Max Fuchs
· 04.11.2022
Beim Scott Genius sieht man sofort: Systemintegration auf allen Kanälen, neue Geometrie-Daten und eine extrem vielseitige Rahmenplattform - nach fünf Jahren haucht Scott seinem Kult All Mountain Bike endlich neues Leben ein. Wird Scott seinem Ruf als Innovationstreiber auch diesmal gerecht?
Scott zählt zu den stärksten Innovationstreibern der Bike-Industrie. Zuletzt machten die Schweizer Mitte 2021 mit dem neuen Spark von sich reden. Damals präsentierten die Schweizer nicht nur das bis dato abfahrtsstärkste Race-Fully, sondern profitierten auch erstmals von ihren Markenanteilen der Schwesterfirma Bold. Denn seit der Übernahme im Jahr 2019 dürfen sich die Scott-Entwickler auch am Patent zur Dämpferintegration im Sitzrohr bedienen. Seitdem setzt das Spark neben seinen hervorragenden Fahreigenschaften auch in Sachen Systemintegration neu Maßstäbe.
Klar war zu diesem Zeitpunkt auch, dass sich dieser Entwicklungsansatz früher oder später auch auf die anderen Modelle im Scott-Portfolio ausbreiten würde. Und siehe da: Knapp anderthalb Jahre später erblickt die sechste Ausbaustufe des Kult-All Mountain Bikes Scott Genius das Licht der Welt. Die Ähnlichkeiten zum Spark sind offensichtlich: Gleiche Formsprache, der Dämpfer versteckt sich im Sitzrohr und auch die Systemintegration an Lenker und Vorbau übernimmt der Neuling von der aktuellen Spark-Generation. Gepaart mit einer extrem wandelbaren 150-Millimeter-Rahmenplattform, top Werten an der Waage und einer breit gefächerten Modellpalette mischt sich das neue Genius unter die spannendsten All Mountains für die Saison 2023.
Seit 2001 ist das Genius ein fester Bestandteil in der Modellpalette von Scott. Damals steckte in dem Fully allerdings noch eine 100er-Gabel und der Hinterbau stellte sogar nur 90 Millimeter Federweg bereit - mit dem All Mountain Bike, wie wir es heute kennen, hatte das nur wenig zu tun.
Erst mit der dritten Ausbaustufe im Jahr 2013 etablierten sich die Genius-typischen Plattformen mit 150 Millimetern Federweg. In dieser Hinsicht hat sich auch nicht mehr viel geändert. Ganz im Gegensatz zur Rahmenkonstruktion. Denn wer sich mit der Genius-Historie auskennt, weiß, dass der Dämpfer vom Genius zu Beginn senkrecht zwischen Reifen und Sitzrohr stand. Später wanderte die Dämpferaufnahme unter das Oberrohr. Bei der letzten Generation stand das Federelement wiederum senkrecht im Rahmendreieck, um jetzt gänzlich im Inneren des voluminösen Sitzrohrs zu verschwinden.
Doch welchen Zweck erfüllt die Systemintegration neben der ästhetischen Komponente? Da die untere Dämpferaufnahme nicht mehr länger auf dem Rahmen sitzt, wandert das Fahrwerk samt Anlenkung weiter nach unten, was sich in der Theorie durch einen minimal tieferen Schwerpunkt bemerkbar macht. Das sorgt bergab für mehr Fahrsicherheit bei hohen Geschwindigkeiten und generiert mehr Traktion in Kurven. Zudem ermöglicht die Konstruktion besonders im Tretlagerbereich ohne übermäßig viel Materialstärke eine gute Rahmensteifigkeit. Zu guter Letzt zahlt die Integration auch auf die Haltbarkeit ein. Geschützt vor Wasser, Schlamm und Staub verlangt der im Sitzrohr integrierte Dämpfer deutlich weniger Wartungsaufwand als Hinterbau-Federelemente in herkömmlichen MTB-Rahmenkonstruktionen.
Dass Scott ein Händchen für leichte Carbon-Rahmen hat, stellen die Schweizer auch mit dem neuen Genius eindrucksvoll unter Beweis. So brachte der Rahmen des Vorgängers in der All Mountain-Kategorie damals rekordverdächtig wenige 2249 Gramm auf die Waage. Dieses Niveau auch mit der neuen Rahmenkonstruktion zu halten, schien eigentlich fast unmöglich. Doch unsere Laborwaage lehrt uns das Gegenteil: 2239 Gramm. So viel wiegt der Rahmen des Top-Modells mit der leichtesten HMX-Carbon-Faser in Größe L. Angesichts der voluminösen Rahmenkonstruktion im Tretlagerbereich, der hohen Materialstärke um die Öffnung im Unterrohr zu kompensieren und der Tatsache, dass auch Dämpfer mit Ausgleichsbehälter in das Sitzrohr des Genius passen, haben sich die Ingenieure mit dem Rahmengewicht der aktuellen Evolutionsstufe selbst übertroffen. Die Rahmen mit den etwas günstigeren HMF-Carbon-Fasern bringen laut Hersteller in Größe M 2795 Gramm auf die Waage. Auch gut: Scott bietet drei Modellvarianten mit Aluminium-Rahmen an und landet so mit seinem Einstiegsmodell unter der 4000-Euro-Marke.
Um in der neuen Generation einen noch größeren Kundenkreis um das Scott Genius zu scharen, haben die Entwickler eine maximal vielseitige Plattform geschaffen. So wird es, ähnlich wie in der Spark-Serie, neben den klassischen Genius-900-Modellen auch abfahrtsstärkere ST-Modelle (ST steht für Super Trail) geben. Die beiden Ausführungen unterscheiden sich in erster Linie durch ihre Fahrwerke.
Der Rahmen der 900er-Modelle beherbergt den speziell für das Scott Genius entwickelten Nude-5T-Dämpfer von Fox. Mit dem bewährten Twinloc-System lassen sich nach wie vor Gabel und Dämpfer gleichzeitig vom Lenker aus in drei Stufen verstellen. Damit lässt sich das Genius so effizient pedalieren, wie kaum ein zweites All Mountain Bike am Markt. Im offenen Modus entfaltet das Fahrwerk sein gesamtes Schluckvermögen. Im sogenannten Traction-Control-Mode (Plattform) schrumpft das Luftvolumen im Dämpfer und mehr Druckstufendämpfung wird zugeschalten. Dadurch steht das Bike bergauf und auf welligen Trails höher im Federweg und eliminiert die Antriebseinflüsse im Wiegetritt. Für lange Anstiege auf Schotter oder Asphalt lässt sich über den dritten Fahrmodus das Fahrwerk komplett blockieren.
Zu Gunsten der Downhill-Performance rückt die Effizienz beim Genius ST etwas in den Hintergrund. Der Nude 5T weicht einem Float-X-Nude mit Ausgleichsbehälter. In dieser Konfiguration reagiert der Hinterbau durch das größere Luftvolumen noch sensibler auf Unebenheiten und bietet zudem eine verstellbare Zug- und Druckstufendämpfung. Passend dazu weicht auch an der Front die Fox 36 mit Fit4-Kartusche einer Federgabel mit vierfach einstellbarer Grip2-Kartusche. Auch die Fahrwerkssteuerung bleibt nicht unangetastet. So kommt am Scott Genius ST anstatt dem Twinloc-System ein sogenannter Tracloc-Hebel zum Einsatz, welcher nur den Hinterbau ansteuert. Auch hier stehen, neben dem offenen Modus, zwei weitere Fahrmodi zur Wahl. So schließt sich im Ramp-Control-Modus eine der beiden Luftkammern. Das hat denselben Effekt, als würde man einen Volumen-Spacer verbauen – nur eben auf Knopfdruck. Das Ergebnis: Bei einem aktiven Fahrstil bietet das Heck mehr Gegenhalt im Federweg. Als Klettermodus dient eine klassische Plattform. Ein geschlossenes Lockout gibt es nicht.
Doch damit nicht genug: Auch der Lenkwinkel baut beim Genius ST ab Werk mit 63,9 Grad 1,2 Grad flacher als beim Genius 900 und verspricht damit noch mehr Laufruhe bei hohen Geschwindigkeiten. Der variable Steuersatz bietet allerdings an beiden Modellen die Möglichkeit, den Lenkwinkel nachträglich um 0,6 Grad in beide Richtungen zu verstellen.
Ausgehend von der flachen Lenkwinkeleinstellung (63,9 Grad) flacht das Steuerrohr im Vergleich zum Vorgänger um 3,3 Grad ab. Mit einem Reach von 485 Millimetern in Größe L wächst das Bike zudem um 14 Millimeter in der Länge. Der Sitzwinkel misst über die Größen S bis XL verteilt zwischen 76,8 und 77,4 Grad. Die Kettenstreben bauen einheitlich 440 Millimeter lang. Mit diesen Maßen bekennt sich das neue Genius zur modernen und abfahrtsstarken Sorte der All Mountain Bikes. Alle Modelle sind in den Größe S, M, L und XL erhältlich.
Mit den beiden Top-Modellen Scott Genius Ultimate und Genius ST 900 Tuned hatten wir bereits das Vergnügen, fleißig Trail-Kilometer zu sammeln. Unser erster Eindruck: Trotz des üppigen 485er-Reachs in Größe L platzierte uns der steile Sitzwinkel sehr aufrecht im Bike. Wer zwischen den Größen steht und eine sportliche Sitzposition bevorzugt, greift im Zweifel zur größeren Größe. Auch der Druck auf dem Vorderrad kommt durch das steile Sitzrohr nicht zu knapp. So erklettert das neue Genius auch steile Rampen, ohne dass man aktiv gegen das steigende Vorderrad ankämpfen muss. Die kompakte Sitzposition lässt zudem genügend Bewegungsfreiraum, um auch technische Schlüsselstellen bergauf zu meistern. Was die Effizienz angeht, gehört das Scott Genius nach wie vor zu den besten All Mountain Bikes am Markt – egal ob Twinloc oder Tracloc. Im Plattform-Modus arbeiten die Hinterbauten beider Systeme nahezu wippfrei und generieren trotzdem noch viel Traktion. Wer allerdings Tretpassagen ebenso hoch priorisiert wie den Downhill, sollte zum normalen Genius greifen. Die Option, Gabel und Dämpfer gleichzeitig zu blockieren, sorgt bergauf für ein stimmigeres Fahrerlebnis.
Bergab kamen wir ebenfalls mit beiden Modellen auf unsere Kosten. Nicht zu träge, aber auch nicht nervös – das Handling passt. Die Fahrwerke beider Genius-Varianten fühlen sich im Vergleich zur sonst eher gemütlichen All-Mountain-Konkurrenz eher sportlich an. Das befeuert eine aktive Fahrweise und kommt einem beim Pushen in Anliegern oder Abdrücken an Sprüngen zugute. Wer sich dagegen ein satteres Fahrgefühl wünscht, dem raten wir zu mehr SAG als gewohnt und weniger Druckstufendämpfung. Was das Ansprechverhalten angeht, leistet das Scott Genius ST mit Float-X-Nude-Dämpfer und Grip2-Kartusche in der Fox-Gabel die bessere Arbeit.
Wir haben dein Interesse für das neue Scott Genius geweckt? Dann lohnt sich ein Blick in die BIKE-Ausgabe 1/23. Dort wartet ein detaillierter Testbericht mit allen Ergebnissen aus dem BIKE-Testlabor. Ab 6. Dezember am Kiosk oder in der DK Kiosk App erhältlich.
“Technisch gesehen ist das neue Scott Genius der Inbegriff von Ingenieurskunst: Systemintegration auf höchstem Niveau, viele Liebe zum Detail, hervorragend verarbeitet und erstaunlich leicht. In der Praxis entpuppt sich das Bike durch seine vorbildlichen Klettereigenschaften als perfekter Allrounder. Egal ob flotte Hausrunden, tretlastige Touren oder technische Trails - das Genius deckt trotz üppiges Federwegs einen sehr breiten Einsatzbereich ab. Wer am liebsten Tiefenmeter sammelt, wird das Fahrwerks-Upgrade an den ST-Modellen zu schätzen wissen.“