Wohin wandert man aus, wenn man Niederländerin und eine der weltbesten Bike-Athletinnen ist? Innsbruck vielleicht? In die Schweiz, oder nach Finale? Oder natürlich: Kalifornien. Anneke Beerten – BMX- und Four-Cross-Weltmeisterin, Enduro- und Downhill-Racerin, Queen of Crankworx und Dritte bei der ersten E-MTB-Weltmeisterschaft 2019 („Wahrscheinlich das härteste Rennen, das ich je gefahren bin.“) – zieht im Jahr 2015 nach Orange County. Für die Top-Bedingungen mit „Traumwetter, Tacos und Trails“. California Dreaming, ganz klassisch. Bis 2022. Am 28. Januar postet sie auf Instagram ein Bild von ihrem schwer beladenen Truck: „Bentonville, Arkansas here I come“.
Bentonville? Bentonville! In der europäischen Heimat erntet Anneke bei dem Namen ein Fragezeichen. In der US-Bike-Szene ein Thumbs-up. Eine mehr, die es nach Bentonville zieht. In die selbst erklärte Mountain Bike Capital of the World. „Klar“, nickt Anneke, „in den Staaten scheut man sich nicht vor Superlativen. Aber es stimmt auch.“ 60.000 Einwohner und 500 MTB-Meilen, monumentale Features, riesige, beleuchtete Pumptracks, das erste „bikeable building“ der Welt und noch vieles mehr …
Sie habe nicht vielen Leuten von ihrem Umzug erzählt, meint Anneke, „und ich kannte auch nur ein, zwei Leute hier. Aber ich war 2019 das erste Mal in Bentonville, und als ich einen Wechsel wollte, stand es ganz oben auf meiner Liste.“ Die Niederlande passen flächenmäßig entspannt dreimal in Arkansas. Dafür hat Annekes Heimat sechsmal so viele Einwohner. Arkansas, der „Natural State“ mitten in den USA, hat dafür viel Wald und viel Wasser. Und hier im Nordwesten viele, viele Trails.
Strecken, die direkt im Zentrum starten, die um Schulen und Museen angelegt werden. Strecken für Beginner, für Spieler und für Techniker. Seite an Seite. Selbst die Uphills sind perfekt geshapt – ein Traum für E-Mountainbiker. Und immer wieder kreative Features, spektakuläre Bauten und Hubs, an denen man sich trifft, austauscht, gerne verquatscht. In Bentonville gibt es keine isolierten Bikeparks, es gibt Parks, in denen man bikt und in denen alles und jeder zusammenkommt.
Bentonville ist anders als alles, was man kennt. Keine Touristen-Destination, keine Bike-Bum-Town. „Es ist eine andere Dimension“, erklärt Anneke, „und das Besondere ist, dass hier jeder auf dem Rad sitzt.“ Auf den Trails und in der Stadt sieht man Menschen „of all shapes and sizes“, auf Gravel- und Cargo-Bikes, auf Laufrädern, alten Hardtails, neuesten Fullys und teuersten E-MTBs. Auch Letzteres ist keineswegs selbstverständlich: In den USA werden E-MTBs vielfach auf den Trails nicht toleriert. In Arkansas sind sie selbst in den State Parks willkommen.
Benannt nach den Ozark Mountains im Hinterland (nein, nicht das Ozark aus der Netflix-Serie!) sind die OZ Trails inzwischen eine Marke geworden. Was hier im Nordwesten Arkansas in den letzten zehn, fünfzehn Jahren entstanden ist, ist unglaublich. So wie die Geschichte dahinter. Eine Geschichte, die von zwei Männern geprägt ist.
Tom Walton und Gary Vernon begegnen sich 2006 zufällig. Gary – Ex-BMX-Pro und fanatischer Mountainbiker – ist mit seinem kleinen Sohn in den Hügeln nördlich von Bentonville unterwegs. Er trifft auf Tom, der seiner Tante gerade erklärt, was er hier vorhat. Seiner Familie gehört das Land. „Ich habe mitbekommen, dass es um Bike-Trails geht und habe ihn sofort angesprochen. Ich hatte schon gehört, dass sich ein paar Leute zusammenschließen wollen, um Strecken zu bauen, und ich sagte ihm, dass ich unbedingt dabei sein wolle.“ Die drei stellen sich einander vor. Und Gary versteht, wen er vor sich hat.
Tom entdeckt während des Studiums in Flagstaff/Arizona das Biken. Und während Gary für seine Arbeit bei Walmart nach Bentonville gezogen ist, stammt Toms Familie von hier. Walmart, das umsatzstärkste Unternehmen der Welt, hat hier seinen Firmensitz. Mit Tom ist es so: Seiner Familie gehört Walmart. Opa Sam Walton hat die weltweit größte Handelskette 1962 hier gegründet, und die Waltons zur reichsten Familie der Welt gemacht. Tom und Gary starten also mit fünf Trail-Meilen – und formen dabei eine Vision …
„Tom sitzt da drüben im Meeting“, sagt Gary und weist den schmalen Gang hinab. Er führt durch die kleinen Räumlichkeiten der Runway Group, seit 2016 sein Arbeitgeber. Damals gründet Tom mit seinem Bruder Steuart das Unternehmen mit dem Ziel, den Nordwesten Arkansas zum „best place to live“ zu machen – durch die Förderung von Outdoor-Aktivitäten, allen voran dem Mountainbiken. Gary hat eine Dekade ehrenamtlich OZ Trails mitaufgebaut, jetzt ist es so groß und zeitaufwändig geworden, dass es an der Zeit ist, das Projekt vollberuflich zu verantworten.
Die Räumlichkeiten von Runway liegen im Zentrum von Bentonville in einem kleinen Steinbau über einem Bikeshop und einer Bar. Jede Münchner Werbeagentur residiert pompöser. Der 39-jährige Milliardär mag es generell unaufgeregt und unauffällig. Er bewegt sich in seiner Heimatstadt ganz normal. Vorzugsweise auf dem Bike. An seiner Seite: Bike-Buddys statt Personenschutz.
Es braucht seine Zeit, bis man das Geflecht an Stiftungen, Organisationen, Clubs und Vereinen halbwegs durchschaut hat. Halb Bentonville scheint auf die ein oder andere Art eine Rolle im OZ-Projekt zu spielen. Gary schmunzelt: „Das Geflecht ist wahrscheinlich noch dichter als unser Trail-Netz.“
Da sind die Women of Oz, die schon im Gründungsjahr 2019 explosiv auf Hunderte von Frauen anwuchsen – und bei der ein oder anderen veränderte das Rad auch das Berufsleben: Gründerin Allyson de la Houssaye arbeitet inzwischen für die landesweite Lobby-Organisation People for Bikes. Kyla Templeton hat 2021 die Bike School gegründet, in der sie die lokalen Kids trainiert. Ashley Patterson leitet das kostenlose Mobilitätsprogramm bei Walmart. Und Jess Hanna kennen viele als @Jessthemaker auf Instagram.
Da sind die Trailblazers, die sich um den Unterhalt der Trails kümmern. Oder die sieben Feuerwehrleute, die eine Ausbildung bei der Professional Mountain Bike Instructor Association gemacht haben und nun im Notfall von den Bikern gerufen werden. Ob bei einem Unfall oder einem Kettenriss … Da ist Josh, der Chef des sechsstöckigen Coworking Hubs namens Ledger – dem besagten mit Rad befahrbarem Gebäude. Er fährt nicht nur mit dem Rad ins Büro, sondern droppt auch mit AirPods im Ohr in den Trail. Ein Call im Wallride? Kein Problem. Als erster Mieter zog Specialized mit einem Experience Center ins Ledger. Store Manager Brandon Vaughan sagt, er verkaufe zu 80 Prozent E-Mountainbikes…
Dann ist da David Wright, der die Stadtparks verantwortet und mit Begeisterung erzählt, welches nächste Grün mit Trails durchzogen werden wird. Und da ist Garys Chef, Chris Seay (ein Halb-Heidelberger), dem als urbaner Commuter vor allem die städtische Rad-Infrastruktur am Herzen liegt – während seine Frau Kim die People-of-Color-Bike-Rides initiiert hat.
Genau das sei der Punkt, meint Gary. „Klar denken die Leute: Ist ja einfach, wenn man einen Milliardär hat, der die Schecks ausstellt. Aber das ist es eben nicht. Die finanzielle Grundlage ist natürlich extrem wichtig, aber so was wie hier kann man nicht mit Geld kaufen. Es braucht mehr. Es braucht Menschen.“
Anneke nickt. „Den Vorwurf, dass das Walmart-Geld einen Bike-Traum schaffe, kenn’ ich. Aber wenn sie herkommen, sagen die Leute bald gar nichts mehr. Dann kommen sie wieder, und beim dritten Mal schauen sie sich nach einem Haus um.“ Die 41-jährige Weltmeisterin ist in der Bike-Town inzwischen nicht mehr wegzudenken. Sie hat ihr Crank-it-up-MTB-Business fest in Bentonville verankert, coacht jede und jeden – seit diesem Jahr als Skills Coach auch das USA Cycling Team. Das hat seit diesem Jahr eine Außenstelle in Bentonville mit einem Büro (natürlich) im Ledger.
In den USA klafft die Trail-Regulierung für MTB und E-MTB noch immer auseinander. In vielen Regionen ist das E-MTB tabu. Auf den OZ Trails und sogar in den State Parks ist es aber legal und zahlreich vertreten.
Etwa die Hälfte ihrer „Schüler“ sitzen auf dem E-MTB. „Ich liebe das E-MTB. Vielleicht auch, weil ich eine Schwäche für Motocross habe. Aber ehrlich: Es ist schon schwer, das E-MTB nicht zu lieben.“ Für jemanden wie Anneke, die es spielerisch mag und die wie kaum eine andere die ganze Vielfalt des Sports auslebt, ist Bentonville ein Traum-Terrain. „Ich könnte den ganzen Tag die rollenden Jumplines fahren. Wenn ich abends noch mal Lust auf eine Runde habe, dann schnapp’ ich mir mein E-MTB und fahre eine halbe Stunde Choo Choo oder Leopard’s Loop. Es gibt Monster-Gaps, und es gibt viel wildes Terrain – schmales, technisches Singletrack-Land.“
Es ist schwer vorstellbar, dass Bentonville vor einem guten Jahrzehnt noch ganz anders aussah. „Es war eine Company Town“, sagt Gary. „Als ich 2003 herzog, gab es einen Burger-Shop am Square und sonst nichts.“ Walmart musste seine Leute gut bezahlen, um sie herzulocken. Heute ist das Stadtbild geprägt von Röstereien und Restaurants, kleinen Shops und großer Kunst, die vor allem durch Toms Tante Alice Walton in die Stadt geholt wird. Crystal Bridges zählt zu einem der bedeutendsten Museen zeitgenössischer Kunst. Und ist genauso kostenlos wie die Trails – die selbstredend direkt um das Museum zirkeln. Bentonville hat sich von einer Company Town zu einer Boomtown gewandelt – „und ins Rollen gebracht hat das das Bike“, sagt Gary. „Wir sind das beste Beispiel dafür, wie das Rad eine Stadt komplett transformieren kann. Und es ist schon auch Teil unserer Vision, andere zu inspirieren“, meint er und schiebt mit einem Augenzwinkern hinterher: „Es müssen ja nicht gleich unsere Dimensionen sein…“
Bentonville liegt im Nordwesten von Arkansas. Der Northwest Arkansas National Airport XNA liegt wenige Kilometer vor der Stadt. Innerhalb der Stadt und für die zentralen Trail-Netze benötigt man kein Auto. Als Reisezeit empfehlen sich Mai/Juni (viele Veranstaltungen) sowie September/Oktober. Die Sommer können sehr heiß werden.
Die aktuell neun OZ-Trail-Netze im Nordwesten Arkansas liegen in und um Bentonville, erstrecken sich in die südlich angrenzende Stadt Fayetteville und die State Parks. E-MTB -Restriktionen gibt es keine. Die Highlights in Bentonville:
Der Einstieg zu den 70-Trail-Kilometern liegt mitten im Zentrum von Bentonville. Der All American führt durch den Compton Park – vorbei am Crystal-Bridges-Museum – gen Norden und öffnet sich in ein wildes Streckengeflecht mit spaßigen Jumplines genauso wie ruppigen, naturbelassenen Singletracks. Die Krönung ist das Castle, ein spektakulärer Holzbau, der als Hub dient, von dem man auf vier Lines startet.
Die 35 Kilometer in Coler sind ein Mix aus allem: Sechs Meter ragt in Coler der Hub aus Holz und Stahl empor, und nicht weniger massiv präsentieren sich die Monster-Gaps auf Drop the Hammer. Gegeneinander antreten kann man auf der Dual-Slalom-Strecke, sich kräftig durchrütteln lassen auf Rock Solid und Rock Salad, und natürlich gibt es auch hier zig flowige Funlines. Mitten im Parkgelände trifft man sich im Airship-Café.
Je weiter nördlich man kommt, desto dichter wird das Natur-Trail-Geflecht: technisch anspruchsvoll in Handcut Hollow; lang und variantenreich in Bella Vista wie u.a. der Back 40 Loop.
Östlich der Stadt liegt eine der größten Anlagen, die Pumptrack-Spezialist Velosolutions je gebaut hat: fünf asphaltierte Tracks in unterschiedlichen Levels gespickt mit Hindernissen und spektakulären Features. Er ist beleuchtet und im Sommer bis 22 Uhr geöffnet.
Im Nordwesten liegt mit Handcut Hollow technisches Singletrack-Land mit anspruchsvollen Natur-Trails, und durch Bella Vista entspinnt sich ein Netz aus schmalen Wegen, auf denen man endlos Meilen machen kann.
Weitere Infos gibt es bei OZ Trails und dem Tourismusbüro von Bentonville.
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