Gar nicht so leicht, in den Ostalpen noch wilde Winkel zu entdecken. Man findet sie oft eher zufällig. So wie das Valchiavenna, ein ursprüngliches Tal zwischen den Hotspots Engadin und Comersee.
Text: Michael Marquardt
Dolinen, Schlucklöcher und Höhlen sind die ersten Vokabeln, die man lernt, wenn man im Valchiavenna auf Tour geht. Vor allem hier oben auf der Pian dei Cavalli, einer Karstlandschaft mit trichterförmigen Löchern im Boden und das Ganze mit grünem Almgras-Teppich überzogen. Ich muss schon genau hinschauen, wie ich die nächste Trail-Serpentine bergauf anfahre, denn das kantige Geröll kippelt unter den Reifen auch gern mal weg.
Wörtlich übersetzt heißt dieses Gelände zwar "Pferde-Hochebene", aber der Pfad klettert schon eine Weile streng bergauf. Trotz E-Unterstützung habe ich Mühe, an Local Filippo dran zu bleiben, während der jeden Felsbuckel auf dem Weg als Schanze nutzt. "Balkon des Splügentals" wird die Pian dei Cavalli auch genannt – und das kann man sofort nachvollziehen. Denn wir kurbeln auf einer Höhe von bald über 2000 Metern und die freie Aussicht über das Valchiavenna und auf die Splügener 3000er-Gipfel wächst schnell.
Es sind überraschend einsame Berge, obwohl sie die Grenze zwischen Ost- und Westalpen markieren und sich in direkter Nachbarschaft mit den Tourismusmagneten Engadin und Comersee befinden. Und genau das hat mich und meine Frau so begeistert, als wir vor etwa sieben Jahren das erste Mal ins Valchiavenna kamen.
Eigentlich wollten wir damals nur für ein Schneeschuh-Wochenende bleiben, doch dann verliebten wir uns so in dieses ruhige, italienische Tal zwischen Splügenpass und Chiavenna, dass wir uns hier schon bald eine kleine Ferienwohnung kauften. Seither erkunden wir diese wilde Bergwelt mit all ihren Wasserfällen, Bergseen, Crotti und uralten Römerwegen – und lernen nach jeder Tour eine neue Facette des Tals kennen.
Mit dem E-MTB bin ich heute allerdings das erste Mal unterwegs. Filippo hatte mir eindringlich dazu geraten und tatsächlich war schon die Auffahrt zur Pian dei Cavalli nicht ohne. Etwa 800 steile Höhenmeter liegen bereits hinter uns, seit wir im kleinen Bergdorf Madesimo gestartet sind. Nach einer kurzen Abfahrt hieß es bald stetig steile Serpentinen hochklettern. Viel im Wald, aber auch über Lichtungen mit kleinen Weilern und hübschen Höfen. Doch seit der Baumgrenze geht's nun auf einem Bergpfad weiter. Weiter über diese, alles andere als ebene, Hochebene.
Jetzt schlägt der Trail auch noch enge Haarnadelkurven. Ohne Motor hätte ich wahrscheinlich schon längst aufgegeben und geschoben. Doch mit dem E-MTB sind sie machbar. Zumindest für Filippo. Ich aber habe entweder zu wenig Schwung in den Trail-Kehren und kippe samt Bike einfach um – oder zu viel und schieße unkontrolliert über die Kurven hinaus. Anfängerprobleme, die mein Guide an dieser Stelle wohl schon häufiger gesehen hat und die dank seiner Fahrtechnik-Tipps erstaunlich schnell behoben sind. Gott sei Dank, denn bis zum höchsten Punkt der Tour, am Lago Bianco, fehlen noch mehrere Hundert Höhenmeter.
Bisher kannte ich diese Tour nur komplett in Weiß, also als Freeride-Tour mit dem Snowboard. Die Wintersaison zieht sich hier oft bis weit ins Frühjahr hinein. Dann carvt man hier oben morgens seine Schwünge in den Firn und legt sich am Nachmittag bei sonnigen 20 Grad an den Comersee. Doch jetzt, anfang Juli, sind die letzten Schneereste im Karstboden versickert. Um uns herum breiten sich sattgrüne Wiesenbuckel aus. Schon im August wird hier alles mit Wildblumen übersät sein.
Noch zwei Trail-Kurven, dann liegt er ganz still da in seinem Wiesenbett, der Lago Bianco. Ein paar Wolken spiegeln sich in seinem glasklaren Wasser und der Gipfel des Monte Bardan. Ich bin froh, dass ich trotz der 30 Grad unten im Tal nicht die Badehose, sondern doch lieber eine warme Jacke eingepackt habe. Der Wind ist echt frisch, aber die Aussicht unfassbar schön. Die Augen wissen gar nicht, was sie zuerst fokussieren sollen: Zwischen den Grenzpfeilern Pizzo Tambo und Piz Por schlängeln sich die Asphaltkehren zum Splügenpass hinauf. Darunter weitet sich die Valchiavenna-Ebene. Vereinzelt erkennt man in den Talflanken ein paar Weiler, also Steinhütten, die heute noch von Viehwirten genutzt werden. Oder von Einsamkeit liebenden Menschen zu einer sogenannten Baita umgebaut wurden.
Der Bergsee strahlt jetzt blau wie der Himmel über uns. Ich kann nicht fassen, dass wir diese Naturschönheit ganz für uns allein haben. „Nicht ganz...!“, meint Filippo und deutet auf eine Wiesenkuppe. Tatsächlich traben gerade ein paar Haflinger über die Kuppe, bald sammelt sich eine richtige kleine Herde an. Die Tiere nehmen keine Notiz von uns, schließlich sind sie zum Grasen hier. Ich hatte gehofft, hier oben Pferde anzutreffen. Schließlich ist es ja die „Pian dei Cavalli“ – die Ebene der Pferde. Ihre Weiden werden noch immer landwirtschaftlich genutzt. So wie bereits vor 10.000 Jahren, als in den Alpen noch nomadische Jägerstämme von Alm zu Alm zogen.
Das jedenfalls haben Forscher herausgefunden, die auf der Pian dei Cavalli insgesamt 15 prähistorische Stätten ausgegraben haben. Scheinbar hat man die Hochebene damals schon als lohnendes Ziel mit viel Aussicht zu schätzen gewusst. Auch die alten Römer waren im Valchiavenna unterwegs. Allerdings interessierten die sich mehr für wegsame Handelsrouten über die Alpen. Schon damals karrten sie Waren von Venedig über den Splügenpass weiter nach Chur oder über den heutigen Maloja-, Septimer- und Julierpass gen Norden. Das machte die Talhauptstadt Chiavenna schon früh zu einem wichtigen und reichen Verkehrsknotenpunkt.
Ihre historische Altstadtgassen erzählen noch aus dieser einträglichen Handelsrouten-Zeit, die bis zum Bau der großen Alpentunnel anhielt. Danach wurde es schlagartig still im Tal. Still, aber nicht arm. Chiavenna gehört zu den internationalen Kleinstädten, die sich der „Cittàslow“-Bewegung angeschlossen haben. Ihr Konzept ist die Entschleunigung mit Besinnung auf lokalen Anbau und die eigene Kultur. Für eine Verbesserung der Lebensqualität in der Stadt. Viele Talbewohner pendeln auch täglich in die nahegelegene Schweiz zur Arbeit, während die Schweizer zum günstigen Einkaufen nach Chiavenna kommen. Filippo dagegen hatte bereits früh eine Mountainbike-Karriere im Kopf. In Madesimo aufgewachsen, folgte er schon als Kind seinem Vater auf die Trails. Schnell entwickelte sich daraus eine Leidenschaft und mit 19 Jahren startete er seine Profi-Rennkarriere. Dabei kam er viel rum und hat viele Alpenregionen und deren Bikeparks erlebt.
Jetzt, 20 Jahre später, freut er sich über das Bike-Revier vor der eigenen Haustür: „Das Valchiavenna ist sicher nicht der erste Google-Treffer, wenn man "Mountainbiken in den Alpen" eintippt. Aber wo kannst du noch stundenlang in solch einer Landschaft fahren, ohne jemandem zu begegnen?“ Dennoch ist Filippo auch froh über den taleigenen Bikepark und deutet auf die gegenüberliegende Hochebene Alpe Groppera. Die Seilbahn dort hinauf startet sogar mitten in Madesimos Fußgängerzone. Oben habe man dann die Wahl: Von der einfachen Flow-Line bis hin zu einigen naturbelassenen Steilabfahrten. „Wenn du jetzt gleich Spaß auf dem Trail nach Starleggia hinunter hast, dann nehme ich dich morgen mit in den Park. Denn etwas Mut braucht man da drüben schon.“ Okay, dann los!
Zwischen Splügenpass, Engadin und Comersee wird das Valchiavenna von Durchreisenden gern übersehen. So konnte sich dieses Tal seine ursprünglichen Naturschönheiten erhalten – und einen eigenen Bikepark bauen.
Das Valchiavenna gehört zur italienischen Provinz Sondrio in der Lombardei und zieht sich in Nord-Süd-Richtung vom Splügenpass bis fast zum Comersee hinunter. Gerade der obere Abschnitt, nördlich des Hauptortes Chiavenna (333 m) und rund um den Ort Madesimo (1550 m), liegt abseits der typischen Touristenströme gen Süden. Wer nach ruhigen Bergerlebnissen sucht, wird hier bis in Gipfelhöhen von über 3000 Metern fündig. Tourenbiker müssen sich auf rampenhaltige Routen einstellen, mit dem E-MTB sind die Anstiege aber gut machbar.
Mit dem Auto erreicht man das Valchiavenna von Deutschland aus entweder über den Splügenpass (geöffnet von Mai bis Oktober, je nach Schneelage) oder übers Engadin und den Maloja-Pass (ganzjährig). Fahrzeit aus Süddeutschland ca. 5 Stunden. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln wird die Anreise etwas komplizierter: Mit dem Zug nach Thusis oder St. Moritz und dann mit dem Schweizer Postauto weiter ins Valchiavenna (Reservierung für den Bike-Transport nötig).
Ausgeschilderte MTB-Trails sind im Valchiavenna – abgesehen vom Bikepark – noch am Entstehen. Daher ist es ratsam, sich die GPS-Tracks vorab herunterzuladen. Der Bikeshop "Made for Fun" von Filippo bietet aber auch geführte Touren an.
In der Fußgängerzone von Madesimo hebt die Seilbahn ab, die ins Skigebiet Valchiavenna hinauf shuttelt. Sie ist auch im Sommer in Betrieb und gipfelt an der Alpe Groppera. Dort oben, an der Larici-Hütte (1900 m), starten die meisten Abfahrten des Bikeparks Madesimo "Madebike Park". Öffnungszeiten: durchgehend von 9:30 bis 17:45 Uhr (Juni u. September nur an den Wochenenden). Preis für die Tageskarte: 35 Euro, Info: madesimo.eu
In Campodolcino gibt es einen Campingplatz und einige nette Unterkünfte im Grünen (Alpe Motta) oder direkt in Madesimo. Einen Besuch im 20 Kilometer entfernten Chiavenna sollte man unbedingt einplanen. Der Hauptort des Tales hat einen spannenden historischen Stadtkern und natürlich jede Menge gute Restaurant-Adressen. Alle Infos zur Region, mit ausgewählten MTB-Touren, Guides, Unterkunftsadresse und Tipps zur Region gibt's auf der Seite valchiavenna.de
In Madesimo starten die Touren bereits auf 1550 Meter Höhe und klettern in Serpentinen die steilen Bergflanken hinauf. Oben öffnen sich auf beiden Talseiten Hochebenen mit viel Panorama und Aussicht auf Trail-Spaß aller Schwierigkeitsgrade.
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Die Klassiker-Tour des Valchiavenna, die kurz und knackig zu einigen der eindrucksvollsten Orte der Umgebung führt und einen Abstecher in den Bikepark ermöglicht: Von Madesimo geht's gen Süden, in langen asphaltierten Serpentinen, die Flanken des Pizzo Groppera (2948 m) hinauf. In Motta di Sotto könnte man einkehren oder man folgt der Bergstraße noch weitere 120 Höhenmeter, bis in Motta di Sopra der Waldpfad zum wunderschönen Lago Azzurro abzweigt. Der See macht seinem Namen alle Ehre und strahlt bei Sonne in allen Blautönen – perfekt für ein Picknick. Anschließend fehlen nur noch 50 Höhenmeter auf aussichtsreicher Schotterstraße bis zur Alpe Groppera (1910 m). Von dort oben könnte man nun komplett auf Asphalt nach Madesimo abfahren. Oder man nimmt nach fast 150 Tiefenmetern den Abzweig auf den Bikepark-Trail. Die beste Variante aber: Man zweigt noch vor der Alpe Groppera, nämlich an der Baita del Sole zum Ristoro Larice ab. Dort starten alle Bikepark-Lines und man hat freie Auswahl was den Schwierigkeitsgrad betrifft.
Einkehr: Am Lago Azzurro gibt es einen kleinen Kiosk, der im Sommer geöffnet hat. Im Zweifel vorher anrufen (Fausto, Tel. 0039/338/2458157). Ansonsten kann man auf der Alpe Motto einkehren, in den Hotels entlang der Route oder am Ende der Tour in Madesimo.
Das Herzstück des Valchiavenna. Schon landschaftlich kann da keine andere Tour in der Region mithalten. Um sie auch entsprechend genießen zu können, geht man diese spektakuläre Runde am besten mit einem E-MTB an. Gerade der Trail oben übers Hochplateau wartet mit ein paar engen Kehren und Rampen auf, die sich mit Schub und guter Fahrtechnik aber gut und sehr spaßig fahren lassen. Los geht's mit einer schnellen Abfahrt nach Ca' di Goss, bevor sich die über 1000 Höhenmeter Serpentinen-Auffahrt vor dem Lenker türmen. Erst auf Asphalt, dann auf Waldwegen und ab Baituscio schließlich auf Trail – und zwar konstant hochprozentig. Da heißt es Rhythmus finden und sich über das schnell wachsende Panorama freuen. Spätestens mit dem Erreichen der Pian dei Cavalli, also der „Pferde Hochebene“, ist der Blick frei bis weit übers Tal und in die umliegenden 3000er. Das kann nur noch der Lago Bianco auf 2323 Meter Höhe toppen. Zurück geht's auf der Hochebene auf demselben Trail, doch dann dreht die Runde über Toiana die südlichen Bergflanken hinunter und fädelt am Ende in die Haarnadelkurven der SS36 und der alten Pianazzo-Straße ein, die 2021 auch beim Giro d'Italia befahren wurde.
Schlüsselstellen: Der alpine Wiesen-Trail über die Pian dei Cavalli schlägt ein paar enge Haken, für die man speziell bergauf ein gutes Handling braucht. Insgesamt lassen sich die Trails der Tour aber mit mittlerer Fahrtechnik gut fahren.
Einkehr: Für eine ausgiebige Rast am Lago Bianco lohnt es sich eine Brotzeit einzupacken. Einkehrmöglichkeiten gibt es dann erst wieder in den Orten in Talnähe.
Über die Alpe Andossi nach Montespluga hinauf, den letzten Weiler der Gemeinde Madesimo, kurz vor der Schweizer Grenze. Auch auf dieser Tour lässt sich der Schwierigkeitsgrad variieren. Zunächst geht's von Madesimo leicht bergan Richtung Talschluss und dann auf nettem Waldwege-Mix, am Rifugio Mai Tardi (1777 m) die Bergflanke zur Alpe Andossi hinauf. Auf diesem fast 2000 Meter hohen Aussichtsbalkon cruist man nun brettebene 12 Kilometer bis nach Montespluga, halb um den See herum und wieder zurück. Dabei lässt sich die Straße zum Splügenpass leider nicht immer umfahren. Die Abfahrt nach Madesimo hat ein paar kurze Gegenanstiege, aber in der zweiten Hälfte auch nette Waldwegpassagen.
Schlüsselstellen: Nennenswert schwierige Abschnitte hat die Tour keine. Regen könnte die Waldabschnitte eventuell etwas rutschig machen.
Einkehr: Unbedingt im sehr urigen Rifugio Stuetta an der Passstraße einkehren. Nette Wirte, bestes Essen und sogar mit Übernachtungsmöglichkeit.