In einem kleinen Dorf zwischen Stuttgart und der Albkante sträuben sich zwei Entwickler gegen die Konventionen einer ganzen Branche. Egal ob mit oder ohne E: Seit über 100 Jahren haben Fahrräder Ketten, Ritzel und Schaltwerke. Bei Pinion gibt’s das alles nicht. Die Schaltung sitzt wetterfest in einem eigenen Gehäuse. Geschaltet wird verschleißfrei mit einem stirnradverzahnten Getriebe. Wie bei einem Sportwagen. Mit der MGU, vorgestellt auf der Eurobike 2023, gelang Pinion damit der bisher größte Coup – Motor und Schaltung in einer einzigen kompakten Einheit zu verschmelzen.
All das kommt aus einer Teileschmiede im schwäbischen Denkendorf. In einem kleinen Industriegebiet zwischen Parkplätzen und Buchen-Hecken verbirgt sich hier ein unscheinbarer Bürokomplex aus den 80ern. Nur einige blaue Fahnen am Eingang und ein Klingelschild deuten darauf hin, dass sich hier der radikalste Innovator des gesamten E-Bike-Business verbirgt.
Weiß strahlen uns von innen die Flure eines entkernten Gebäudes entgegen. Wären da nicht vereinzelte Rad-Teile, könnte das Gebäude auch einem teuren Privat-Zahnarzt gehören. Wir sollen hier Christoph Lermen treffen, einen der zwei Gründer der Firma. Lermen, der bis heute einer der Firmenchefs ist, ist ein groß gewachsener, zurückhaltender Mann. Mitte dreißig aber schon mit fliehender Stirn und einem vorsichtigen Lächeln tritt er uns entgegen. Doch gerade wenn‘s um die Technik geht, spricht der Gründer Klartext. Der Kettenschaltung prophezeit er abseits des Einsteigersegments eine schwere Zukunft und auch beim Trendthema Schaltautomatik bleibt Lermen auf dem Boden der Tatsachen. „Stand jetzt gibt es noch kein System, das wirklich voraus schauen kann. Der Mensch ist da immer noch im Vorteil“.
Schaltautomatik: Stand jetzt gibt es noch kein System, das wirklich voraus schauen kann. Der Mensch ist da immer noch im Vorteil.
Der Weg von Lermen und seinem Partner Michael begann schon im Studium. Die beiden interessierten sich da schon fürs Fahrrad und für Getriebe, sammelten bei Porsche praktisches Know-How. Erfahrene Entwickler, wie oft angenommen wird, waren die Pinion-Gründer da aber längst noch nicht. Lermen grinst verschmitzt „Die Idee für Pinion kam uns zwar in der Motoren- und Getriebeentwicklung in Weissach. Aber wir waren damals beide noch Studenten.“ Der erste Getriebe-Prototyp, in den die beiden zwei Jahre Entwicklung und den Gegenwert eines Kleinwagens investiert hatten, schaffte es nicht einmal bis auf den Schutthügel neben dem ersten Büro. Ein Rückschlag. Wenig später stieg wegen der Finanzkrise auch noch der erste Investor aus.
Doch Lermen und Schmitz gaben nicht auf. 2008 gegründet hat Pinion heute über hundert Mitarbeiter, ihre Getriebeschaltung gilt als das kompakteste und haltbarste Mountainbike-taugliche Antriebssystem überhaupt. Doch mit der MGU tritt Pinion in Konkurrenz zu Kolossen wie Bosch, Shimano und Yamaha. Kann das gut gehen? Nicht zuletzt auf die MGU selbst wird es ankommen, ob Pinion im Haifischbecken Fahrradbranche bestehen kann. Die Aufmerksamkeit der Mitbewerber ist Pinion seit der Eurobike 2023 sicher – dort hatten die Schwaben mit der MGU das Innovations-Highlight gesetzt.
Die Erwartungen seitens der Partner sind entsprechend groß. Damit man dem hohen Anspruch gerecht wird, haben die Denkendorfer besondere Vorkehrungen getroffen. Die zeigt uns Werkstatt- und Montageleiter Kevin, bei einem Rundgang durch die Produktion. Aus den cleanen Fluren geht es in einen älteren, glasüberdachten Innenhof. Weiches Licht fällt durch die Dachfenster auf Dutzende Kartons, in denen hunderte Zahnräder und Kleinteile auf ihre Erfassung fürs Lager warten. Fast 200 Einzelteile braucht Pinion für die Montage einer einzigen MGU. Die meisten kommen aus Deutschland. Doch darum geht es nur am Rande, sagt Montageleiter Kevin. „Der Qualitätsanspruch bei den Präzisionsbauteilen ist sehr hoch. Deswegen greifen wir gern auf regionale Partner zurück.“
Zahnräder, extrahart und mit minimalsten Toleranzen, kommen aus dem Schwarzwald, andere Getriebe-Teile aus der Schweiz. Das Highlight aus insgesamt 500 Einzelteilen, die für die unterschiedlichen Pinion-Produkte hergestellt werden, ist auch eines der Geheimnisse des bisherigen Erfolgs: die Schaltklinke. Ein unscheinbares Kleinteil, halb so groß wie ein Daumennagel, auf dem doch zeitweilig die ganze Kraft des Antriebs lastet. Deswegen ist die Schaltklinke ein Ultra-Präzisionsbauteil, härter als ein japanisches Küchenmesser und gefräst auf wenige Tausendstel-Millimeter Toleranz. Jede einzelne Klinke kostet schon im Einkauf acht Euro, sieben davon braucht man in jeder Pinion-MGU.
Auf einem Kleinteil, halb so groß wie ein Daumennagel, lastet die ganze Kraft des Antriebs.
Vorbei an Kommissionierung und Qualitätskontrolle führt uns der Montageleiter weiter ins Obergeschoss. Hier werden die finalen Bauteile der Pinion-Getriebe von einem guten Dutzend Mitarbeiter zusammengesetzt. Manche sind schon über zehn Jahre bei dem jungen Unternehmen. „Die Mitarbeiter müssen sehr präzise arbeiten“, erklärt Kevin, um die vielen Zahnräder, Klinken und Distanzringe in der korrekten Reihenfolge auf die dazugehörigen Wellen zu puzzeln. Klick, klack, schaltet eine Mitarbeiterin vor unseren Augen die Gänge durch, dabei hält sie nur zwei grob vormontierte Wellen aneinander. Ob alles richtig sitzt, wird zwischendrin per Software kontrolliert. Der Computer erkennt auch kleinste Abweichungen.
Am Schluss wird das Gehäuse aufgesetzt, gedichtet, mit Öl befüllt und automatisch entlüftet. Noch das Logo drauf, dann drückt ein Mitarbeiter auf einen Klickzähler. Die vierundsiebstigste MGU ist es heute, die kurz vor der Mittagspause vom Band rollt. „Wir rechnen damit, dass die MGU unser Geschäft mit klassischen Getrieben bald deutlich in den Schatten stellen wird“ sagt Gründer Christoph Lermen. Neun große Hersteller bieten mittlerweile E-Bikes mit Pinion MGU an, in Zukunft sollen es noch wesentlich mehr werden. Kettenschaltung hin, Schaltautomatik her.
Die Geschichte von Pinion ist die Geschichte eines Startups mit einer guten Idee. Lange werkelten die zwei Gründer allein, seit 2017 steigt die Mitarbeiterzahl aber rapide. Heute hat Pinion gut hundert Mitarbeiter.
EMTB: Einmal auf den Punkt gebracht: Was war die Idee, mit der Michael und du Pinion gegründet haben?
Christoph Lermen: Warum gibt es denn im Auto ein Getriebe, das ein ganzes Fahrzeugleben hält und beim Fahrrad muss man da ständig Hand anlegen? Das war der Zündfunke, der uns nicht mehr losgelassen hat. Man muss sich das mal umgekehrt vorstellen: Wie wäre das, wenn ein Sportwagen eine Kettenschaltung hätte? Die ständig einen Service braucht? Das Getriebe ist da schlicht überlegen.
War es schwierig für Euch, Geldgeber von Eurer Idee zu überzeugen?
Das Konzept ist glaube ich sehr greifbar, und das hat uns in die Karten gespielt. Mit dem ersten Investor hatten wir allerdings kein Glück. Der geriet Ende 2008 in der Krise unter Druck und stieg 2009 aus. Im Nachhinein ein Glücksfall. Wir haben die ganze Idee nochmal neu gedacht. Erst dadurch wurde unser Getriebe so kompakt, wie es heute ist.
Wie kam es zur MGU?
Ungefähr 2017 war klar, dass wir auch im E-Bike-Bereich Fuß fassen wollen. Und was lag näher, als unsere Getriebetechnik gleich in einem Gehäuse mit einem Motor zu kombinieren? Die Umsetzung war eher die Herausforderung. E-Antrieb, Software, damit hatten wir keine Erfahrung. Wir mussten unsere Mechanik-Bude zu einem Mechatronik-Unternehmen umbauen und das ist uns doch ganz gut gelungen.
Die MGU hat klare Vorteile, aber es gibt noch einige Eigenheiten, wie etwa den Doppel-Schalt-Vorgang. Wie geht ihr damit um?
Da spielt die Gewöhnung eine ganz große Rolle. Wir haben uns über Jahre auch an die Eigenheiten der Kettenschaltung gewöhnt. Ich würde sagen: Für einen Neuling ist unser System deutlich intuitiver.
Sram und Shimano gehen ja auch schon stark in Richtung Schalt-Automatik. Die MGU ist dafür ja prinzipiell auch prädestiniert.
Ja. Fakt ist allerdings: Auch durch die beste Sensorik kann das Bike erst in der Situation analysieren, was zu tun ist. Vorausschauen ist technisch sehr schwierig und klappt aktuell nicht einmal im Automobil-Bereich. Wer da eine einfache Lösung verspricht, dem würde ich nicht trauen. Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln werden wir dem perfekten Zustand aber schon sehr nahe kommen.
Für einen Fahrrad-Neuling ist unser System deutlich intuitiver als die Kettenschaltung
Was wird sich bei der MGU in den kommenden Jahren noch verändern hinsichtlich Bauraum, Lautstärke, Funkion, aber auch Preis?
Das ist jetzt unsere erste Generation, und wir starten da schon auf einem sehr hohen Niveau. Aber die Entwicklung steht nie still und wir sehen bei all den genannten Punkten noch Potenzial. Auch aktuelle Trends, wie etwa leichte E-Bike-Antriebe beobachten wir sehr genau. Zum Thema Preis: Langfristig können wir uns die MGU auch in der oberen Mittelklasse vorstellen. Premium wird Pinion aber bleiben.