Andreas Kern
· 02.05.2023
Wir haben eine neue Zwei-Tage-MTB-Tour entlang der Route des Bike-Marathons rund um den Schweizer Nationalpark in Graubünden gefunden. Landschaftlich ist die Strecke ohnehin schon eine Wucht. Mit ein paar echten Supertrails aufgepimpt und um Seilbahn, Postauto sowie Rhätischer Bahn ergänzt ist es jetzt die vielleicht schönste Wochenend-Tour des Engadins.
Jedes Jahr umrundet ein Bike-Marathon den Schweizer Nationalpark in Graubünden. Landschaftlich ist die Strecke ohnehin schon eine Wucht. Doch nun hat unser Autor Andreas Kern die Hochgebirgsrunde noch mit ein paar echten Supertrails aufgepimpt, um Seilbahn, Postauto und Rhätische Bahn ergänzt und ist der Meinung: Jetzt ist es die schönste Wochenend-Tour des Engadins.
Die Original-Runde des Bike Marathons um den Schweizerischen Nationalpark in Graubünden hat insgesamt 141,8 Kilometer und 3848 Höhenmeter. Touren-Bikern wird diese Strecke in vier Etappen empfohlen. Für unsere zweitägige Variante haben wir die Strecke modifiziert: mehr Trails und dafür mit Postauto und Rhätischer Bahn abgekürzt.
Im Nationalpark selbst (rätoromanisch: Parc Nazunial Svizzer) ist Mountainbiken streng verboten. Dafür lohnt die Umrundung mit Start und Ziel in Scuol sowie Übernachtungsstopp in Livigno umso mehr. Für ambitionierte Biker mit Sinn für spektakuläre, alpine Urlandschaften gehört diese große Touren-Runde zum Besten, was Graubünden und die Schweiz zu bieten haben.
Biken ist im Schweizerischen Nationalpark strengstens verboten. Macht aber nichts, denn die Route außen herum ist eine der lohnendsten in der Schweiz, wenn nicht sogar in den Alpen.
In puncto fahrtechnische Schwierigkeiten gibt sich die Runde eher zahm, nur selten kratzt eine Passage mal am S3-Niveau. Dafür folgt ein landschaftlicher Paukenschlag auf den nächsten. Einziger Minuspunkt: die hohen Preise in der Schweiz, doch die Kosten lassen sich mit einer Übernachtung im italienischen Livigno abfedern.
Tag eins beginnt nicht im Sattel, sondern im Postauto. Mit einem der „Gelben Engel für Radler“ lässt man sich morgens von der Stradun (Hauptstraße) in Scuol bis ins Val S-charl chauffieren. Ansonsten würde Tag eins zur Monsteretappe mutieren. Inmitten der sgraffito-verzierten Häuser von S-charl (1810 m) geht’s los Richtung Pass da Costainas. An der Alp Astras (2135 m) biegt man rechts ab und schiebt und trägt sein Bike hoch zur Fuorcla Funtana da S-charl (2393 m). Oben wartet das Valbella mit einem der besten Trails Graubündens. Ein echter Geheimtipp! Der Trail endet direkt am Ofenpass (2149 m). Hier heißt es nach der Mittagspause: Richtung Jufplaun kurz schieben und tragen. Die Belohnung wartet am Passo Gallo (2279 m) in Form von schier unendlich vielen Switchbacks hinab zum Stausee. Auch das Grande Finale nach Livigno muss man sich spätnachmittags hart verdienen. Die Auffahrt zum Passo Trela (2295 m) ist steil und hält auch wieder eine längere Schiebepassage bereit.
Parkplätze im Ortszentrum von Scuol sind alle kostenpflichtig. Wer in der Bike-Villa übernachtet, kann u. U. sein Auto bei Werni Dirren stehen lassen. Wenige kostenlose Parkmöglichkeiten gibt’s am östlichen Ortsende beim Langlaufzentrum Manaröl.
Das Val S-charl mit Bilderbuchdorf, Arvenwald God Tamangur, Ortlerblick an der Fuorcla Funtana da S-charl, die mystische Hochebene Jufplaun, fjordartige Stauseen von Livigno
30 Minuten schieben und tragen zur Fuorcla Funtana da S-charl. Am Ofenpass: giftiges Tragestück Richtung Jufplaun. Hinter der Alpe Trela schiebt man 30 Minuten.
Gasthäuser in S-charl und direkt am Ofenpass, Sommerkiosk am Lago di S. Giacomo, Alpe Trela, Rifugio Alpisella, unzählige Restaurants in Livigno
Tag zwei beginnt entspannt mit der Gondelfahrt von Livigno zur Bergstation Carosello 3000. Die liegt „nur“ auf 2750 Metern Höhe, bietet aber eine fantastische Aussicht zum Ortler und zur Bernina. Auf dem gebauten Trail durchs Val Federia zerfließt man schier vor lauter Flow. Nach dem obligatorischen Frühstücks-Boxenstopp in der Alpe Federia wartet der heutige „Scharf-richter“ – der legendäre Pass Chaschauna (2694 m). Wer hier komplett hochkurbelt, hat nicht die schlechteste Kondition. Auf dem neu gebauten Trail surft man genial ins Val Chaschauna hinunter und weiter nach S-chanf. Ab hier geht’s immer talnah das Inntal hinunter nach Zernez. Von der Rhätischen Bahn kann man sich nach Ardez chauffieren lassen (24 Min. Fahrzeit) und dort nochmals trailsurfen gehen. Die spaßige Abfahrt zur Hängebrücke über den Inn muss man danach mit einer Schiebepassage bergauf bezahlen. An der Burg Tarasp und den Grandhotels vorbei zurück nach Scuol.
Die spektakulärsten Passagen an Tag zwei: die Carosello-3000-Bergstation und der Pass Chaschauna. Aber auch die Fahrt entlang des wilden Inns hat ihren Reiz. Am Ende wartet mit der Abfahrt zur Hängebrücke ein letztes landschaftliches und fahrtechnisches Highlight. Unbedingt einen Besuch wert: die Burg Tarasp.
Die ultrasteile Auffahrt aus dem Valle di Federia zum Pass Chaschauna hinauf ist für Normalos unfahrbar, Profis finden hier ein Kraftausdauer-Testpiece vom Feinsten. Der Rest von Tag zwei ist ein langes, landschaftlich grandioses „Ausradeln“. Kurz vor Scuol wartet noch die S3-Abfahrt hinunter zum Inn – und eine Schiebestrecke bergauf.
Einziger Spot für ein zweites Frühstück ist die Alpe Federia. Unten im Engadin bietet jedes Dorf ein Restaurant, in Zernez gibt’s auch einen kleinen Supermarkt in Bahnhofsnähe.
Bester Start- und Zielpunkt für Biker aus Deutschland ist Scuol, der Hauptort des Unterengadins. Mit dem Auto: über den Fernpass nach Imst und Landeck. Ab hier aufwärts am Inn entlang über die Grenze in Martina bis Scuol. Die Anreise mit dem Zug ist möglich, aber kompliziert (mindestens zweimal Umsteigen ab München) und langwierig (mindestens 5:20 h). Infos: www.bahn.de
Wer aus der Mitte oder dem Norden Deutschlands kommt, will nicht unbedingt mitten in der Nacht losfahren, sondern tags zuvor entspannt anreisen. Übernachtungstipp in Scuol: die Bike-Villa von Werni Dirren und Basis von Supertrail Rides. Aber Obacht! Dieses 400 Jahre alte Engadinerhaus ist so wunderschön, dass man vielleicht lieber hierbleibt, als auf Zweitages-Tour zu gehen … Wer sich doch losreißen kann, kommt am Abend von Tag eins in Livigno an. Hier hat man vom Campingplatz bis zum Fünf-Sterne-Superior-Palast die Qual der Wahl. Wir übernachteten in dem kleinen, aber gemütlichen Hotel Del Bosco (www.hoteldelbosco.it) in der Via Teola 160. Einziges Problem: Das Hotel liegt nochmals 100 Meter über dem Zentrum von Livigno.
Der gut sortierte Bikeshop Scuol von Engadin Adventures befindet sich direkt an der Talstation der Motta-Naluns-Seilbahn. Ex-Downhiller Andi Mair repariert (fast) alles. Hier kann man auch ein Bike mieten. Wer in Livigno technische Probleme hat, geht am besten zum The Bikestore in der Via Domenion 91. Wer sich in Scuol schockverliebt hat, sollte unbedingt noch ein paar Tage dranhängen und den ein oder anderen Alpin-Trail probieren – Local Xaver Frieser von Supertrail Rides kennt die besten.
Das erste Postauto von Scuol nach S-charl fährt um 7:35 Uhr. Diesen Bus sollte man unbedingt erwischen, wenn man den ambitionierten Tagesplan bis Livigno einhalten will! Infos: www.postauto.ch Achtung: Die Carosello-3000-Gondel am zweiten Tag fährt nur vom 25. Juni bis 18. September. Die Rhätische Bahn fährt dagegen das ganze Jahr.
Cappuccino. Espresso. Grazie. Mein Italienisch hält sich in Grenzen. Aber was „Valbella“ bedeutet, kann ich gerade noch so erraten: „Schönes Tal“. Kürzer und prägnanter kann man diesen Canyon nicht beschreiben. Ein schmaler Saumpfad gleitet über den flachen Übergang Fuorcla da S-charl, schmiegt sich eng an die steinige Südflanke des Munt da la Bescha, knickt dann nach Süden weg und fällt förmlich hinunter zum Ofenpass. Ein Freudenfest für jeden, der pure Natur-Trails liebt. Als wir an der Straße abschwingen, ist uns beiden klar: Dieses Tal sollte nicht Valbella, sondern Valbellissima heißen.
Valbella klingt italienisch, liegt aber in der Schweiz. Genauer: im östlichsten Zipfel Graubündens, hart an der Grenze zum Vinschgau und den Livigno-Alpen. Zwei Stunden zuvor, unten an der Alp Astras, hatten wir entschieden, nicht wie alle anderen über den Pass da Costainas zu fahren. Was ein Glück! 1500 Biker sausen einmal im Jahr beim legendären Nationalpark Bike-Marathon von Scuol über den Pass da Costainas ins Val Müstair und via Livigno und Pass Chaschauna retour ins Unterengadin.
Die Armen! Erstens sind die landschaftlichen Schönheiten im Renntempo ziemlich ungenießbar. Und zweitens verpassen die Marathonisti das „Schöne Tal“, weil sie unten rum fahren. Doch das Valbella mit der dazugehörigen 2535 Meter hohen Fuorcla da S-charl ist nur einer der fantastischen Vier. Der erste von vier Traumpässen auf unserer Zweitages-Tour. Kaum eine Route packt mehr Highlights in ein Zeitfenster von nur 48 Stunden.
Dabei wäre die Tour rund um den Nationalpark fast ins Wasser gefallen. Zwei Tage vor dem Start war mein Mitradler abgesprungen, ich musste improvisieren. Mein Kumpel Xaver aus Scuol startete schnell einen WhatsApp-Aufruf – und es meldete sich genau einer: Mario. Ich Glückskeks. Der 53-Jährige erweist sich jetzt nicht nur als ausgesprochen fit und fotogen, sondern auch als lebendes Engadin-Lexikon. Zwei Tage Vollgas-Biken samt Heimatkundeunterricht im Sattel.
Die 141 Kilometer des Nationalpark Bike-Marathons kann man mit 1499 Gleichgesinnten im Renntempo durchbolzen. Oder entspannt in drei oder vier Tagen im Touren-Tempo. Bei der Selfguided-Variante wird das Gepäck von Hotel zu Hotel chauffiert. Der Preis dafür ist dann aber auch schweizerisch: ab 320 Schweizer Franken für zwei Übernachtungen, die GPS-Daten und den Gepäcktransfer.
Das ist mir erstens zu teuer, zweitens will ich die Runde in zwei Tagen schaffen und drittens habe ich noch zwei Pässe im Köcher, welche die Runde perfektionieren würden. Pass Nummer zwei unseres ambitionierten Wochenendplans ist eine einsame Schönheit: der Passo Gallo. Die meisten Biker lassen dieses Highlight rechts liegen, weil sie über Döss Radond und das Val Mora kurbeln. Landschaftlich fein, aber uns zu fad.
Trägt man dagegen sein Bike ab dem Ofenpass ein paar Minuten, dann öffnet man die Pforte zur wilden Wunderwelt der Jufplaun-Hochebene und lernt diesen einsamen Passo Gallo kennen. „Passo“ ist dabei fast schon übertrieben. Flacher Wiesenhügel mit Fjordblick und unzähligen, schnell zu fahrenden Kehren trifft den Charakter besser. Man fühlt sich beim flotten Sinkflug zum Lago di Livigno hinunter wie im reinsten Bike-Paradies. Dunkle, zerfurchte Berggesellen sind die einzigen Zeugen des schnellen Abstiegs.
Gegenüber und 1200 Meter über dem Fjord: ein Berg mit dem verheißungsvollen Namen Cima Paradiso. Kiosk oder Fata Morgana? Eben noch vor Entzücken fast in den Fjord geplumpst, finden Mario und ich uns eine Stunde später an einem typisch italienischen Picknickplatz wieder. Kreuz und quer parkende Autos, ein Amore-Pärchen auf geliehenen 26-Zöllern – und wir direkt aus dem Paradies wieder in der Realität gelandet.
Der Tag ist ein langer. Und ich fühle mich schon recht streichfähig. Also kaufe ich vorsichtshalber vier Dosen Cola und zwei labbrige Sandwiches. Weil ich weiß, was mich hier spätnachmittags erwartet. Wieder haben wir zwei Möglichkeiten: wie die Marathon-Meute über den Passo Alpisella, oder über den Passo Trela. Letzteren kennt Mario gar nicht. Aber ich. Also ist die Entscheidung gefallen.
Auf zum dritten der fantastischen Vier! Die Sonne steht schon bedenklich tief, als wir die finalen 400 Höhenmeter in Angriff nehmen. Mario hat Spaß. Er schießt den steilen Fahrweg zur Alpe Trela hoch wie der Bergzeitkönig der Tour de France. Als ich an dem netten Hütten-Ensemble ankomme, hat er sich längst umgezogen und wartet bereits ungeduldig. Weiter! Gleich wird’s dunkel.
Eine halbe Stunde später stehen wir oben am Pass. Gegenüber kleben die Straße zum Passo d’Eira und das Dörflein Trepalle, übersetzt drei Bälle, am Osthang. Woher der seltsame Name rührt, ist nicht überliefert. Dagegen schon, dass der Dorfpfarrer Don Parenti in den 50er-Jahren der Chef der hiesigen Schmugglerbande war – und das literarische Vorbild von Don Camillo. Genau, der mit Peppone.
Livigno, wir kommen! Der Trail vor uns sieht zum Anbeißen aus. Schön schmal, geröllfrei, ein kleines Kunstwerk der lokalen Trail-Bauer. Gegen dieses Sahneschnittchen von einem Pass ist der Alpisella nicht mehr als ein verkochter Erbseneintopf.
Neuer Tag, neues Touren-Glück. Drei der vier geplanten Pässe liegen hinter uns. Heute folgt der Pflicht die Kür. Aber wir sind vorgewarnt: Der Pass Chaschauna ist ein ganz hinterhältiger Geselle. Seine hundert Jahre alte Militärstraße zieht so gnadenlos steil hoch zur alten Kaserne, dass man beim Hochschieben schon fast rückwärts umfällt. Und Mario? Der fährt jeden Meter. Vielleicht ist er ja gar nicht Mario, sondern Supermario?
Als ich schiebend aufschließe, sonnt er sich schon seit einer halben Stunde an der Hauswand. Gleich geschafft! Keine hundert Höhenmeter, und wir stehen an der flachen, tibetisch anmutenden Passhöhe. Mein Kumpel Xaver hatte mir letztes Jahr von dem Geniestreich der Bike-Locals aus S-chanf erzählt. Die haben 1,7 Millionen Franken aus der Dorfkasse herausgekitzelt, um in die Nordflanke des Chaschauna einen lustig bergab mäandernden Flow-Zirkus in die Engadiner Urlandschaft hineinzuschnitzen. Bestens angelegtes Geld!
Ich mag die Hängebrücke über den Inn unterhalb von Ardez besonders gern. Wahrscheinlich, weil sie mein Opa gebaut hat. – Mario Riatsch
Tausend Tiefenmeter später strecken Mario und ich die Füße in den eiskalten Inn. Aber wir sind noch lange nicht zurück in Scuol. Die Kombi aus zu viel fotografiert und zu wenig trainiert lässt meinen 48-Stunden-Zeitplan jetzt platzen wie eine Seifenblase. Aber wir befinden uns ja in der Schweiz, dem Zugland schlechthin. Also stopfen wir uns in Zernez eine Engadiner Nusstorte in die Rucksäcke, spurten zum Bahnhof und zoomen uns mit der Rhätischen Bahn nach Ardez.
Hier ist Mario aufgewachsen, da hinten: sein Elternhaus. Es geht runter zum wild schäumenden Inn. Wir sind im Marioland. Sein Opa hat die Hängebrücke gebaut, über die wir hin- und herschwankend ans Ostufer wechseln. Aber statt eines Trails, der uns zurück nach Scuol führt, heißt es: 150 Höhenmeter hochschieben! Für einen Besuch beim Burgherrn von Tarasp, Not Vital (der heißt wirklich so), bleibt keine Zeit. Schade, denn der weltberühmte Künstler ist Marios Onkel.
Jetzt ist es Mario, der auf die Tube drückt. Er will pünktlich zum Start des Kinderrennens in Scuol sein. Das findet immer am Vortag des Nationalpark Bike-Marathons statt. Und bei der Gelegenheit erfahre ich auch, wer anno 2001 den schönsten Marathon Graubündens, wenn nicht der Schweiz, wenn nicht der Alpen, erfunden hat. Genau! Mario. Mario Riatsch.