Florentin Vesenbeckh
· 23.03.2021
Kein anderes E-MTB erhält so viel Aufmerksamkeit wie das Specialized Turbo Levo. Jetzt wurde die dritte Generation vorgestellt. Wird das neue Specialized Levo Gen3 den hohen Erwartungen gerecht?
Seit Beginn der E-MTB-Entwicklung geht Specialized eigene Wege. Die riesige Entwicklungsabteilung der Turbo-Bikes in der Schweiz begnügt sich nicht damit, ein gutes Chassis um Motor und Akku herumzubauen. Specialized steckt voll in der Antriebsentwicklung mit drin und entwickelt seine Turbo Levo E-Bikes fleißig selbst. Displays, Software, Apps – die amerikanische Marke macht ihr eigenes Ding und setzt damit Trends und Maßstäbe. Die Erwartungen an das neue Specialized Levo waren entsprechend hoch. Gerüchte um einen neuen, komplett in Eigenregie entwickelten Motor hielten sich hartnäckig, denn diesen Schritt war Specialized beim superleichten Levo SL gegangen. Doch: Die Revolution beim Antrieb des Levo Gen3 bleibt aus. Zumindest was die Hauptbestandteile Motor und Akku angeht. Für Schub sorgt weiter Broses Drive SMag mit einer überarbeiteten Specialized-Software, die Akkukapazität bleibt bei 700 Wattstunden. Trotzdem hat sich am Antrieb einiges getan. Die größten Neuerungen stecken aber im Chassis.
Neu ist der Laufradmix aus 29 Zoll am Vorderrad und 27,5 Zoll am Heck. Der Vorgänger rollte noch im klassischen, braven 29er-Setup. Ein Grund für das kleine Hinterrad: nur so lassen sich kürzere Kettenstreben realisieren. Damit wollen die Levo-Entwickler dem Bike ein wendigeres, sportlicheres Handling einverleiben. Vorbild: Das eigene Levo SL, das auf sehr kurze Streben setzt und damit viele E-Mountainbiker begeistert hat. Um diese Parameter herum stricken die Entwickler eine sehr moderne Geometrie. Das Motto: Länger, flacher, extremer – aber auch variabler. Mit verschiedenen Einstellungsmöglichkeiten kann die Geometrie stark angepasst werden. Der nächste Schritt im aufgeplusterten Chassis sind die massiveren Komponenten, allen voran das Fahrwerk: Dicke Fox 38-Gabel mit einem Zentimeter mehr Hub (160 Millimeter) und der voluminöse X2-Dämpfer mit Ausgleichsbehälter. Das sind Kennzeichen eines ausgewachsenen Enduros. Und genau in diese Richtung drängt der Neuling.
Die dritte Generation des Levo ist auf wilde Abfahrten und Fahrspaß im anspruchsvollen Gelände getrimmt. Der Vorgänger Levo Gen2 von 2019 setzte auf eine eher gemäßigte Ausstattung, was dem Levo stets ein rekordverdächtiges Gewicht bescherte. Der Neuling ist mit seiner Enduro-Attitüde schwerer geworden. 22,2 Kilo bringt unser Testbike (S-Works, Größe S4) auf die Waage. Das letzte Vorgängermodell, das wir im EMTB-Test hatten (Ausgabe 1/2020), war ein deutlich günstigeres Turbo Levo Expert, MY 2020. Das wog 21,4 Kilo. Trotzdem muss man ganz klar sagen: Auch der neueste Wurf spielt gewichtstechnisch ganz vorne mit, wenn man die beachtliche Akku-Größe, robuste Ausstattung und Ausrichtung des Bikes im Auge behält.
Auch beim Thema Gewicht stützen sich die Levo-Entwickler auf ihr Superleicht-Modell Levo SL: Wenn man eines der leichtesten E-Trailbikes der Welt im Portfolio hat, darf der kraftvolle Bruder auch etwas schwerer ausfallen. „Die Schere darf hier etwas weiter auseinander gehen: Superleicht-Performance beim Levo SL, Full-Power-Turbo-Performance beim Levo“, sagt Marco Sonderegger, einer der Köpfe hinter den E-MTBs von Specialized. Heißt: Beim neuen Levo werden keinerlei Kompromisse gemacht, die eine extreme Trail-Performance einschränken könnten. Mit seiner Metamorphose zum potenten Mini-Enduro lehnt sich das Levo an seinen unmotorisierten Bruder Stumpjumper Evo an, das in seiner neuesten Entwicklungsstufe eine ganz ähnliche Richtung eingeschlagen hat und bei der Konstruktion des Levo als Vorbild diente.
Auch wenn das neue Specialized Levo auf spektakuläre Änderungen am Motor oder Akku verzichtet, heißt das nicht, dass die Amerikaner ihr Steckenpferd – die clevere Integration und Software des Antriebs – vernachlässigt haben. Auf den zweiten Blick zeigen sich spannende Updates. Am offensichtlichsten ist das neue Display TCU2, das liebevoll „Mastermind“ getauft wurde. Im Format einer Smartwatch prangt der 12 x 25 Millimeter große Screen auf dem Oberrohr. Die Anzeige ist über die neue Mission Control App komplett individualisierbar. Der Biker kann aus aktuell gut 30 Daten wählen und diese individuell auf verschiedenen Ansichtsseiten des Displays verteilen. Prozentgenaue Akkuanzeige, U-Stufe, Geschwindigkeit, die aktuelle Höhe, die Fahrerleistung – und vieles mehr. Mit einem separaten Knopf am Remote-Hebel blättert man durch die Seiten. Specialized bohrt den Informationsgehalt seines Displays im Vergleich zum Vorgänger massiv auf, ohne auf die schlanke und sportliche Optik zu verzichten. Das ist richtig smart und funktional. Weiterer Vorteil der neuen Mission Control App: Updates des Systems können ab sofort bequem über das Mobiltelefon erledigt werden. Der Weg zum Händler entfällt.
Eine weitere Neuerung ist der Modus Micro Tune. Dieser lässt sich durch einen langen Druck auf die Plus-Taste auch während der Fahrt ganz leicht aktivieren. Mit Micro Tune kann die Motorunterstützung in 10-Prozent-Schritten gewechselt werden, das ermöglicht eine feinere Anpassung der Motorkraft. Das kann besonders beim Fahren in Gruppen hilfreich sein, wenn die klassischen Modi einfach nicht zum Speed der anderen Fahrer passen wollen.
Darüber hinaus hat Specialized an der Zuverlässigkeit des Antriebs gearbeitet. Probleme mit dem Motor sollen durch diverse Hardware-Optimierungen der Vergangenheit angehören. Zentraler Punkt ist dabei ein neuer Carbon-Riemen, der deutlich belastbarer sein soll. Diese Hardware-Änderungen stecken in allen Brose SMag-Motoren der neuesten Generation. Diese Motoren sollen zum Teil schon in den 2021er-Vorgänger-Levos der aktuellsten Produktionschargen verbaut worden sein. Auch die neue Software wurde so optimiert, dass weniger Belastungsspitzen auftreten, was ebenfalls die Lebensdauer des Motors optimieren soll. Die Leistungsdaten bleiben dabei erhalten: 90 Newtonmeter maximaler Drehmoment und eine Maximalleistung von 565 Watt (Herstellerangaben). Wir haben das Bike und den Antrieb in Labor und Praxis getestet und standardisierte Reichhöhenmessungen durchgeführt. Das Testergebnis zum Specialized Turbo Levo lesen Sie hier.
Exklusiv für die Levos der dritten Generation ist der neue Verbindungsstecker von Akku zu Motor. In der Vergangenheit kam es hier wohl zu Problemen mit eindringender Feuchtigkeit. Die neue Variante ist mit einem Hebel verschlossen und im Inneren gleich mehrfach gedichtet. Damit soll die Elektronik komplett vor eindringendem Wasser geschützt sein. Die Levo-Entwickler bezeichnen das Wasser als „Endgegner jedes E-Bikes“. Mit der neuen Konstruktion soll das Levo härtesten Einsatz bei widrigsten Bedingungen überstehen.
An der Geometrie haben die Levo-Entwickler die drastischsten Eingriffe vorgenommen. Länger, flacher, moderner, lautet die Devise. Die Grundlage bildet ein neues Größenkonzept, das Specialized bei anderen Rädern schon länger nutzt. Das S-Sizing. Anstelle der gängigen Bezeichnungen Small, Medium, Large,... rücken die Größen S1 bis S6. Das Levo bekommt also eine Größe mehr als bisher. Die Idee hinter den S-Größen: Fahrer sollen sich ihr Bike nicht einfach passend zur Körpergröße, sondern passend zu Einsatzbereich und Fahrstil aussuchen. Ein 183 cm großer Fahrer, klassisch auf Größe L zu Hause, kann zwischen den Größen S3 bis S5 wählen – und hat damit Reach-Werte zwischen 452 und 502 mm zur Auswahl. Möglich wird das durch sehr kurze Sitzrohre, die die freie Größenwahl nicht durch die Beinlänge einschränken. Die Größe S6 bietet mit einem Reach von enormen 532 Millimetern selbst großen Fahrern und Reach-Fetischisten ein richtig geräumiges Bike.
Über alle Größen konstant bleiben die kürzeren Kettenstreben. 443 Millimeter haben wir im EMTB-Labor gemessen. Ein charakterbildendes Merkmal, denn das Levo lässt sich leicht aufs Hinterrad ziehen und spaßig um Kurven bewegen. Zum Kletterweltmeister wird es damit aber nicht. Nächste deutliche Änderung: Der Lenkwinkel ist flacher geworden. Aus moderaten 66 Grad sind flache 64,2 Grad geworden (EMTB-Messwert). Doch damit nicht genug. Wer die mitgelieferten Lagerschalen für den Steuersatz einbaut, kann den Lenkwinkel nochmal um ein ganzes Grad abflachen. Gepaart mit dem langen Reach ergibt das endgültig eine extrem auf Abfahrt gestylte Enduro-Geometrie. Gemäßigte Piloten können die Lagerschale auch nutzen, um den Lenkwinkel aus der neutralen Position einen Grad steiler zu gestalten.
Wir hatten bereits die Möglichkeit, das neue Levo ausführlich über Trails verschiedener Couleur zu scheuchen. Meist waren wir dabei in der neutralen Lenkwinkeleinstellung mit hohem Tretlager unterwegs. Schon in diesem Setup macht sich im Vergleich zum Vorgänger ein deutlich rassigerer Charakter bemerkbar. Das Levo will schnell und wild gefahren werden und blüht auf anspruchsvollen Abfahrten auf. Dabei macht sich auch die angepasste Hinterbaukinematik bemerkbar. Das Heck liegt richtig satt und saugt Wurzelteppiche in sich auf. Dabei trifft es der Begriff "Staubsauger" ganz gut, denn das Hinterrad schlürft sich förmlich am Boden fest. Bodenhaftung steht auf der Prioritätenliste vor Sprungfreude. Gepaart mit der langen und flachen Geometrie ergibt das eine enorme Laufruhe und Fahrsicherheit. Seine Verspieltheit behält das Bike durch seine kurzen Kettenstreben, aufs Hinterrad lässt es sich sehr leicht ziehen. Doch im Vergleich zum Vorgänger ist das Fahrverhalten bei gemäßigter Gangart weniger direkt und leichtfüßig. Auffällig: Auch wenn es richtig ruppig wird, flubbert das Levo leise und gut gedämpft über den Trail. Ihr wollt mehr über das neue Levo und seine Expertise erfahren? In EMTB 2/2021 gibt's einen ausführlichen Test des nagelneuen Specialized-Flitzers. Ab 20. April am Kiosk!
Dass es bei Specialized nicht gerade Schnäppchen zum Studententarif gibt, sind wir mittlerweile gewohnt. Doch die Preisgestaltung des neuen Turbo Levo setzt nochmal einen drauf. Erschwingliche Modelle sucht man erstmal vergebens. Los geht's mit dem Turbo Levo Pro, das mit Carbon-Laufrädern und Fox-Factory-Fahrwerk schon tief in die Highend-Kiste greift. Kostenpunkt: 11499 Euro. Das S-Works-Modell glänzt obendrauf noch mit einem kompletten AXS-System von Sram mit kabelloser Schaltung und Sattelstütze, sowie weiteren Spielereien. Dafür werden 13999 Euro fällig. Doch wir können leichte Entwarnung geben: Im Laufe des Jahres sollen günstigere Ausstattungsvarianten folgen.
Auch wenn der ganz große Knall ausgeblieben ist, nämlich ein neuer Motor aus Eigenentwicklung, setzt Specialized in Sachen Systemintegration erneut ein Ausrufezeichen. Doch die entscheidenden Änderungen des neuen Turbo Levo stecken in seiner Ausrichtung. Mit einer modernen, abfahrtslastigen Geometrie wird das Bike zum wilden Enduro-Spielgefährten. Seinen Status als geschmeidiger Super-Allrounder will es durch smarte Verstell-Optionen behalten. Doch zum wirklichen Quantensprung wird es nur für E-Mountainbiker, die einen rassigen Begleiter für die wilde Trail-Hatz suchen.