ExklusivinterviewDarum beendet DH-Legende Nico Vouilloz seine Rennkarriere!

Christian Schleker

 · 29.09.2023

Der Franzose ist zehnfacher DH-Weltmeister. Seinen Spitzname „E.T., der Außerirdische“ resultiert aus der Dominanz in der aktiven Rennzeit. Als der Worldcup-Zirkus noch überwiegend aus Partytypen bestand, war er schon ganz der austrainierte Vollprofi mit einer Aura der Perfektion und Unnahbarkeit. Auch als Rallyefahrer gewann er viele Rennen und war im Enduro- und E-Enduro-Rennzirkus lange Zeit noch an der Spitze dabei. Letztes Jahr verschwand er plötzlich aus dem Renngeschehen. Dies ist sein erstes Interview, seit einem Jahr.
Foto: Pierre VIEIRRA
Nico Vouilloz trägt den Spitznamen “der Außerirdische” nicht umsonst: Er ist 10-facher Downhill-Serienweltmeis­ter, Rallyecar-Profi und Enduro-Racer, der den Jungen das Fürchten lehrt. Jetzt fürchtet er um seine Gesundheit. Ein Interview mit Nico, das ganz anders wurde als geplant.

Mein Traum war es schon länger, mit meinem Idol Nico Vouilloz gemeinsam biken zu gehen. Also gemeinsam im Sinne von nebeneinander, in gerin­gem Abstand und in Sprech­entfernung. So was ist mir in den letzten 15 Jahren nicht gelungen, obwohl ich öfter mal mit dem “Außerirdischen” am Start stand: Beim Megavalanche in Alpe D’Huez 2006 zum Beispiel. Oder zuletzt beim E-EWS-Rennen in Pietra Ligure im letzten Jahr. Beide Rennen hat Nico natürlich gewonnen.

Und natürlich habe ich Nico Vouilloz nur kurz beim Start gesehen, von Weitem. Und dann wieder am Ende auf dem Podium ganz oben, von Wei­tem. Ansonsten lagen viele Teil­nehmer und Minuten zwischen ihm und mir. Aber jetzt! Ein Presse-Camp zum neuen Lapierre-E-Enduro wurde uns angeboten. Mit dabei: Nico Vouilloz aka “E. T.”. Denn Nico ist Chefentwickler bei Lapierre. Hurra – mein Traum wird wahr! Oder doch nicht? “Nico kommt zwar, kann aber nach einem Sturz nicht Rad fahren”, verkündete die Presse-Lady die Hiobsbotschaft. Oh, Bummer, was hat er denn, der Abfahrtsgott? Schlüsselbein? Kreuzband? Nein, Nico laboriere seit über einem Jahr an den Folgen eines Sturzes, bei denen er sich eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen habe, hieß es. Seit einem Jahr? Und er fährt immer noch nicht wieder Rad? Was ist da los? Nach der Info waren wir alle im FREERIDE-Office ziemlich geschockt, denn mitgekriegt hatte das keiner von uns. Dennoch wollte ich Nico auf jeden Fall treffen – gemeinsam biken, hin oder her. Wie geht es der DH-Legende, was ist genau passiert, und wie geht es mit ihm weiter?

Ich treffe Nico in Annecy am zweiten Tag des Presse-Camps – eine Stunde Zeit wird mir eingeräumt, und ich werde gebeten, die Fragen auf Französisch zu stellen, da Nico Sprechen in Englisch zu sehr anstrengt. WTF? Nico sprach doch ausgezeichnet Englisch. Da ist er. Mein Idol wirkt angespannt. Das macht auch mich nervös. Was wird das für ein Interview? Wird es überhaupt eins? Mal sehen.

Risiko Gehirnerschütterung - Nico Vouilloz’ Leben hat sich mit einem Schlag verändert

Nico Vouilloz: “Zu viele Stürze auf den Kopf.” Ob das Hirntrauma wieder völlig ausheilt, weiß der Super-Downhiller nicht und sieht sein Lebenskonzept in Gefahr.Foto: Pierre VIEIRANico Vouilloz: “Zu viele Stürze auf den Kopf.” Ob das Hirntrauma wieder völlig ausheilt, weiß der Super-Downhiller nicht und sieht sein Lebenskonzept in Gefahr.

Meistgelesene Artikel

1

2

3

FREERIDE: Nico, wir waren überrascht, als wir von Deinem Zustand gehört haben. Deshalb erst mal: Wie geht’s Dir?

Nico Vouilloz: Es geht mir schon besser. Denn ich hatte wirklich eine schwere Zeit. Es geht mir aber immer noch nicht gut – ich bin noch sehr eingeschränkt, und so geht es jetzt schon seit einem Jahr. Ich wäre gerne schon weiter.

Was ist denn genau passiert?

Es passierte am Tag vor dem Rennen der E-EWS in Pietra Ligure. Ich war alleine unterwegs, um auf der Strecke zu trainieren und habe an einer Stelle die Kontrolle verloren. Sturz! Ein Sturz wie viele? Nein, denn ich bin mit dem Kopf gegen einen Ast geknallt. Das war eine extreme Abbremsung aus sehr hohem Tempo. Sonst hatte ich nichts, nur eben den heftigen Schlag auf den Kopf. Und weil ich mich körperlich eigentlich okay gefühlt habe, bin ich am nächs­ten Tag das Rennen gefahren. Ich habe mich enorm gepusht und gewonnen. Das war einer der schönsten Siege der letzten Jahre, weil ich viele junge Konkurrenten besiegt habe. Aber es war sehr heiß, und das Race daher sehr anstrengend. Danach war ich extrem erschöpft. Aber ich habe mir gedacht: “Hey, du hast gewonnen! Du bist also gut drauf!” Und so habe ich im Herbst intensiv trainiert. Dabei bin ich auch noch ein paar Mal gestürzt. Und plötzlich begannen die Einschränkungen. Zuerst beim Sehen. Licht tat mir richtig weh. Ich bemerkte Unschärfen am Sichtfeldrand – beunruhigend! Dann ging ich zum Arzt.

Was hat der gesagt?

Er stellte die üblichen Fragen: Warst du ohnmächtig? War dir schlecht? Hattest du Gedächtnislücken? Und weil ich das verneint habe, konnte er mir nicht wirklich weiterhelfen. Das ist auch das Problem! Viele Ärzte sind noch nicht auf dem Stand der Wissenschaft, was Gehirn­erschütterungen anbelangt. Was dabei eigentlich passieren kann, wenn man so eine Verletzung nicht richtig ausheilen lässt – oder noch schlimmer: Wenn sich die Mini-Verletzungen mit der Zeit summieren.

Demnach hast Du weitergemacht?

Ja. Ich habe weiter trainiert. Ich bin sogar noch ein Rennen gefah­ren. Aber ich bin überraschend oft gestürzt, habe seltsame Fehler gemacht, die mir sonst nicht passieren. Und dann hat es mich beim Trainieren noch mal hingehauen.



Wieder auf den Kopf?

Wieder voll auf den Kopf! Das war vermutlich der Schlag zu viel. Denn ab dann ging es mit mir gesundheitlich bergab. Eingeschränktes Sehen – das ist besonders beunruhigend! Doch auch Schwindel, Lärm­empfindlichkeit, sensible Reak­tionen auf Licht. Solche Symp­tome traten nun schon auf, wenn ich einen holperigen Trail runtergefahren bin. Also alleine dadurch, dass ich etwas durchgeschüttelt wurde. Und dann kamen Kopfschmerzen. Ich hatte dauernd Kopfschmerzen – da wurde mir bewusst, dass gerade etwas Schlimmes mit mir passiert. Mein erster Gedanke: Hirntumor. Also ging ich zum Spezialisten.

Was hat der Experte festgestellt?

So eine Schädigung wie bei mir, gibt kein exaktes Bild ab. Man muss sich das nicht wie ein Fleck auf dem Hirn-Scan vorstellen. In meinem Fall spricht man vielmehr vom „kumulativen Effekt“. Also ganz viele, nicht ausgeheilte Mini-Verletzungen haben am Ende zu einer Beschädigung des Gesamtsystems Gehirn geführt. Darunter leide ich jetzt. Wie viel davon wieder weggeht, ob es überhaupt wieder weggeht, oder wie viel davon bleibt? Das kann man nicht vorhersagen. Mein Problem war, dass mein Hausarzt einfach nicht auf dem Laufenden war. Er hätte ganz andere Tests machen müssen. Leider war er nicht auf dem neusten Stand.



Nico: Plötzlich begannen die Einschränkungen. Zuerst beim Sehen. Licht tat mir richtig weh. Ich bemerkte Unschärfen am Sichtfeldrand – beunruhigend! Dann ging ich zum Arzt.Foto: Pierre VIEIRANico: Plötzlich begannen die Einschränkungen. Zuerst beim Sehen. Licht tat mir richtig weh. Ich bemerkte Unschärfen am Sichtfeldrand – beunruhigend! Dann ging ich zum Arzt.

Nico Vouilloz: “Ich werde nie wieder Rennen fahren!”

Ich stelle wenig Fragen. Nico antwortet schnell, gestikuliert viel. Man merkt, dass er seine Geschichte erzählen will. Es scheint auch, als wolle er mich – und sich selbst – davon überzeugen, dass er nicht fahrlässig war. Dass er nichts falsch gemacht hat. Er wirkt aufgeregt und frustriert zugleich. Ich merke, wie sehr ihm die Situation zu schaffen macht. Selbst ich als Freizeitsportler leide, wenn ich wegen einer Verletzung nicht mehr aufs Rad kann. Wie muss es einem Top-Athleten gehen, der von einem ganz anderen Trainings-Level auf Null abstürzt? Und das womöglich für immer?

Und jetzt?

Im Moment hoffe ich, dass das alles nur Symptome sind, die wieder weggehen. Ich weiß nicht, was ich mache, wenn die Symptome bleiben. Im Moment kann ich nicht das machen, was ich liebe. Und das betrifft bei mir ja nicht nur den Sport an sich. Ich bin ja auch leidenschaftlicher Entwickler. Ich teste genauso gerne, wie ich Rennen fahre. Das ist mein Hauptberuf. Aber auch das geht nicht. Und das darf nicht so bleiben.

Was ist denn Dein Ziel? Willst Du nur gesund werden, oder hoffst Du, auch wieder Rennen zu fahren?

Rennen? Auf keinen Fall! Das ist vorbei! Für immer. Ich habe keine Lust mehr, Risiken einzugehen. Mir reicht, was ich jetzt erleben muss – ich bin körperlich völlig fertig! Jeder Sturz kann mich wieder in so eine Situation bringen. Nein, danke! Mir reicht’s! Wettkämpfe – das ist echt vorbei. Selbst wenn ich wollte: Wenn man heutzutage ein Jahr raus ist, dann war’s das! Die Konkurrenz schläft nicht, den Rückstand hole ich nie mehr auf, selbst wenn ich ganz gesund würde und es richtig wollte. Mental kriege ich diese Fokus­sierung nicht mehr hin. Dafür bin ich auch zu alt. Man kann zwar in meinem Alter noch erfolgreich sein, aber nur, wenn man immer dabeibleibt – wie Greg Minnaar. Minnaar schafft das aber nur, weil er immer dabeigeblieben ist.

Eine Leben ohne Sport? Was bringt die Zukunft für die DH-Legende Nico Vouilloz?Foto: Pierre VIEIRRAEine Leben ohne Sport? Was bringt die Zukunft für die DH-Legende Nico Vouilloz?

Gibt es denn heute trotzdem Tage, an denen Du glücklich bist? Selbst ohne Sport und mit den gesundheitlichen Einschränkungen?

Es gibt schon Momente, wo es mir ganz gut geht. Wo ich denke: Das ist doch alles gar nicht so schlimm. Ich sage mir dann: Schau, es läuft! Da ist zwar viel Mist gerade, aber jetzt, hier im Moment, ist doch alles fein. Gerade morgens, wenn ich aufwache, habe ich solche Momente. Leider bin ich dann gleichzeitig vergesslich. Sobald es mir nämlich gutgeht, werde ich aktiv. Ich fange an, im Garten zu arbeiten. Ich bastle am Haus rum, so Zeug. Und dann, am nächsten Tag, bin ich komplett erschöpft. Und ich denke mir: Scheiße, ich Idiot, ich hab’ gestern viel zu viel gemacht.

Das hört sich nach einem ziemlichen Auf und Ab an. Wie ist das für Deine Familie?

Ich bin wirklich dankbar für meine Familie und für ihr Verständnis. Denn ganz ehrlich: Wenn du die Probleme hast, die ich habe, dann verändert das dein Wesen. Du wirst schneller aggressiv, erträgst weniger, bist einfach gar nicht in der Lage, Konflikte auszuhalten. Im Auto, mit den Kindern. Du bist dir gar nicht bewusst, wie stark du überreagierst.

Nico wirkt jetzt sehr aufgeregt. Das ist eigentlich kein Interview mehr, das Gespräch erinnert eher an eine Therapiesitzung. Das ehemalige Ausnahmetalent steckt in einer Ausnahmesituation: beruflich, gesundheitlich, privat. Ich weiß nicht, wie viel Nico früher in seinen Interviews von sich und seinem Gefühlsleben preisgegeben hat, doch ihn umgab immer die Aura des perfekten Athleten – austrainiert, kontrolliert, optimiert, sachlich, kompetent. Emotional war da gar nichts. Und jetzt das.

Leidet die Familie?

Die halten mich aus (er lächelt). Meine Familie ist eine Einheit. Wir stehen zusammen. Meine Familie fordert mich auch. Zum Beispiel wollte ich nicht zu diesem Presse-
Camp hier. Ich habe gezögert. Aber meine Familie hat gesagt: Los, geh’ da hin. Das tut dir gut. Denn meine Familie hat gesehen, wie ich mich im letzten Jahr immer mehr zurückgezogen habe. Alles wurde mir schnell zu viel. Ich war nur noch erschöpft. Und ich wollte natür­lich nicht, dass mich die Leute so sehen: erschöpft, mit Speck auf den Rippen. Meine Familie weiß, wie weit sie mich pushen darf. Sie zwingt mich nicht, aber sie führt mich in die richtige Richtung. Das ist super wichtig für mich.

Die Zeit ist um. Der Fotograf war zwischendurch da und hat Porträts geschossen. Eine Tür geht auf, und die Kellnerin kommt rein und fängt an, die Tische der Hotellobby fürs Mittagessen zu decken. Zeit für mich, zum Ende zu kommen. Und auch Nico macht den Eindruck, dass er jetzt gerne mit dem Reden aufhören würde.

“Im Moment hoffe ich, dass das alles nur Symptome sind, die wieder weggehen. Ich weiß nicht, was ich mache, wenn die Symptome bleiben.”Foto: Pierre VIEIRA“Im Moment hoffe ich, dass das alles nur Symptome sind, die wieder weggehen. Ich weiß nicht, was ich mache, wenn die Symptome bleiben.”

Eine Leben ohne Sport? Was bringt die Zukunft für die DH-Legende Nico Vouilloz?

Nico, eigentlich wollte ich ein ganz anders Interview mit Dir führen. Mehr zu Deinen Rennplänen erfahren, zu technischen Dingen der neuen Bikes. Aber das alles ist für Dich vermutlich im Moment eher weit weg. Was mich abschließend aber noch interessiert: Wovon träumst Du? Oder anders: Was macht Nico Vouilloz in fünf Jahren?

(Lange Pause). Puh, wo sehe ich mich in fünf Jahren? In fünf Jahren fahre ich Fahrrad. In allen Formen, die es gibt. Ich fahre zum Spaß mit meinen Freunden. Und ich werde neue Bikes testen. Ja, das werde ich machen! Rumprobieren, neue Dinge als Erster sehen und sagen: Das ist gut, das ist nicht so gut! Hier muss man was ändern. Da muss eine andere Federung rein. Das ist etwas, was mir Spaß macht. Und ich werde alles dafür tun, dass ich da wieder hinkomme. (Nico macht eine kurze Pause. Denkt nach.)

Aber selbst, wenn das nicht klappt – ich sehe jetzt schon vieles mit anderen Augen, wertschätze meine Familie ganz neu, freue mich an ganz ande­ren Dingen als früher. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass sich mein Leben anders entwickelt, mich meine Gesundheit nicht so im Stich lässt. Dass der Wettkampf für mich vorbei ist, das habe ich schon akzeptiert. Und alles, was nun kommt, werde ich dann vermutlich auch akzeptieren. Oder es lernen zu akzeptieren. Hauptsache, ich habe ab und zu noch mal einen Adrenalinschub. So wie jetzt. Das Camp, das Interview, das löst in mir schon ein bisschen Aufregung aus, und das gibt mir ein gutes Gefühl. Und das reicht mir schon, um glücklich zu sein.

Meistgelesen in der Rubrik Über Uns