Trail-Report Sentiero 601Der Gruselklassiker am Lago

Dimitri Lehner

 · 26.08.2023

Trail-Report Sentiero 601: Der Gruselklassiker am LagoFoto: Ale Di Lullo
Der Sentiero 601 am Gardasee war viele Jahre der Inbegriff eines Freeride-Trails. Eine heiß geliebte Horror-Abfahrt. Auch wir liebten den 601er. Noch immer? Mittlerweile flow-versaut probierten wir den Lago-Klassiker wieder aus.
Hinter dem Sentiero 601, ein scheinbar harmloser, nummerierter Wanderweg wie viele andere auch, verbirgt sich für Biker eines der heißesten Pflaster am Lago. Diese Fahrt zeigt zwei Gesichter wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Fast übergangslos kippt die Unternehmung nach der Auffahrt über den Asphaltstraßenteppich der Strada del Monte Baldo zum Höllentrip. Viel Zeit für die prächtigen Seeblicke lässt dieser geröllübersäte und felsdurchsetzte Trial-Downhill nicht. Es geht Schlag auf Schlag, nach der Bewältigung einer Schlüsselstelle folgt sogleich die nächste, und so mancher Durchschnitts-Biker läuft mit schreckgeweiteten Augen nach längerem Fußmarsch wieder in Torbole ein.

Trotz einiger Steilpassagen beginnt es verhältnismäßig leicht und genussvoll. Vom Ufer bikt man zum Freizeitpark Busatte hoch über dem See und nimmt Kurs des zum Altissimo führenden Asphaltstäßchens auf. Im Sommer kann die Fahrt auf dieser Panoramaroute durchaus zur Qual werden. Die Piste quert ein maghrebinisch-heißes Felstrümmerfeld, in dem die Reste eines riesigen Erdbebenabbruchs verstreut liegen. Nach einer kurzen Flachetappe bei der Malga Zures folgt der Abzweig des 601. Bald lässt der anfangs schöne Waldpfad sein sanftes Antlitz fallen und zeigt eine hässliche Fratze. Steilste Rutschbahnen durch Felsrinnen fordern vollste Konzentration – bei den meisten wohl schon beim Begehen solcher Passagen. Es ist ein Trail-Kampf gegen die Folgen jahrhundertelanger Erosion, Otto Normal-Biker kämpfen hier gegen Windmühlen. Weil an den zahlreichen Schlüsselstellen ohnehin mehr Rutschen als Fahren angesagt ist, sollte man die Tour bei der geringsten Feuchtigkeit meiden. Wer am Ende noch nicht ausreichend durchgerüttelt ist, weder einen Plattfuß noch einen gebrochenen Knochen im Leib hat, kann am Busatte noch eine Runde drehen, bevor er wieder nach Torbole abrollt.

Kurz: Der Sentiero 601 ist ein absolut höllischer und extremer Parcours, mit steilsten Geröllpassagen und felsigen Rutschbahnen – der heißeste Ritt am nördlichen Gardasee! Normal-Biker sollten sich hier auf weitgehendes Schieben einstellen. Der Extrem-Trial lohnt nur für Spezialisten! – BIKE -Guide 3 “Gardasee” von Elmar Moser, 1994

So stand’s 1994 im BIKE -Guide 3 „Gardasee“ von Autor Elmar Moser. Wir mussten den Orginaltext abdrucken, weil er 1. super geschrieben ist. 2. Lockte Elmar Moser damit Scharen von Bikern in die Hänge des Altissimos oberhalb von Torbole am Gardasee und löste so den 601er -Kult aus. Dabei verwundert es, wie Autor Moser überhaupt auf die Idee kam, Mountainbiker einen solchen Trial hinunterzuschicken (er bezeichnete Trails gerne als Trials).

Wir erinnern uns: die 1990er-Jahre! Da steckte Mountainbiken in seinen Kinderschuhen, die meisten Bikes waren ungefedert oder hatten bestenfalls Federgabeln. Federgabeln, die den Namen nach heutigen Begriffen nicht verdienten, weil sie sich nur wenige Zentimeter zusammenquetschen ließen und meist ungedämpft zurückschnallsten. Die Lenkwinkel maßen steile 74 Grad, und die Lenker selbst waren viel zu schmal, genau wie die Reifen. Mit dieser Technik ließ sich der Sentiero 601 kaum bezwingen. Selbst versierte Biker mussten pro Abfahrt mindestens zwei Stürze einkalkulieren. Stürze in einem Knochenbrechergelände. Wer über den Lenker flog, blieb selten unverletzt. Daher entstanden bald Gerüchte in der Szene, Moser sei die Trails selbst gar nicht mit dem Bike abgefahren, sondern höchstens abgewandert.

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Der 601er wurde in Augen der Adrenalin-Biker zum Ritterschlag: Wer es hier runterschaffte mit einem Nuller, also ohne den Fuß abzusetzen, gehörte zu den Besten seiner Zunft. Selbst, als die Freeride-Welle von Übersee nach Europa schwappte, zählten die Altissimo-Trails noch zu den großen Herausforderungen. Der zornige 601er beutelte Stars wie Simmons, Schley, Tippie, Bearclaw oder Hunter derart, dass die Gravity -Recken kaum glauben konnten, welche Tracht Prügel ihnen dieser Trail verpasste. Für uns Europäer war das, was auf dem 601er passierte, der Inbegriff von Freeriding: ein Ritt an der Sturzgrenze. Der Begriff und das Erlebnis „Trailflow“ waren damals unbekannt, stattdessen taten sich die abfahrtsverliebten Mountainbiker solche Rodeoritte an, stolperten und stempelten durchs Geröll und fanden’s auch noch witzig.

Hier wurde Freeride-Geschichte geschrieben: Der Sentiero 601 am Gardasee zählt zu den bekanntesten Rumpelabfahrten der Welt. Wer's hier geschmeidig runter schafft, darf stolz auf sich sein.Foto: TrentinoHier wurde Freeride-Geschichte geschrieben: Der Sentiero 601 am Gardasee zählt zu den bekanntesten Rumpelabfahrten der Welt. Wer's hier geschmeidig runter schafft, darf stolz auf sich sein.

Öfter kam es auch vor, dass sich Biker rühmten, den Sentiero 601 bezwungen zu haben – in Wahrheit waren sie aber auf dem Sentiero 632 (jetzt gesperrt!) oder dem Sentiero della Pace abgefahren. Großer Fauxpas. Zwar verstecken sich auch diese Trails in den Flanken des Altissimos und haben es in sich, allerdings lassen sie sich viel leichter befahren als der große Bruder 601.

Der Gebirgskrieg 1914 bis 1918 bescherte uns viele der Lago-Trails. Er tobte hier besonders furchtbar. Pioniere meißelten die Pfade in die Berghänge, um Handgranaten, Aderklemmen und Graupensuppe zur kämpfenden Truppe zu schaffen, die hier zu Tausenden auf beiden Seiten verbluteten – italienische Alpini und Kaiserjäger aus Österreich metzelten sich gegenseitig nieder und sprengten sich in die Luft, wie nicht weit entfernt am Pasubio, wo die Österreicher eine Minenladung in den Berg stopften, zündeten und auf einen Schlag 500 Italiener töteten. Es war die größte Explosion des ersten Weltkriegs. Auch durch die Hänge des Altissimos ziehen sich Schützengräben, in den Klippen klaffen Schießscharte – wer genau schaut, entdeckt sie überrall.

„Man muss den Fels lieben lernen“, forderte Autor Elmar Moser, „denn die Schotterbrocken sind allgegenwärtig.“ Das spüren wir, als wir nach langer 601er -Abstinenz den alten Klassiker in Angriff nehmen. Diesmal bewaffnet mit massig Federweg (170 mm) in modernen 29 -Zoll-Enduros. Der 601er startet zwar sehr weit oben am Monte Altissimo, die Core -Strecke (700 hm) beginnt allerdings kurz nachdem die Auffahrtsstraße beim Gehöft Malga Zures ein Plateau erreicht. Hier kreuzt der 601er die Teerstraße, mündet in einen Karrenweg und fährt seine Krallen aus. Damals und auch heute. Wichtig: links halten, sonst landet man auf dem Sentiero 632. Auf dieser 601er -Cor e-Strecke testeten wir für BIKE in den 2000er -Jahren mit Federgabeln (ab 80 mm) und Komplett -Bikes, denn wir fanden den Trail schrecklich -schön. Heute finden wir ihn eher schrecklich-schrecklich.

Airtime: Jumps mit spürbarer Airtime sind eine Seltenheit am Gardasee – dafür ist das Gelände schlichtweg zu steil. Doch findige Locals haben einen Weg gefunden, doch irgendwo einen Jump einzubauen – sehr gut!Foto: TrentinoAirtime: Jumps mit spürbarer Airtime sind eine Seltenheit am Gardasee – dafür ist das Gelände schlichtweg zu steil. Doch findige Locals haben einen Weg gefunden, doch irgendwo einen Jump einzubauen – sehr gut!

Elmar Moser sagt zu dieser Passage:

Den Extrem-Trial auf dem unteren Teil des Sentiero 601 sollte der Normal-Biker den echten Spezialisten überlassen.

Wir stellen fest: Der Trail hat kaum an Horror eingebüßt, daran ändert auch die moderne Bike-Technik nix. Der 601er teilt Schläge aus wie ein Hooligan nach verlorenem Länderspiel. Das Tückische: Fährst du langsam, wird’s nur schlimmer. Dann gerät das Bike ins Stolpern, fährt sich fest zwischen Felsrinnen und Steinplatten, fängt an zu bocken, schlingern, taumeln, will nach links ausbrechen und schert im nächsten Moment nach rechts. Die Augen wissen nicht, wohin sie schauen sollen, wenn sie überhaupt etwas klar sehen, so heftig schüttelt der Kopf auf und ab. Und wenn die Augen was sehen, dann: Felsbrocken. Gerümpel. Steinplatten – wahllos übereinandergewürfelt. Wir übertreiben nicht! Die Hände klammern sich um die Griffe, und der Lenker zuckt in den Fäusten, als stünde er unter Starkstrom. Es gibt Passagen auf dem 601er, da kann man kaum glauben, dass sich diese zornigen Felsschuppen mit einem Mountainbike überrollen lassen – und doch geht’s.

Ein gewisser Grund-Speed ist nötig, um die Fahrt zu stabilisieren, doch schneller zu fahren ist nicht minder tückisch. Stürzen will man auf dem Sentiero 601 nirgends! Nicht einmal daran denken. Als uns der 601er am Freizeitpark Busatte auskotzt, fühlen wir uns wie nach einer Kneipenprügelei. Kurz verschnaufen, Wunden lecken, dann weiter über eine Geröllrinne und furchtbar steile Steintreppen bis hinunter zur Uferpromenade. Erst jetzt haben wir es geschafft. Früher passierten auf den Steintreppen fiese Stürze, weil die Kräfte bereits verpufft und das Ziel (der blaue See) schon zum Greifen nah war. Unser Fazit? Verrückt! Fahrspaß? Null. Aktives Fahren? Kaum möglich. Flow? Guter Witz! Stattdessen: stures Draufhalten, Höhenmeter killen, nicht runterfallen und hoffen, dass das Stoßfeuer irgendwann vorbei ist. Wir können nicht glauben, dass wir den 601er früher gutfanden, erst recht nicht, dass hier in den 1990ern Leute mit 26 -Zoll-Starr-Bikes runtergefahren sind. Wie geht’s Euch?

Erfahrungen? Was habt Ihr auf dem Sentiero 601 am Gardasee erlebt?

Schreibt uns unter: info@freeride-magazine.com

Stimmen zum 601er Trail

Hans Rey, erster Extrem-Biker:

Der 601er ist in der Tat ein Klassiker. Ich wundere mich auch, wie wir ihn Ende der 80er/Anfang 90er mit Hardtails, schmalen Reifen und miesen Bremsen fahren konnten. Ich glaube, damals waren die Steine noch weicher. Es war auf jeden Fall ein populärer Trail, mit dessen Befahrung man sich schon schmücken konnte. Ich will den 601er unbedingt mal wieder fahren. Vielleicht geht’s ja auch bergauf mit dem E-MTB.
Hans Rey, erster Extrem-BikerFoto: Franz FaltermaierHans Rey, erster Extrem-Biker

René Wildhaber, Mister Megavalanche:

Der 601 ist eine Herausforderung. Selbst für fitte, fahrtechnisch versierte und mental starke Biker. Schotter und Felsen machen die steile Abfahrt zur Ausdauerprüfung für Mensch und Material im Antiflow-Stil. Also schön hoffen, dass am Ende noch genug Kraft im Körper bleibt, um ein Gelato am Lago stemmen zu können.
René Wildhaber, Mister MegavalancheFoto: Urban Engel PerspectivaRené Wildhaber, Mister Megavalanche

Hans Voglsamer, Lago-Pionier:

Pace, Dalco und 601 – die Trails waren ein Muss am Lago. Egal, ob die Knie blutig oder die Rippen geprellt waren, wer sich diese Lago-Trails traute, hatte sich das Bier danach verdient. Wer nicht, taugte nix als Biker. Der 601er trennte Mann von Maus.
Hans Voglsamer, Lago-PionierFoto: Ronny KiaulehnHans Voglsamer, Lago-Pionier

Steffi Marth, Ex-Worldcupperin:

Viele Lago-Trails sind rumpelig, doch der 601er schießt den Vogel ab. Ein furchtbares Gerüttel und Geschüttel. Das tun sich nur Spinner und Masochisten an. Ich bin ihn einmal gefahren, und das reicht für immer. Gegen den 601er ist der Skull-Trail eine Flow-Dusche.
Steffi Marth, Ex-WorldcupperinFoto: Markus Greber/SkyshotSteffi Marth, Ex-Worldcupperin

Brett Tippie, Freeride-Pionier:

1998 wurde mir der 601er gezeigt. Ein unbarmherzig felsiger Trail, mit viel festem Gestein und viel losem. Scharfe Kanten überall! Wehe, der Trail ist nass, dann verwandelt sich der 601er zum Alptraum. Machte mir der 601er Spaß? Ja, wenn ich ihn geschafft hatte, ha ha! Es lebe der 601!
Brett Tippie, Freeride-PionierFoto: Dylan SherrardBrett Tippie, Freeride-Pionier

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