Henri Lesewitz
· 23.01.2023
Was tun, mit alten, abgefahrenen Fahrradreifen? Das war bisher die große, ungelöste Frage. Während Großkonzerne noch über erste Schritte grübeln, hat Schwalbe ein Reifen-Recycling-System entwickelt, das jeder Biker ab sofort nutzen kann. Das System ist revolutionär. Das Beste: Jeder kann es nutzen, egal, welche Reifenmarke er fährt. Wir sagen, was es der Umwelt bringt, ob es dem Kunden was kostet und warum Bike-Reifen ab sofort nicht mehr in den Müll gehören.
Die Meldung klang wie ein Märchen und ging durch alle Medien: Radhändler Ingo Ruhland aus Freising hatte jahrelang die alten Reifen seiner Kundschaft gesammelt, weil er es als Verbrechen an der Umwelt empfand, sie einfach in die Müllverbrennung zu geben. Insgeheim habe er gehofft, dass irgendwann ein Recycling-Verfahren entwickelt werde. “Reifen sind kein Müll, sondern Wertstoffe”, stellt Ingo Ruhland klar. Mehr als 20 000 Altreifen sammelten sich im Laufe der Jahre in seinem Gewölbekeller an, ohne dass seine Hoffnung erfühlt wurde. Dann, im November, 23 Jahre nach Beginn der Sammelaktion war es soweit. Schwalbe hatte das Unmögliche möglich gemacht. Zusammen mit der TU-Köln sowie dem innovativen Saarländer Startup Pyrum gelang es, ein System zur Rückgewinnung von Reifen-Rohstoffen zu realisieren.
Bisher war Schwalbe, einem Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit, das Recycling nur mit Schläuchen gelungen. Das System auf Reifen auszuweiten stellt einen gewaltigen Quantensprung dar, da diese im Aufbau komplexer und von den Materialien her vielfältiger sind.
Und so funktioniert es: Kunden können die Fahrradreifen bei allen Händlern, die sich an dem Programm beteiligen, abgeben. Das Logistikunternehmen Emona bringt die Sammelcontainer zum Reifen-Recycling-Stützpunkt von Pyrum. Dort werden die Bestandteile der Reifen in einem patentierten, thermischen Verfahren voneinander getrennt. Danach werden die wiedergewonnenen Rohstoffe für die Produktion neuer Reifen einsetzt. Knapp 80 Prozent CO2 werden laut Schwalbe so gespart.
Wo gebe ich meinen alten Fahrradreifen ab?
Auf der Schwalbe-Webseite finden sich mittlerweile über 1300 teilnehmende Händler. Dort können alte Fahrradreifen abgegeben werden.
Wann ist ein alter Bike-Reifen wirklich abgefahren?
Einen exakten Wert wie bei Autoreifen, wo die Verschleißgrenze anhand der Profiltiefe bestimmt wird, gibt es bei Fahrrad- oder Mountainbike-Reifen nicht. Je abgefahrener die Stollen, desto schlechter wird die Performance. Und auch die Pannensicherheit.
Kann ich auch Fahrradreifen anderer Marken abgeben?
Ja. Es wird jeder Fahrradreifen angenommen und recycelt. Und man kann natürlich auch Reifen abgeben, wenn man keinen neuen kauft.
Werden die Kosten an mich weitergegeben?
Das ist individuell. Zumeist kommt der Händler für die Kosten der Entsorgung (139 Euro pro Container) auf. Es gibt jedoch auch vereinzelt Shops, die von den Kunden eine kleine Beteiligung verlangen.
Wann sollte ich einen Reifen am MTB wechseln?
Wenn das Profil so abgefahren ist, dass die Traktion leidet. Nach zwei, drei Jahren beginnt zudem die Gummimischung, porös zu werden. Sobald deutliche Risse auftreten oder Stollen an den Seiten ein- oder abreißen, ist es Zeit für einen Reifenwechsel.
Wie gelangen die Reifen zum Recycling?
Beim Händler landen sie in einem speziellen Container, der 200 Mäntel fasst. Ist der voll, wird er von Schwalbes Speditionspartner abgeholt.
Welchen Beitrag für die Umwelt leiste ich mit der Rückgabe alter Reifen?
Durch den Prozess vermeidet man Müll und CO2-Emissionen bei der Verbrennung. Stattdessen wird Rohölersatz in einer energieautarken Produktion gewonnen sowie Ruß, der dann in neuen Reifen Verwendung finden kann. Dadurch spart man auch im Reifenherstellungsverfahren CO2 (laut Schwalbe 80 Prozent) sowie fossile Rohstoffe.
Werden auch andere Firmen nachziehen?
Das ist so gut wie sicher. Die Frage ist nur, wann. Schwalbe wird inzwischen selbst in der Automotive-Industrie als Blaupause verwendet. Den ersten Pyrolyse-Reaktor von Pyrum im Saarland „füttert“ seit Januar 2023 unter anderem auch BMW.
Das Verbrennen von Reifen empfanden wir schon immer als Katastrophe.
Sein Großvater Ralf Bohle hat Schwalbe gegründet, sein Onkel ist CEO der Marke, sein Vater leitet das operative Geschäft und er das Corporate-Social-Responsibility-Team. Felix Jahn (31) erklärt im Interview mit unserer Autorin Sissi Pärsch, wie das Familienunternehmen gerade zum Vorreiter der Kreislaufwirtschaft wird.
BIKE: Schwalbe versucht schon seit den 90er-Jahren, ein Reifen-Recycling-Programm aufzustellen. Warum hat das so lange gedauert?
Felix Jahn: Im Gegensatz zum Schlauch besteht ein Reifen nicht aus Mono-Material. Er ist deutlich komplexer im Aufbau mit Wulstkern, Karkasse sowie verschiedenen Gummimischungen. Schon die Zerlegung ist eine Herausforderung. Ganz zu schweigen von der Wiederaufbereitung. Umso stolzer sind wir jetzt, den Kreislauf geschlossen zu haben.
Warum habt Ihr Euch an dem Thema so festgebissen?
Grundsätzlich sehen wir es als unternehmerische Pflicht, so ressourcenschonend wie möglich zu handeln. Die Kreislaufwirtschaft ist dabei ein wichtiger Baustein. Ganz ehrlich: Das Verbrennen von Reifen empfanden wir schon immer als Katastrophe. Die Emissionen, die dabei entstehen, die Ressourcen, die für immer verloren gehen. Ich bin mir sicher, dass auch andere alte Radkomponenten zu hochwertigen neuen werden können. Wir können als Branche den Wandel von der linearen hin zur Kreislaufwirtschaft schaffen.
Spielt neben dem Punkt der Nachhaltigkeit auch die Sicherung der eigenen Lieferkette eine Rolle?
Natürlich sehen wir die wachsende Fragilität der globalen Lieferketten. Sich hier ein zweites Standbein aufzubauen, kann uns nur guttun.
Schwalbe ist der erste Fahrradreifenhersteller weltweit mit einem Recycling-System. Wie sieht es außerhalb der Branche aus?
Unser Projekt hat inzwischen Modellcharakter und wird tatsächlich als Blaupause für Kreislaufwirtschaft in der Reifen- und Gummiindustrie angeführt. Es macht uns schon stolz, dass wir es als Mittelständler geschafft haben, innerhalb von nur zwei, drei Jahren ein Vorzeigeprojekt zu etablieren. Wir bilden natürlich nur einen kleinen Teil des gigantischen Altreifenmarktes ab. Aber was wir angestoßen haben, zeigt, dass auch ein kleines Rad Großes in Gang bringen kann.
Was waren die zentralen Schritte bei der Entwicklung Eures Systems?
Das wichtigste Puzzleteil war das Vertrauen, mit dem wir gemeinsam mit der TH Köln und Pyrum forschen konnten. Ohne deren außergewöhnlichen Einsatz und auch dem von unserem gesamten Team wären wir nicht da, wo wir heute stehen. Auch unser Logistiker Emons spielte eine wichtige Rolle. Sie haben ein System ausgerollt, ohne kalkulieren zu können, was genau auf sie zukommt. Die Vorleistung sowie das Engagement erzielt man nur, wenn man das aus Überzeugung angeht.
Wie hat der Handel auf Euer Reifen-Recycling-System reagiert?
Sehr positiv, was sich auch durch die jetzt schon hohe Teilnehmerzahl bestätigt. Reifenentsorgung ist für viele Betriebe ein Problem, weil es zeitaufwändig und umständlich ist. Vom Umweltgedanken mal ganz zu schweigen.
Wo liegen aktuell noch die Herausforderung für Euch?
Wir arbeiten weiter daran, eine Qualität des recycelten Rußes zu erreichen, mit dem sich langlebige, leistungsstarke Reifen herstellen lassen. Reifenmischungen werden ja aus Virgin Carbon Black gewonnen, einer kohlenstoffreichen Mischung aus Rohöl und Gas. Die Ruße sind dabei in ihren Charakteristika genau definiert. Das ist bei recovered Carbon Black nicht der Fall. Es werden verschiedene Reifen von diversen Marken aufbereitet, und entsprechend gibt es eine Varianz in der Qualität. Wir forschen nun an einem möglichst gleichbleibenden Output. Dann können wir die Gummimischung anpassen.
Wie sehen Eure weiteren Ziele aus?
Dieses Jahr präsentieren wir auf der Eurobike 2023 den ersten Fahrradreifen aus 100 Prozent rCB, der danach im Handel verfügbar ist. Natürlich verfolgen wir das Ziel, so viele Produkte wie möglich mit rCB auszustatten. Dann möchten wir unter anderem unsere Reifen-Recycling-Systeme in noch mehr Ländern anbieten und unsere Emissionen durch smarte Produktentwicklung sowie den Ausbau erneuerbarer Energien stetig reduzieren.