der sitzt, solltest du dich an steilere Absprünge wagen."
So wird aus der Grobform der Bewegung mit wachsender Routine die Feinform. Das wird deutlich, wenn man Profis beim Springen zusieht. Auf den ersten Blick unterscheiden sich ihre Bewegungen nicht von denen eines Hobby-Bikers. Doch der Schein trügt. Denn bei den Profis kommt der Impuls genau im richtigen Moment und ist mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Das gelingt nur durch ständiges Üben. Das weiß auch Fahrtechnikexperte Herrmann: “Es braucht die Wiederholung. Ich habe in den letzten drei Jahren sicher 15 000 Sprünge gemacht, um meine Technik zu automatisieren und vor allem, um den Kopf freizubekommen.”
Rampage-Veteran Andrew Shandro antwortete auf die Frage nach seinem ultimativen Airtime-Tipp: “Relax!” Das klingt banal, doch er beinhaltet eine Grundvoraussetzung: Du musst locker im Kopf sein. Denn nur wer selbstbewusst auf den Sprung zurollt, kann auch entschlossen abspringen. Das erleben wir alle, wenn wir Jump-Strecken im Bikepark zum ersten Mal fahren. Beim ersten Run schafft man es selbst bei Sprüngen nicht in die Landung und “cast”, die man sonst eigentlich draufhat. Ein paar Runs später dagegen klappt es – obwohl man bewusst nichts anders gemacht hat. “Doch”, widerspricht Sprungexperte Clemens Kaudela, “Du hattest beim ersten Run nicht das volle Commitment. Aber Du darfst keinen Schwung raus nehmen, nicht mal ein Prozent zögern – sonst verspielst Du die Airtime – und die entscheidet dann, ob Du es in die Landung schaffst oder eben nicht.” Kaudela meint damit: Wer Angst hat, zögert im entscheidenden Moment – oft unbewusst! Oder schlimmer noch: verkrampft. “Dead Sailor” heißt das gefürchtete Einfrieren in der Luft, wenn der Biker so versteift, dass er zu keiner Reaktion mehr fähig ist. Der “tote Segler” endet meist mit einem Sturz. Und den gilt es aus vielerlei Gründen zu vermeiden.
Nichts bremst den Lernprozess so sehr wie ein Sturz – und jeder Einschlag tut weh: körperlich und seelisch. Dabei muss man sich nicht einmal verletzt haben. Allein das mentale Trauma blockiert den Kopf und bedeutet für den Lernprozess im schlimmsten Fall: zurück auf Start. Coach Herrmann weiß: “Es dauert ewig, bis das Selbstvertrauen wieder da ist und man mit voller Entschlossenheit abspringen kann.” Sein Tipp daher: Steigere Dich langsam und achte auf Deine Tagesform.
Wir alle wissen, dass es diese magischen Tage gibt, an denen alles zu klappen scheint. Aber auch die schlechten Tage, an denen man schon auf den ersten Metern mit dem Pedal hängen bleibt und nichts gelingen will. Es ist also klug, in sich hineinzuhorchen und solche “bad days” zu erkennen. Dann ist es besser, einen Sprung auszulassen und nein zu sagen, wenn man “es” nicht fühlt. Selbst bei Sprüngen, die man an anderen Tagen schon gemeistert hat. Und man sollte seine eigenen Skills kennen – abgesehen von der Tagesform. Wo hört Können auf, und wo fängt Leichtsinn an? Der Grat ist oft schmal und wird im Eifer des Gefechts leicht übersehen. “Nein sagen können, gehört zum Freeriden dazu. Das hat nichts mit Feigheit zu tun, im Gegenteil: Eine gute Selbsteinschätzung ist der Schlüssel für alle, die diesen Sport lange ausüben wollen”, sagt Fahrtechnikexperte Herrmann.
Sobald Du die Basisvariante des Springens draufhast, kannst Du Dich ans aktive Springen wagen. Die Techniken ähneln sich – doch beim Sprung mit Popp konzentriest Du Dich voll auf einen aktiven, kraftvollen Absprung. Er spendiert Dir die Extraportion Airtime, die Du später auch für Tricks brauchst.
Wie beim normalen Springen spannst Du Deine Federung vor, indem Du tiefgehst und Dein Gewicht in die Federung drückst. Das gibt Dir auch genügend Bewegungsspielraum, um Dich kraftvoll rauszustrecken. Sobald das Vorderrad über die Absprungkante rollt, ziehst Du den Lenker kräftig Richtung Brust und drückst dich mit den Beinen dynamisch über das Hinterrad ab. Die Aktionen führen dazu, dass Du Dich nach oben streckst und das Bike mitnimmst. Die ideale Vorübung für diesen Bewegungsablauf ist der sogenannte Schweinehop (s. auch das komplette Interview mit Stefan Herrmann hier).
In der Luft schiebst Du Deinen Körper so übers Rad, dass sich das Bike ausrichtet und die Räder in etwa auf einer Höhe fliegen. Das Bike beschreibt den klassischen Parabelflug, und Du erfährst am Scheitelpunkt das lässige Gefühl der Schwerelosigkeit. Airtime! Diese Phase ist wichtig für Trickeinlagen und fühlt sich verdammt geil an.
Zur Landung drückst Du die Front nach unten und richtest sie nach der Landeschräge aus, um auf beiden Rädern gleichzeitig zu landen. Auch hier gilt wieder: Arme und Beine puffern den Aufprall ab.
Tipp: Den aktiven Absprung lernt man durch stetiges Üben. Er ist ein Kraftakt. Taste Dich daher langsam an einen immer dynamischeren Absprung heran. Wer gleich mit voller Kraft am Lenker zerrt, läuft Gefahr, das Bike zu verreißen und in eine gefährliche Schräglage zu geraten.
FREERIDE: Stefan, Du bist selbst Mountainbiker. Warum kriegen die einen Airtime, die anderen nicht?
Stefan Siebert: Das hat mit Angst zu tun. Ich bin das beste Beispiel. Mich hat’s beim Snowboarden schon zerlegt, mich hat’s beim Biken zerlegt. Und je mehr Luft unter den Reifen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder passiert. Diese Angst hemmt und stört den Bewegungsablauf, um für Airtime richtig abzuspringen.
Kann man die Angst überwinden?
Das ist schwierig. Denn schlechte Erfahrungen führen dazu, dass man der Airtime ausweicht. Konkret: Du schluckst eher den Sprung weg, als dass Du Dich rausfeuerst. Das ist dann die klassische Crouch-Position, man kauert in der Luft, quasi über dem Bike statt sich rauszustrecken oder abzuziehen, wie es so schön heißt.
Warum es nicht anders machen?
Weil zum einen der Kopf nicht will, zum anderen sich ein falsches Bewegungsmuster oft über lange Zeit eingeschliffen hat. Es ist schwer, diese Hirnblockade zu überwinden und genauso schwer, das falsche Bewegungsmuster durch ein richtiges zu überschreiben. Dazu musst Du Dich regelrecht umprogrammieren, und das ist erwiesenermaßen schwieriger als eine Bewegung komplett neu zu lernen.
Was ist die Lösung?
Es ist möglich, sich auf ein neues Bewegungsmuster umzuprogrammieren. Doch nur mit hohem Aufwand.
Wie könnte der Aufwand konkret aussehen?
Konsequentes Training nach den Trainingsprinzipien. Sprich: mit kleinen Sprüngen anfangen, die Du kennst, wo Du Dich wohlfühlst. Ganz easy starten, nicht zu viel wollen. Gut sind auch softe Airbag-Landungen. Es geht dabei darum, Sicherheit und Selbstvertrauen zu gewinnen und die Bewegung neu einzustudieren.
Klingt machbar.
Ist machbar. Das sieht man an den Kids, die den ganzen Tag an Dirtspots rumhängen und daher im Zeitraffer lernen. Manche MTB-Neulinge machen nach kürzester Zeit Sprünge, von denen man nur Träumen kann, dabei fährt man selbst schon viel länger Mountainbike. Die Crux: Welcher Hobby-Freerider ist dazu bereit, tage-, ja wochelang nur Sprünge zu üben. Meist will man doch Spaß haben, in den Bikepark fahren und dort alle Trails ausprobieren, statt gezielt Sprünge zu trainieren.
Du brauchst 100 Prozent Entschlossenheit. Nur, wer sich voll in den Absprung stemmt mit Armen und Beinen, hebt richtig ab. Und meistens geht dann auch nix schief. Doch wer im letzten Moment zögert und sei es nur ein Prozent – ein kurzes Nachgeben der Spannung – der verspielt die Airtime. Stattdessen wird es dann ein Awkward-Air, wie ich’s nenne. Also ein Sprung mit komischer Luftlage, den man bestenfalls irgendwie gelandet kriegt. Mein Tipp: volle Entschlossenheit!
Als Jugendlicher haben mich die BMX-Racer beeindruckt, die besonders hoch springen konnten. Das wollte ich auch lernen und habe viel geübt. Die Faszination der hohen Jumps ist bis heute ungebrochen. Mein Airtime-Geheimnis ist mein BMX-Background. Da habe ich gelernt, vor dem Absprung wirklich in die Knie zu gehen, um mich dann kräftig abdrücken zu können. Mein Tipp: langsamer anfahren und dafür die Bunny-Hop-Bewegung intensiver ausführen. Und: Geduld! Springen lernt man nicht über Nacht!
Den Boost-Effekt beim Springen gibt es nur, wenn Du wirklich dynamisch abspringst. Dazu brauchst Du das richtige Timing, aber vor allem: die Bunny-Hop-Bewegung beim Absprung. Viele hocken zu weit hinten, sind zu zögerlich und führen die Absprungbewegung nicht richtig aus. Das hat zur Folge, dass der Sprung einfach nicht in die Höhe geht. Beim Absprung entscheidet sich, ob Airtime oder no Airtime. Da hilft Dir mehr Speed auch nicht wirklich.
“Dead Sailor” heißt das gefürchtete Einfrieren in der Luft, wenn der Biker so
versteift, dass er zu keiner Reaktion mehr fähig ist. Fünf Profis verraten ihr Geheimnis:
Ein Wort: Bunny-Hop. Wer einen hohen Bunny-Hop kann, der tut sich auch leicht mit der Airtime. Also: schön vorne hochziehen und das Heck nachziehen. Wenn Du diese Abfolge auf den Sprung überträgst, geht’s unweigerlich nach oben. Wer konsequent übt, kriegt das hin. Schaut Euch mal mein Boost-Video auf YouTube an, da gebe ich Tipps für Extra-Airtime!
Vergleiche machen unglücklich. Auch beim Springen. Konzentriere Dich auf Dich selbst und Deine Fortschritte. Die Leute wollen viel zu viel in viel zu kurzer Zeit. Sie sind getrieben von den Medien, von FREERIDE, Insta und dem ganzen Bullshit. Doch so funktioniert das nicht.
Viele denken, sie könnten Technik durch Speed ersetzen. Doch das klappt nur bedingt. Besser: Feile am aktiven Absprung, dann kommt die Airtime irgendwann von selbst. Stell’ Dir vor, Du springst aus dem Stand in die Höhe. Das musst Du aufs Bike übertragen.
Üben, üben und noch mal üben – das ist mein Geheimnis der Airtime. Eine Abkürzung gibt es nicht: Du musst üben. Richtig hoch zu springen, ist eine Kunst, und die gibt es nicht for free.
Springen mit viel Airtime ist geil. Die Skills dafür musst Du Dir hart antrainieren bist der Absprung Routine wird. Mein Tipp: nicht zu schnell, zu viel wollen, denn jeder Sturz wirft Dich zurück – weit zurück!