Max Fuchs
· 21.05.2023
Das Pole Vikkelä fällt in jeder Hinsicht auf - egal, ob Farbe, Herstellung oder Geometrie. Doch macht sich der Entwicklungsansatz fern von jeglicher Norm auch auf dem Trail bezahlt?
“Warum sollte man sich bei einem Enduro für weniger Federweg entscheiden, wenn man auch mehr haben kann?”, fragt mich Leo Kokkonen bei unserem Telefonat zu diesem Artikel. Er ist der Gründer von Pole und Mastermind hinter dem neuen 190-Millimeter-Enduro Vikkelä. Doch der Finne zeigt nicht nur in Bezug auf den Federweg eine Affinität zum Außergewöhnlichen. Und nein, wir sprechen nicht etwa von der golden glänzenden Lackierung des Exoten.
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Das eigentliche Highlight verbirgt sich darunter: Ein komplett CNC-gefräster Aluminium-Rahmen. Schweißnähte sucht man am Pole Vikkelä vergebens. Die gefrästen Halbschalenpaare des Hauptrahmens, die einarmige Hinterbauschwinge und die massiven Doppelgelenke verschmelzen mit einem speziellen Klebstoff zu Hohlprofilen. Dieses Verfahren bietet mehrere Vorteile: Zum einen bietet die CNC-Fräsung volle Kontrolle über die Form und die Materialstärken des gesamten Rahmens. Zudem ermöglichen die automatisierten Prozesse minimale Toleranzen, wie sie beim Schweißen von Rundrohren kaum möglich sind. Gegenüber Carbonfasern liegt der Vorteil in der Nachhaltigkeit. Fast 100 Prozent der Fräsabfälle können einfach recycelt werden. Recycling-Verfahren für Kohlefasern stehen dagegen noch in den Startlöchern. Die Giftstoffe bei der Carbon-Produktion sind zudem gesundheitsschädlich und schaden der Umwelt.
Fertig aufgebaut und auf zwei Räder gestellt lässt sich schon erahnen, was das Pole Vikkelä im Gelände zu leisten vermag. Rückt der Fertigungsaspekt erstmal in den Hintergrund, springt sofort die extreme Geometrie ins Auge. In Zahlen: 1334 Millimeter Radstand, fast 80 Grad Sitzwinkel und 63,3 Grad Lenkwinkel. Zudem sitzt das Tretlager so hoch, dass es auf einer Linie mit den Radachsen liegt. So radikal ist kein zweites Enduro am Markt. Federweg? Laut unseren Messwerten 185 Millimeter an Heck und Front. Damit reizt Pole das Potenzial von Rockshox’ Enduro-Gabel ZEB komplett aus.
Stichwort Ausreizen: Das kann das Vikkelä extrem gut – vor allem, wenn es bergab um die Komfortzone das Fahrers geht. Denn die extreme Länge und die erhabene Front vermitteln enorm viel Fahrsicherheit. Das potente Fahrwerk tut sein Übriges, um den Fahrer auf Vollgas-Passagen zu Höchstgeschwindigkeiten zu verleiten. Harte Landungen, tiefe Absätze und fette Felsblöcke verpuffen förmlich im Federweg. Dank der angenehmen Progression entsteht dabei selten das Gefühl, als wären alle Reserven aufgebraucht. Durch das sehr hohe Gewicht kommen diese Qualitäten allerdings nur im steilen Gelände zum Tragen. Fehlt die Schwerkraft, verlangt der Koloss nach extrem viel Körpereinsatz, um auf Trab zu bleiben. Verwinkelte Trails stehen durch den ausladenden Radstand ebenfalls nicht im Lastenheft der Finnen-Fräse. Durch das hohe Tretlager behält man zwar die Kontrolle und fühlt sich nicht im Bike gefangen, rasante Kurvenwechsel gelingen aber nur unter dem Diktat geübter Fahrer.
Bergauf schraubt man die Erwartungen an das Pole automatisch zurück. Völlig zu unrecht. Denn tauscht man die teigige MaxxGrip-Gummimischung gegen leicht laufendere MaxxTerra-Schlappen, zeigt sich das Bike als anständiger Kletterer. Durch den supersteilen Sitzwinkel bringt man sehr viel Druck auf das Vorderrad und nimmt eine vortriebsorientierte Sitzposition ein. In Kombination mit den sehr langen Kettenstreben kraxelt das Vikkelä auch steilste Rampen brav hinauf – natürlich nur bei entsprechendem Kraftaufwand. Das hohe Tretlager bietet zudem extrem viel Bodenfreiheit auf verblockten Passagen. Das Heck spricht auch unter Kettenzug hervorragend an, bleibt dabei erstaunlich ruhig und steht hoch im Federweg. Bravo!
Am Ende fallen mir wieder Leos Worte ein. Ja, das Pole begeistert mit seinem massiven Federweg bergab, keine Frage. Weil dadurch aber auch bergauf kein Nachteil entsteht, würde auch ich mich immer wieder für mehr Federweg entscheiden – zumindest beim Vikkelä.
Stimmen fahrtechnisches Können und Fitness des Fahrers, glänzt das Pole Vikkelä bergab wie bergauf mit tollen Fahreigenschaften. Der Durchschnitts-Biker dürfte dagegen nur von der extremen Fahrsicherheit in schnellen Abfahrten profitieren. Praktisch: Via Online-Konfigurator kann man das Pole für den persönlichen Einsatzbereich optimieren.
Pole-Bikes stehen für gewagte Geometrie-Konzepte und außergewöhnliches Rahmen-Designs. Inzwischen gehören aber auch die CNC-gefrästen Rahmen zum Markenzeichen der Finnen. Seit nun genau zehn Jahren überrascht Pole die Bike-Industrie regelmäßig mit seinen außergewöhnlichen Entwicklungsansätzen. Gründer und Firmen-Chef Leo Kokkonen beschäftigt mittlerweile 22 Mitarbeiter am Firmensitz in Muurame in Finnland. Von der Idee über die Entwicklung bis hin zur Produktion entstehen alle Bikes von Pole zu 100 Prozent in Finnland.
GESAMT BERGAUF: 51 VON 80
GESAMT BERGAB: 124,8 VON 140
*Das BIKE-Urteil gibt die Labormesswerte und den subjektiven Eindruck der Testfahrer wieder. Das BIKE-Urteil ist preisunabhängig.
BIKE-Urteile: super (250–205 P.), sehr gut (204,75–170 P.), gut (169,75–140 P.), befriedigend (139,75–100 P.), mit Schwächen, ungenügend.