Christian Penning
· 13.05.2023
Touren mit dem Gravelbike mit grandioser Bergkulisse und wilden Gletscherlandschaften ohne Autoverkehr? Das gibt es: Wir zeigen eine 3-Tages-Gravel-Tour mit knackigen Kletteretappen auf Schotter und rasanten Abfahrten im Bann der legendären Eiger-Nordwand.
Was hat der Erstbesteiger der Eiger-Nordwand mit dem modernen Gravelbike zu tun? Auf dem Weg zu den großen Gipfeln der Alpen und der Welt schwang sich anno 1938 auch Kletterpionier Anderl Heckmair regelmäßig aufs Fahrrad. Wie alle Bergvagabunden damals war er knapp bei Kasse. Der Ritt über die geschotterten Pässe war die günstigste Möglichkeit, um ans Ziel zu kommen. Heute sind die meisten dieser Bergrouten asphaltiert. Perfekt fürs Rennrad – eigentlich. Wären da nicht die Blechkolonnen, die sich im Hochsommer über die schönsten Alpenpässe wälzen.
Doch es gibt sie noch, die alpinen Refugien unter den Pässen, die so gut wie frei sind von motorisiertem Verkehr. Eine dieser Strecken für Gravelbikes führt direkt am Fuß der legendären Eiger-Nordwand entlang. Serpentine um Serpentine schraubt sich das Sträßchen oberhalb des Bahnhofs Grindelwald hinauf Richtung Kleine Scheidegg. Für meine Begleiterinnen Andrea und Patrizia ist es die erste Gravelbike-Tour überhaupt. Die beiden haben bereits unzählige Alpenüberquerungen mit dem Mountainbike in den Beinen, dazu jede Menge Pässe mit dem Rennrad. Graveln im Hochgebirge – geht das überhaupt?
Mächtig. Dunkel. Bedrohlich. So ragt die Eiger-Nordwand als Kulisse über den Alpwiesen rund um Grindelwald auf. Hebt man den Kopf, ist man sofort mittendrin in den Dramen und Heldengeschichten. Mehr als 70 Menschen haben bei der Besteigung im Laufe der vergangenen 100 Jahre ihr Leben verloren. “Mordwand” wird sie deshalb bisweilen genannt. Dabei hat die Szenerie eher etwas Liebliches. Schmucke Holzchalets wechseln mit urigen Bergbauernhöfen. Das Gebimmel von Kuhglocken untermalt die meditative Kurbelei auf der autofreien Route. Kitschig schön.
(Per Klick geht’s zu den Routenbeschreibungen)
Nach rund zwei Dritteln der 1125 Höhenmeter hinauf zur Kleinen Scheidegg geht’s zur Sache. Oberhalb der Waldgrenze endet der Asphalt. Der schottrige Untergrund und steile Rampen – deutlich jenseits der durchschnittlichen Steigung von 12,7 Prozent auf der 8,8 Kilometer langen Teiletappe – fordern Kraft und Konzentration. Der Puls pocht. Der Atem keucht. Schön im Sattel bleiben und gleichmäßig treten, damit das Hinterrad nicht durchdreht. Patrizia zieht in Pantani-Manier davon. An der Alp Bustiglen nähert sich von hinten Konkurrenz. Mit summenden Motoren ziehen zwei E-Biker locker vorbei. Ich beneide sie. Noch bequemer hatten es nur die betuchten Damen und Herrschaften, die sich um 1900 herum in Sänften zum Grandhotel Bellevue auf der Passhöhe tragen ließen. In Gedanken wedle ich mir mit dem Fächer frische Luft zu. Es ist heiß. Der Durst wächst. “Flasche leer”, meldet Andrea, als die Kleine Scheidegg auf 2061 Metern Höhe erreicht ist. Zeit, in einem der Bergrestaurants die Flüssigkeits- und Kohlenhydratspeicher aufzufüllen.
Zu Hochzeiten herrscht auf der Kleinen Scheidegg zwischen dem Grandhotel und der Bahnstation der Jungfraubahn ein Trubel wie in der U-Bahn-Station am Münchner Stachus. Mit Fernrohren bewaffnet zoomten sich hier schon vor 90 Jahren Schaulustige von den Hotelterrassen in die Eiger-Nordwand, um die Erstbesteigungsversuche mit schaurigem Kribbeln mitzuverfolgen. Auch Andrea und Patricia wollen noch näher heran an das vermeintlich ewige Eis, das in diesem Sommer schmilzt wie Gelato in den Straßencafés von Grindelwald. Ein kurzer Abstecher führt 100 Höhenmeter weiter bergauf zum Speichersee am Fallboden. Immer wieder tönt das Donnern einstürzender Eistürme von den Gletscherbrüchen des Eiger-Gletschers herüber.
Abenteuerlich wird es auch auf der Abfahrt nach Wengen. “Links oder rechts?” An einer Verzweigung der Schotterpiste an der Wengernalp führen zwei Routen ins Bergdorf Wengen. “Rechts!”, entscheidet Andrea. Nach einigen Serpentinen wird der Weg steiler und enger, ein rauer, holpriger Karrenweg. Die Finger krampfen in die Bremshebel beim Versuch, das blockierende, schleudernde Rad zu kontrollieren, um nicht ungebremst bergab zu schießen.
Kein Wunder: Im Winter führt das Lauberhorn-Skiabfahrtsrennen diese Bergflanken hinab. Die Fahrer sind mit bis zu 160 km/h unterwegs. Dagegen bewege ich mich im Schneckentempo. Dennoch atme ich auf, als der Weg endlich flacher wird. Die Bremsen qualmen. Höchste Zeit, ihnen eine Pause zu gönnen. Ein Blick auf die Karte zeigt: Die offizielle, definitiv weniger steile Route, wäre oben links abgezweigt. Na ja, alles gutgegangen. “Ein bisschen Abenteuer muss sein”, meint Andrea grinsend. Nach dem Downhill sind Ausdauerqualitäten gefragt. Gut 800 Höhenmeter bergauf sind es von Lauterbrunnen nach Mürren. Gut, dass es eine Alternative gibt. Mit der Gondelbahn von Lauterbrunnen zur Grütschalp lässt sich die stramme Bergwertung auf rund 400 zahme Höhenmeter reduzieren
Als sich die Sonne am nächsten Morgen über die Felsgrate von Eiger und Silberhorn schiebt, sitzen wir bereits wieder im Sattel. Wilde Verfolgungsjagden im James-Bond-Thriller “Im Geheimdienst Ihrer Majestät” haben Mürren Ende der 1960er-Jahre weltberühmt gemacht. Den Adrenalinspiegel nach oben schießen lässt auch das Schluss-Stück unserer Abfahrt ins Lauterbrunnental. Nach einer fließenden, welligen Trail-Passage durch den Bergwald bringt eine Steilpassage Bremsen und Radler ans Limit. Eine größere Bremsscheibe und Vierkolbenbremsen à la Mountainbike wären jetzt nicht verkehrt. Für ein kurzes Stück ist Schieben angesagt – sicher ist sicher. Verglichen mit den Aktivitäten anderer Sportler ist unser Tiefflug auf dem Rad noch harmlos. Die mehrere Hundert Meter hohen Felswände des Lauterbrunnentals sind ein Mekka der Basejumper.
Deutlich zahmer gestaltet sich der zweite Teil der Etappe entlang der Nordseite des Brienzer Sees. Welch ein Kontrast! Beim gemäßigten Auf und Ab wechseln Waldpassagen und Alpwiesen mit Blick auf die türkisfarbenen Fluten. Auf Koppeln grasen Pferde. Die Sonne brennt vom Himmel. Die ersehnte Erfrischung wartet am Brienzer See. Also runter vom Rad und bei einem Eis am Ufer die Seele baumeln lassen.
Genug geträumt. Die finale Bergetappe führt am nächsten Morgen von Meiringen zurück ins Hochgebirge. Im Aufstieg zur Großen Scheidegg stehen satte 1.400 Höhenmeter am Stück an. Ein langgezogenes, doppeltes “Tüü tata, ... tüü tata!” ertönt nahe der Breitboden-Alp von hinten. Das Zeichen, auf dem schmalen Sträßchen Platz zu machen. Dabei entdeckt Andrea wenige Meter entfernt ein paar Alphütten. “Da decken wir uns doch gleich für die Brotzeit mit Käse ein”, ruft Patrizia. Senner Franz Winterberger läuft gerade zu einer auf Stelzen gebauten, sonnengegerbten Holzhütte. Sie schützen das wertvolle Inventar vor Mäusen. “Kommt, ich zeig’ Euch was”, sagt er. Im auffallend kühlen Inneren der Hütte lagern Dutzende riesige Käselaibe. Liebevoll erklärt Franz, wie er sie während ihres Reifeprozesses wöchentlich mehrmals wende und abreibe, um sie vor Schimmel zu schützen. Mit reichlich Bergkäse in den Packtaschen geht es an die letzten 500 Höhenmeter des bis zu 15 Prozent steilen Passes. Schon mehrmals führte die Königsetappe der Tour de Suisse auf die Große Scheidegg.
Anders als die Profis legen wir auf der Passhöhe einen Stopp ein. Sich gleich in die Serpentinenabfahrt nach Grindelwald zu werfen, wäre viel zu schade. Neben der Kleinen Scheidegg zählt der Übergang zweifellos zu den schönsten Panorama-Spots der Tour. Patrizia und Andrea haben es sich neben ihren Rädern auf der Bergwiese gemütlich gemacht. Die Weggli, die Patrizia morgens in der Bäckerei besorgt hat, belegt sie mit dicken Käsescheiben. “Besser als jeder Energieriegel”, meint Andrea. “Schade, dass unsere Tour schon zu Ende geht.” Sie blickt hinüber zu den Felswänden von Wetterhorn und Eiger. “Da wird es schwer, auf meine erste Gravel-Tour noch etwas draufzusetzen”, fügt sie kauend hinzu. “Am meisten imponiert mir die Vielseitigkeit der Route: die grandiose Gletscherkulisse, die engen Schluchten, die tiefen Wälder, der Abstecher zum See, … “ – “… und dabei drei Tage lang fast ohne Autoverkehr unterwegs zu sein”, ergänzt Patrizia. Kurz: eine Mords-Tour im Bann der Mordwand.
Das Netz öffentlicher Verkehrsmittel ist in der Schweiz gut ausgebaut. Ab Zürich per Bahn bis Grindelwald ca. 2,5 Stunden. Infos gibt es bei den Schweizerische Bundesbahnen SBB.
Mit dem Auto über München: A96 Lindau – A14/A13 Rheintal – Sargans – Walensee – Baar – A14 Luzern – A8 Interlaken – Grindelwald
Mit dem Auto über Stuttgart: A81 Singen – Schaffhausen – A1 Zürich – A4 Baar – weiter wie Route München
Zahlreiche Hotels und Pensionen findet man in allen Orten entlang der Strecke.
Weitere Infos:
Im Velo Cafe kann man nicht nur feinen italienischen Espresso und Cappuccino schlürfen. Auch die Energiespeicher lassen sich in der stilvollen Location mit veganen und vegetarischen Leckereien prima auffüllen. Ein Pflichtstopp.
Die Rund-Tour führt vom Fuße der legendären Gletschermassive von Eiger, Mönch und Jungfrau größtenteils über autofreie Schotterwege und Bergsträßchen zum Brienzer See und zurück. Auf den ersten beiden Etappen warten ein paar knifflige, steile Passagen in den Abfahrten. Als Alternative zur konditionell anspruchsvollen ersten Etappe mit 2.100 Höhenmetern ist eine entschärfte Variante mit 1200 Höhenmetern möglich – allerdings ohne das Highlight der Kleinen Scheidegg.
35 Kilometer, 2100 Höhenmeter bergauf, 1500 Höhenmeter bergab
Ohne langes Warmkurbeln geht es gleich in die Vollen: 1100 Höhenmeter am Stück zur Kleinen Scheidegg. Zunächst auf einem kleinen Asphaltsträßchen, dann auf Schotter. Die Kleine Scheidegg ist der Panorama-Spot mit Traumblicken auf Eiger und Jungfrau. Weiter auf der Bike-Strecke Nr. 1 über Wengen ins Lauterbrunnental. Teils steile Abfahrt, solide Fahrtechnik und gute Bremsen sind unerlässlich. Von Lauterbrunnen auf der Bike-Route 450 nach Mittelberg und von dort auf Asphalt weiter nach Mürren. Alternative (ca. 400 Höhenmeter weniger): von Lauterbrunnen mit der Gondelbahn zur Grütschalp und auf Schotterwegen nach Mürren.
Alternativroute ohne Kleine Scheidegg: 28 Kilometer, 1200 Höhenmeter
Rast-Tipps: Chaletbar, Kleine Scheidegg () Pizza im Eiger Guesthouse in Mürren ()
60 Kilometer, 800 Höhenmeter bergauf, 1800 Höhenmeter bergab
Von Mürren auf der Bike-Route 450 auf kleinen und teilweise steilen Asphalt- und Alpwegen über Gimmelwald nach Stechelberg (kurze Schiebepassage bergab). Nun das Lauterbrunnental talauswärts und über Zweilütschinen nach Interlaken. Der Großteil dieses Abschnitts führt über Schotter und einfache Trails. Am nördlichen Ufer des Brienzer Sees entlang in ständigem Auf und Ab nach Brienz. Von dort flach entlang der Aare auf dem Radweg Nr. 8 nach Meiringen.
Rast-Tipp: Velo Cafe Interlaken
30 Kilometer, 1.000 Höhenmeter bergauf, 1.050 Höhenmeter bergab
Von Meiringen am Reichenbachfall entlang zum Berghotel Rosenlaui. Ab Rosenlaui ist die schmale Fahrstraße für den Autoverkehr gesperrt. Über die Alp Breitboden und die Schwarzwaldalp zum höchsten Punkt des Tages, auf die Große Scheidegg (1962 Höhenmeter). Tipp: von hier optionaler Abstecher zum Aussichtsberg First möglich (Schotter und Trails, 200 zusätzliche Höhenmeter), ehe es in die Serpentinenabfahrt nach Grindelwald geht.
Rast-Tipps: Chalet Schwarzwaldalp an der Auffahrt zur Großen Scheidegg, C und M Café Grindelwald
Einige steile Schlüsselstellen pfeffern den grandios vielseitigen Eiger-Loop.
Auf den Höhen über 2.000 Meter liegt teils bis Juni noch Schnee. Ideal sind die Monate Juli bis September. Auch im Hochsommer warme Bekleidung und Regenschutz für die hohen Pässe einpacken.
Buch: Eiger-Nordwand, Thomas Ulrich, Daniel Anker, AS Verlag > HIER erhältlich*
Karten: Swisstopo Landeskarte Schweiz 5004 Berner Oberland, 1:50 000 > HIER erhältlich*