Blickt man in der Firmen-Historie zurück, wird klar, dass Cannondale auf einen Sache großen Wert legt: Anders sein! Die Lefty-Gabeln, eigene Dämpfersysteme mit Federwegsverstellung, Downhill-Bikes mit zwei Dämpfern im Heck oder aus dem vollen gefräßte Aluminium-Räder. Auch wenn die letzten beiden Beispiele nie in Serie produziert wurden, so haben die Amerikaner damit zumindest für etwas Abwechslung im immer einheitlicher werdenden Fahrradmarkt gesorgt. Nach der kurzen Retrospektive wirkt das neue Cannondale Scalpel SE fast etwas nüchtern. Keine Lefty, kein eigenes Dämpfersystem und auch sonst wenig Extravaganz. Und dennoch ist es ein leichtes Trailbike der Extraklasse.
Wer Cannondale nur auf seine Andersartigkeit reduziert, unterschätzt die Amerikaner gewaltig. Neben dem Trieb, aus den Bahnen der Gewohnheit auszubrechen, ist auch der Drang zur Innovation fest in der Firmenkultur der Amerikaner verankert. Mit voluminösen Alu-Rahmen hat Cannondale die Benchmark für Steifigkeit von Mountainbike-Rahmen zu Zeiten definiert, als andere Firmen noch Rohrsätze aus Stahl verlöteten. Mit der frühen Massenproduktion von Bikes in den 90ern haben die Amerikaner den Markt prägend beeinflusst. Und mit dem ersten Scalpel hat Cannondale schon 2001 das Potential von MTB-Fullys im Rennsport erkannt, als Cross-Country-Weltmeisterschaften noch ausschließlich auf Hardtails gewonnen wurden. Wenn man so will, war das Scalpel damals ein Vorreiter. Ein exzellenter noch dazu. 19 Jahre später präsentiert Cannondale wieder ein neues Scalpel. Neben der klassischen 100-Millimeter-Version des Scalpels für die Rennstrecken dieser Welt gibt es auch beim neuesten Scalpel (Modelljahr 2021) eine SE-Verison mit 120 Millimeter Federweg.
Um das klassische 100-Millimeter-Scalpel für den Trail- und Toureneinsatz fit zu machen, verpasst Cannondale der SE-Version einfach einen Dämpfer mit mehr Hub. Der Hauptrahmen, der Hinterbau und alle Umlenkhebel bleiben – anders als beim Vorgänger und vielen anderen Firmen – unverändert zur 100-Millimeter-Version. Der längere Dämpferhub haucht dem Hinterbau 123 Millimeter Federweg ein und lässt das Tretlager 13 Millimeter höher wandern. Die 120-Millimeter-Gabel flacht den Lenkwinkel des Scalpel SE um ein Grad (im Vergleich zur 100-mm-Version) auf 67 Grad ab.
Auch wenn das Scalpel SE im Vergleich zu seinem Vorgänger einen deutlich flacheren Lenkwinkel (2,5 Grad) und einen etwas längeren Reach (6 Millimeter bei Größe L) hat, bleiben die Geometriewerte in einem moderaten Rahmen. Andere Hersteller strecken ihre Trailbikes deutlich mehr in die Länge. Uns hat der moderate Ansatz bei einem ersten Test aber sehr gut gefallen. Die Sitzposition bleibt dadurch gerade für Tourenfahrer angenehm komfortabel.
Wir hatten bereits ein neues Scalpel SE im BIKE-Testlabor und haben das Rahmengewicht nachgewogen. In der Rahmengröße L bringt das Carbon-Chassis 2153 Gramm ohne Dämpfer auf die Waage, womit der Rahmen genau so schwer ist wie sein Vorgänger. Im Gegensatz zu anderen Rahmen in dieser Gewichtsklaasse weißt das Scalpel mit 44 N/mm aber eine sehr gute Steifigkeit auf unserem Prüfstand auf. Details wie eine integrierte Kettenführung, ein Staufach für ein Minitool oder Platz für zwei große Trinkflaschen im Rahmendreieck machen das Scalpel SE zu einem der interessantesten Bikes für sportliche Tourenfahrer. Das gute Gesamtgewicht von 11,4 Kilo ohne Pedale macht nämlich lange Trail-Touren mit vielen Höhenmetern möglich.
Für BIKE 7/20 haben wir nebem dem neuen Cannondale Scalpel Carbon SE 1 weitere Tourenfullys mit 120 Millimeter Federweg getestet. Wie sich das Scalpel SE im Labor- und Praxisvergleich zu Klassikern wie dem Rocky Mountain Element, Cubs AMS TM oder dem Rose Thrill Hill Trail schlägt, verraten wir ab 2. Juni mit der nächsten Ausgabe des BIKE Magazins.