Florentin Vesenbeckh
· 09.05.2023
Torque steht bei Canyon für Freeride. Die Neuauflage des motorisierten Abfahrtsspezialisten ist ein waschechter Mini-Downhiller. Wir konnten das neue Canyon Torque:On CF bereits testen. Was kann der Carbon-Bolide mit bis zu 900 Wattstunden?
Mit seinem Vorgänger hat das neue Canyon Torque:On CF nicht mehr viel gemein. Der Alu-Rahmen ist einer aufwändigen Carbon-Konstruktion gewichen. Gleiches gilt für die Hinterbaufederung, die mit einer komplexen Anlenkung und tief liegendem Dämpfer aufwartet. Statt mickrigen 500 Wattstunden stecken bis zu 900 Wattstunden im Unterrohr. Und das kleine Vorderrad, das den Vorgänger zum quirligen Park-Bike gemacht hat, ist einem erwachsenen 29er gewichen.
Die Geometrie, die bereits beim Vorgänger als durchaus progressiv bezeichnet werden konnte, ist nochmal extremer – aber zugleich ausgewogener geworden. So ist der Neuling tatsächlich ein komplett neues Bike – mit ebenso neuem Fahrerlebnis. Aber für wen taugt so ein Mini-Downhiller eigentlich? Und was unterscheidet das Bike vom ebenfalls brandneuen E-Enduro Strive:On CFR?
Was Motor und Akku anbelangt, steckt das Torque:On in der gleichen Familie wie das Spectral:On CF, das bei uns schon mehrfach den Testsieg einfahren konnte. Das selbst entwickelte Batteriesystem übernimmt der Freerider von seinem kleinen Bruder. Heißt: In das breite Unterrohr passen wahlweise Akkus mit 720 oder 900 Wattstunden. Gewichtsunterschied: 900 Gramm. Damit haben Biker auf Wunsch massig Reichweite an Bord - oder ein etwas leichteres Bike.
Die Konstruktion, bei der der Akku nach unten aus dem geschlossenen Unterrohr gezogen wird, hat dem Spectral:On ein richtig starkes Verhältnis aus Gewicht und Reichweite beschert. Das erbt das Torque:On - wenn auch auf deutlich höherem Niveau. Ein wirkliches Leichtgewicht ist das Bike mit rund 23,7 Kilo und 720er-Akku nicht. Allerdings: Die meisten Modelle der Konkurrenz in dieser Federwegsklasse sind nochmals deutlich schwerer. Für Vortrieb sorgt Shimanos EP8-Motor – der ganz neue EP801 wird im 2023er-Torque:On noch nicht verbaut.
Der französische Ex-Weltmeister und Canyon-Berater Fabien Barel bezeichnet das Torque:On als Mini-Downhiller – gemacht für den Ritt auf der Rasierklinge über richtig anspruchsvolle Downhill-Strecken. Entsprechend extrem fällt die Geometrie aus. Der Reach ist mit 500 Millimetern in Größe L für E-Bike-Verhältnisse sehr lang. Bis zu 525 Millimeter bei der Größe XL stehen zur Wahl. Größe S hat immer noch einen Reach von 450 Millimetern. Ein Wert, der vor wenigen Jahren noch an E-MTBs der Größe L normal war.
Der Lenkwinkel fällt mit 63,5 Grad flach aus. Mit 445 Millimetern sind die Kettenstreben im Vergleich zum Vorgänger deutlich angewachsen. Diese Werte sind übrigens identisch mit dem ebenfalls brandneuen E-Enduro Strive:On CFR. Unterschiede gibt´s im Sitzwinkel. Mit 77,5 Grad fällt der beim Torque immer noch steil aus allerdings nicht so radikal wie beim kletterstärkeren Strive:On. Das Tretlager liegt am Torque:On tiefer. 1306 Millimeter Radstand in Größe L sind richtig viel. Ein Wert, der nach massig Laufruhe schreit!
Brauche ich eine Trinkflasche am Bike? Für die einen ist es ein absolutes Muss, manch andere haben ihr Getränk ohnehin anders verstaut. Canyon wollte auf jeden Fall eine Trinkflasche ans Bike bekommen. Wegen der komplexen Dämpferanlenkung im Hauptrahmen mussten die Ingenieure dafür allerdings tief in die Trickkiste greifen. Ein Ausschnitt im Oberrohr und eine spezielle Trinkflasche sollen das Problem lösen. 650 Milliliter passen in die Pulle, die bei halbvoller Füllung auf dem Trail fleißig vor sich hingluckert. In Sachen Schwerpunkt ist das Gewicht weit oben sicherlich nicht ideal untergebracht. Damit man die Flasche auch im härtesten Gelände nicht verliert, kann man sie optional mit einem Strap sichern.
Welche Bügel-Qualitäten das neue Canyon Torque:On tatsächlich hat, konnten wir bei der Vorstellung des Bikes nur erahnen. Wir haben den Neuling einen Tag über die Trails am Monte Arsenti bei Massa Marittima gescheucht. Um es kurz zu machen: die Trails konnten das Bike nicht annähernd aus der Reserve locken. Wie gut sich das Bike auf wirklich schnellen und ruppigen Strecken schlägt, können wir zum jetzigen Zeitpunkt also noch nicht genau sagen.
Doch alles deutet auf ein vielversprechendes Paket hin. Denn die Laufruhe des Bikes ist ebenso beeindruckend wie die Traktion des Fahrwerks. Der Hinterbau nimmt grobe wie feine Schläge sehr souverän auf und betoniert das Hinterrad nahezu an den Untergrund. Der Fahrer steht tief im Rad und kann entspannt hinter der hohen Front Platz nehmen. Das erhöht das Sicherheitsempfinden weiter.
Eine andere Eigenschaft konnten wir bei unseren Testrides umso besser auf den Zahn fühlen. Nämlich, wie gut sich das Bike auf eher flowigen Strecken schlägt. Keine einfache Aufgabe für ein Big-Bike mit Motor, 180 Millimetern Hub und ellenlangem Radstand. Wir waren wirklich überrascht, dass sich das neue Torque mit diesen Ausmaßen nicht wie ein Tanklaster fährt. Das Kurvenhandling ist richtig gut und wir können dem Torque:On großes Spaßpotenzial bescheinigen.
Allerdings muss der Fahrer das Bike dafür sehr aktiv dirigieren – und genügend Zug nach unten ist absolute Grundvoraussetzung. Dann zeigt sich der Flitzer jedoch verhältnismäßig wendig und bietet auch einen gewissen Popp. Kaum zu glauben, dass neben den massiven Ausmaßen des Bikes auch noch ein dicker 900er-Akku am Spieltrieb zieht. An das quirlige, leichtfüßige Handling eines gelungenen Trail-Bikes kommt das Torque:On auf flowigen Passagen aber bei weitem nicht heran. Das muss jedem klar sein, der sich für das Bike entscheidet.
Heißt: Das Torque:On empfiehlt sich für alle, die mit ihrem Bike explizit auf der Suche nach dem Kick in anspruchsvollen Abfahrten sind. Das können schnelle Bikepark-Strecken mit großen Sprüngen oder auch haarige Downhill-Tracks sein. Engere Trails, bei denen präzises Steuern und entspanntes Rollen auf der Tagesordnung stehen, unterfordern das Bike eher. Hier wirkt es sperrig und überdimensioniert. Das gilt auch für Biker, die sich durch ein Plus an Federweg nur etwas mehr Komfort und Fahrsicherheit erkaufen möchten. Ein Torque:On-Fahrer, sollte genau wissen, was er tut und auch eine gute Portion Engagement in die Abfahrt werfen.
Der Uphill ist für das Torque:On eher Mittel zum Zweck. Alleine schon wegen des etwas schwächeren EP8-Motors ist das Bike in steilen, technischen Ansteigen dem Strive:On mit Bosch unterlegen. Außerdem liegt das traktionsstarke Fahrwerk etwas tiefer im Hub, was den ohnehin etwas flacheren Sitzwinkel in der Praxis noch etwas flacher erscheinen lässt. So ist man nicht ganz so zentral im Bike platziert, wie beim kleinen Enduro-Bruder.
Doch grundsätzlich ist auch das 2023er-Torque:On kein schlechter Kletterer. Im Vergleich zu seinem Vorgänger hat es zum Beispiel eine ganze Schippe draufgelegt. Top: Mit dem 900er-Akku sind wirklich ausufernde Trail-Runden drin! Der ideale Ersatz, wenn Lift oder Shuttle mal wieder zu voll, zu langsam oder einfach zu langweilig sind.
Ein Kritikpunkt, den wir im zahmen Gelände zwar nur erahnen konnten, der aber dennoch ziemlich offensichtlich ist: Die mäßig pannensichere Karkasse EXO+ von Maxxis ist am Hinterrad dieses Bikes nicht die erste Wahl. Mindestens ein Doubledown-Modell sollte es an einem Bike mit dermaßen ausgeprägtem Abwärtsdrang auf jeden Fall sein.
Das neue Carbon-Torque ist nicht mehr das Preis-Leistungswunder, das wir seinem Vorgänger auf die Fahnen geschrieben haben. Denn der edle Vollcarbonrahmen und auch die eigens entwickelten Akkus haben ihren Preis. Außerdem kommt das langhubige Bike nicht mit günstiger Einstiegsausstattung. Wer einen sehr günstigen E-Freerider sucht, der findet aber noch das Torque:On AL, also die Vorgängervariante, in der Canyon-Palette.
Für das neue Bike muss man tiefer in die Tasche greifen. Die Carbon-Modelle gibt es alle wahlweise mit 720er- oder 900er-Akku. Preisunterschied für die beiden Batterievarianten: 400 Euro. Die Bereifung ist an allen drei Modellen identisch: Maxxis DHR II am Heck (27,5 x 2,6”), Assegai an der Front (29 x 2,5”). Die Karkasse fällt mit EXO+ für diese Bike-Kategorie schmächtig aus - insbesondere am Hinterrad. Der weiche MaxxGrip-Gummi an der Front sorgt aber für massig Grip.
Los geht´s bei 5999 (720 Wh) bzw. 6399 (900 Wh) Euro mit dem Torque:On CF 8. Hier arbeitet ein Fox-Performance-Fahrwerk mit 38er-Gabel und X2-Dämpfer. Schaltung und Bremsen stammen aus Shimanos SLX-Regal. Es gibt zwei Farbvarianten: schwarz oder Orange. Das Gewicht soll laut Canyon mit kleinem Akku bei 24 Kilo landen.
Beim Modell CF9 ist ausstattungstechnisch bereits alles an Bord, was anspruchsvolle Freerider für härteste Einsätze brauche. Das Fox-Factory-Fahrwerk kommt mit 38er-Gabel und X2-Dämpfer. Schaltung und Bremsen sind Shimano XT. Mit dem großen Akku soll dieses Paket 24,6 Kilo wiegen, also 23,6 Kilo mit 720er-Batterie. Kostenpunkt: 7499 (720 Wh) bzw. 7899 (900 Wh) Euro. Zwei Farben: schwarz und grün/olive.
Das Topmodell der Serie ist eine Sonderedition des Motocross-Stars Ken Roczen. Auffälligster Unterschied: der Stahlfederdämpfer und die knallige Lackierung. Preislich landet das Bike bei 8999 bzw. 9399 Euro (je nach Akku-Größe). Das Fahrwerk stammt von Rockshox und den Superdeluxe-Coil-Dämpfer begleitet eine ZEB Ultimate. Auch Schaltung und Bremsen stammen aus dem Hause Sram: kabellose X01 AXS und Code RSC. Mit großem Akku soll die Roczen-Edition 24,76 Kilo wiegen.
Keine Lust auf Shuttle oder Lift – aber trotzdem heiß auf Shredden? Dann könnte das Canyon Torque:On CF der ideale Begleiter sein. Das Fahrverhalten des Bikes ist vielversprechend, denn es vereint massive Nehmerqualitäten mit erstaunlich spaßigem Handling. Ein echter Park-Shredder. Kaum zu glauben, dass in diesem Paket satte 900 Wattstunden stecken. Aber Achtung: Das Bike braucht schnelle Strecken mit wilden Passagen und einen versierten Piloten, um richtig aufzublühen. Fehlt einer dieser Parameter, macht ein etwas gediegeneres E-MTB vermutlich mehr Sinn. - Florentin Vesenbeckh, Testleiter EMTB Magazin