Dimitri Lehner
· 01.11.2023
Airtime ist vermutlich das beste Gefühl, das man ergattern kann – in vielen Fun-Sportarten, doch besonders im Mountainbiken. Über einen Jump zu schanzen, in die Luft zu fliegen, das Gefühl der Schwerelosigkeit zu erleben, um danach wieder kontrolliert zu landen – das erzeugt Glücksgefühle. Knackpunkt: Um einen Sprung kontrolliert hinzukriegen, brauchst du Skills, Übung und Risiko-Toleranz. Als wäre das nicht schon schwer genug, erfordern hohe Sprünge noch mehr Erfahrung. Denn: Es springen zwar viele Mountainbiker, doch richtig springen (mit viel Airtime) schaffen die wenigsten. Warum nur? Wir fragten Fahrtechnik-Experten Stefan Herrmann.
FREERIDE: Andere springen hoch, man selbst klebt schier am Boden oder fliegt tief. Warum ist das so?
Stefan Herrmann: Die Anderen! Wer sind die Anderen? Du magst im Bikepark jemanden vorbei fliegen sehen und denken: geile Airtime! Doch das hat im Grunde gar keinen Wert, denn du hast keine Ahnung wie viel derjenige trainiert hat und wie viel Talent er besitzt. Das ist schön anzuschauen, hat aber für dich keine Bedeutung. Denn du musst mit deinen Möglichkeiten, deinem Talent, Material und deinen Rahmenbedingungen klar kommen. Und vor allem: mit deiner Wiederholungszahl.
Wiederholungszahl?
Die Wiederholungszahl ist der Schlüssel zum Erfolg. Je höher, desto besser. Um gut Springen zu können, musst du verdammt viel springen – so einfach! Das andere Erfolgsrezept: eine langsame Steigerung. Das ist ein Prozess, der Jahre dauern kann und im Prinzip nie endet.
Du hast auch das Material erwähnt.
Das Bike spielt eine Rolle. Ich bin in der letzten Zeit mit meinem Bigbike Canyon Sender gefahren und sprang damit oft zu kurz und verlor Schwung. Bigbikes sind schlichtweg träger und erfordern viel mehr Körpereinsatz auf flacheren Jumpstrecken wie z. B. die “99 Jumps” in Schladming. Dann wechselte ich auf das agilere Torque, ein Enduro-/Freeride-Bike, und schaffte es in die Landung.
Nahm der Speed und die Sprungweite allerdings zu wie z. B. auf der Vink-Line in Chatel, musste ich mit dem Enduro viel vorsichtiger sein. Denn das Bike ist kürzer. Deswegen hast du in der Luft weniger Bewegungsspielraum und bist schneller im Grenzbereich. Material ist neben dem Könnensstand also auch ein großes Thema.
Trotzdem: Der Vergleich mit anderen frustriert. Die einen können’s, man selbst nicht.
Verständlich. Man lässt sich vom direkten Umfeld und den Medien beeindrucken. Das erzeugt überzogene Erwartungen. Doch Springen mit dem Mountainbike ist schwierig, aber lernbar. Allerdings muss man dafür intensiv üben, um es zu können. Ich habe vor vier Jahren angefangen, gezielt an meiner Sprungtechnik zu arbeiten. Meine Hauptstrecke ist die Hotshots in Leogang. Die Strecke fahre ich an manchen Tagen 10 Mal nur, um meine Technik zu festigen. Da habe ich an einem Tag 400 Sprünge gemacht.
Ich schätze, dass ich in den letzten Jahren 15.000 Sprünge gemacht habe, um die Technik zu verinnerlichen. Und um damit den Kopf frei zu kriegen für den nächsten Schritt. Das spüre ich immer dann, wenn ich in der Luft schon nach dem nächsten Absprung schaue. Das zeigt mir, dass ich alles so kontrolliere, dass ich bereit bin für den nächsten Jump. Wichtig: Kontinuität – lieber verlässlich über kleinere Sprünge als einmal glänzen bei einem großen Ding.
... wo die Gefahr besonders hoch ist, dass man stürzt und all der Fortschritt wieder zum Teufel ist.
Ja. Das kann passieren. Für den Lernprozess gilt: drei Schritte vor, einer zurück. Nach einem Sturz, musst du dich wieder neu aufbauen. Das ist mir auf der Hotshots-Strecke passiert und dabei bin ich nicht einmal gestürzt, sondern nur “schlecht” gefahren. Ich wollte zu schnell zu viel, das Selbstvertrauen war nicht da und nix klappte. Also entschied ich mich für andere Strecken, um Selbstvertrauen zu finden. Erst dann fuhr ich wieder Hotshots.
Wie wichtig ist das Selbstvertrauen?
Es geht nicht ohne. Ich predige schon seit 25 Jahren: Bewegungsbild vor Bewegungsausführung. Sprich: Du musst den Sprung “sehen”, ihn dir zutrauen, erst dann bist du locker und entspannt genug, um ihn auch wirklich zu springen. Du musst dich wohl fühlen – das ist die Voraussetzung, um aktiv abzuspringen. Und der Absprung ist das A und O für Flugphase und Landung. Es geht also immer darum: locker bleiben, locker bleiben, locker bleiben. Sonst verkrampfst du und die Airtime wird zum Deadsailor.
Wann passiert der Deadsailor?
Immer dann wenn sich die Leute überfordern, den Sprung erzwingen, sich unwohl fühlen und es dennoch wagen. Wer sich zu viel Druck macht oder zu unachtsam ist, kriegt unweigerlich Probleme. Das Motto beim motorischen Lernen lautet: erst etwas ändern, wenn man einen Automatismus erreicht hat. Das heißt: ruhiger Atem, Ruhepuls, Kopf entspannt, Muskeln entspannt. Erst dann kann ich mich an einen größeren Sprung ran wagen. Nicht zuvor! Das wäre leichtsinnig.
Klassische Situation im Bikepark: Man springt eine Jumpline zum ersten Mal, springt zu kurz, doch nach ein paar Runs schafft man die Sprünge. Deine Erklärung?
Beim ersten Run kannte man die Situation nicht und war deswegen zögerlich aus Vorsicht, vielleicht sogar etwas verkrampft aus Angst. Deswegen gelang der aktive Absprung nicht, denn für ihn brauchst du Selbstvertrauen. Mit weiteren Runs stellte sich das Selbstvertrauen ein und siehe da: schon schaffte man es in die Landung.
Dennoch kommt es vor, dass man sich dem Sprung gewachsen fühlt und dennoch die Airtime nicht ausreicht, um es in die Landung zu schaffen. Was läuft da schief?
Da kann eine ganz kleine dynamische Streckung in den Beinen fehlen, die du gar nicht mitbekommst, weil das Stress-Level eben doch schon zu hoch ist. Das erlebe ich, wenn ich mit meinem Freund Chris bike. Er ist BMXer. Durch seine BMX-Erfahrung hat er eine viel effektivere Beinstreckung, die er über Jahre im jungen Alter gelernt hat. Obwohl wir beide scheinbar das gleiche machen beim Absprung, fliegt er viel höher und weiter.
Dein Tipp Nummer 1 fürs Springen lernen?
Geduld. Die Leute wollen zu viel. Sei ehrlich zu dir, deine Selbsteinschätzung muss stimmen. Erst dann kommt Selbstvertrauen. Das bemerke ich immer wieder in meinen Fahrtechnik-Kursen. Doch das geht nicht. Aber sie sind natürlich getrieben von den Medien, Insta, FREERIDE usw. Der gesellschaftliche Leistungsdruck überträgt sich auch in den Freizeitsport. Jeder will wie Jaxson Riddle durch die Luft stylen, selbst wenn man nur 2-3 Mal im Jahr im Bikepark fährt.
Und dann liest man in der FREERIDE von der 16-jährigen Patricia Druwen, die keine drei Jahre, nachdem sie ein Mountainbike geschenkt bekommt, Wettkämpfe fährt und jetzt Red Bull Athletin ist.
... und du bikest seit 20 Jahren und schaffst noch immer nicht die größeren Sprünge in Schladming. Ja, ich weiß, das kann frustrieren. Aber, Patricias Ausnahme-Talent mal ausgeblendet, Übung lässt sich durch nichts ersetzen. Sollen deine Sprünge besser werden, dann übe sie. Ich sage: Irgendwann kommen die Skills. Nimm den Druck raus. Lass dir Zeit, habe Spaß beim Üben! Und da wären wir bei einem weiteren Knackpunkt: die Übungsmöglichkeiten. Wenn du in der Nähe eines Bikeparks wohnst oder eines Dirtspots, fällt das offensichtlich viel leichter als wenn du wo wohnst, wo nix ist.
Was ist gute Übungsjumps für Einsteiger?
Tablesprünge, die du gut einsehen kannst. Wie die Table-Line im Bikepark Geisskopf. Das sind ideale Lern-Sprünge. Mein Tipp: Rolle die Line erst mal durch ohne abzuspringen. Damit glühst du Körper und Geist vor. So trainieren BMXer. Ist dir ein Sprung gut gelungen, nimm dir die Zeit, um kurz die Augen zu schließen und die Bewegung noch einmal durchzugehen. Das festigt das Bewegungsmuster.
Bei dem Stichwort: Bewegungsmuster. Ich muss mit einem Quatsch aufräumen, der immer wieder verzapft wird: Die Sprungtechnik würde dem Bunnyhop ähneln. Das stimmt nicht und kann sogar gefährlich werden und im Sturz enden. Beim Bunnyhop bewegst du dich dynamisch nach vorne, um das Hinterrad hochzuziehen. Machst du das beim Sprung, katapultierst du über den Lenker. Der Absprung ähnelt eher dem sogenannten Schweinehop, ohne die starke Schaukel-Bewegung vorne-hinten des Bunnyhop.
Was ist dein Geheimnis der Airtime?
Sich Zeit lassen. Sich langsam, Schritt für Schritt steigern. Im Zweifel Nein sagen. Ich bin da sehr konsequent. Wenn ich einen Sprung nicht “sehe”, den ich auch schon öfter gesprungen bin, lass ich es sein. Ich spüre in mich hinein. Es gibt Tage, da klappt alles. Und es gibt die Tage, da klappt nix. Auch dafür sollte man sensibilisieren, denn ein Sturz wirft dich im Lernprozess zurück – selbst wenn du dich dabei nicht verletzt hast. Doch dein Selbstvertrauen kriegt immer einen Knacks ab, sprich: Dein Airtime-Vertrauen ist verunsichert. Also keine halben Sachen!
Bietest du an der MTB Academy auch spezielle Jump-Kurse an?
Ja, in allen Enduro-Flow-Camps, Freeride-Camps und natürlich den Air-Camps steht die richtige Sprungtechnik im Fokus.
Fühlen sich deine Jumps an wie ein nasser Sack auf Abwegen?! Deine Airtime liegt im Zehntelsekundenbereich?! Wir zeigen in 5 Schritten, wie du deine Fahrtechnik bei Sprüngen mit dem MTB verbesserst! In unserem Interview erklärt ein Sportwissenschaftler außerdem, was der Kopf tun muss, damit der auch Körper fliegen möchte. Und einige Profis verraten ihre Tipps.