Peter Nilges
· 25.10.2022
Mit K.I.S. (Keep It Stable) läutet die Komponentenschmiede Syntace eine Revolution im Zweiradbereich ein. BIKE durfte die Entwicklung des innovativen Lenksystems exklusiv begleiten.
Vor ziemlich genau einem Jahr klingelt mein Telefon. Jo Klieber, der Chef von Syntace ist dran. Ich kenne den genialen Erfinder und skurrilen Tüftler bereits seit 18 Jahren - zuletzt war Syntace auch Teil unseres BIKE Project:Ride Green Projects. Jo will meine Meinung zu seinem neuesten Projekt. „Entweder habe ich was wirklich Großes erfunden, oder es ist der letzte Scheiß“, ködern mich seine Worte. Also vereinbaren wir schleunigst einen Termin für eine erste Testfahrt. Mit fast zwei Stunden Verspätung rollt Jo im Wohnmobil auf den Parkplatz am Treffpunkt. Während er die vollgestopfte Heckgarage öffnet, versuche ich, seinen Ausführungen zu folgen. Als Großmeister der Gedankensprünge beginnt er im Alphabet oftmals bei B oder C, springt kurz zu Z, wechselt zwischendurch auch gerne mal zu Hieroglyphen, um, wenn die Zeit reicht, zurück zu Punkt A zu finden. Dann steht die angekündigte Erfindung vor mir.
Einen ersten Test des im neuen Canyon Spectral verbauten Syntace-Lenksystems gibt es hier - einen ausführlichen Test lesen Sie in BIKE 12/22.
Das kleine Teil prangt auf dem Oberrohr eines Liteville 301 und sieht aus wie eine Mausefalle, die über zwei Bänder mit dem Steuerrohr verbunden ist. Das soll also die große Erfindung sein? Ich runzle die Stirn. Jo spricht von einer balancierten Lenkung, die eine Mittelzentrierung wie beim Auto besitzt und das bestehende Ungleichgewicht der Lenkkräfte ausgleicht. Ein absolutes Novum im Zweiradbereich. Bevor ich mich in den Sattel schwinge, stelle ich mir die Frage: Hatte ich jemals Probleme beim Lenken? Die modernen Geometrien mit flachen Lenkwinkeln sorgen ohnehin für Laufruhe en masse und Souveränität im Gelände. Geht es hier vielleicht um die Lösung eines Problems, das es eigentlich gar nicht gibt?
Skeptisch klicke ich in die Pedale ein und rolle los. Bereits auf den ersten Metern, beim ersten Einlenken, fühlt sich die Lenkung zwar anders, aber dennoch intuitiv und irgendwie gleichmäßig an. Die beiden Zugfedern auf dem Oberrohr spannen sich bei jedem Lenkeinschlag und unterstützen so die Rückstellung zur Geradeausfahrt. Wir kurbeln auf meinen Hometrails diverse Runden mit knackigen kurzen Abfahrten. Da die Federkräfte gering ausfallen und ich nie das Gefühl habe, gegen etwas zu arbeiten oder spürbar mehr Kraft einsetzen zu müssen, fällt die Gewöhnungszeit gering aus. Vor allem in den steilen, rutschigen und verblockten Passagen bergab wirkt das Syntace-System nicht nur beruhigend auf die Lenkung, sondern auf das gesamte Fahrverhalten. Das Vorderrad läuft so stabil geradeaus, dass ich das Gefühl habe, auf dem Trail freihändig fahren zu können. Der letzte technische Uphill im Halbdunkeln sorgt für ein Aha-Erlebnis.
Die steile Rinne, gespickt mit Wurzeln und losen Steinen, erfordert Fahrtechnik, gute Beine und ein Gespür für den Untergrund. Im Normalfall muss ich die gesamte Breite der Rinne nutzen, um mich hier hochzuschlängeln und intuitiv meine Lenkbewegungen ausgleichen. Durch die flachen Lenkwinkel moderner Bikes neigt das Vorderrad bei Schneckentempo zum Abkippen. Doch dieses Mal ist alles anders. Wie von einer Schnur gezogen, treffe ich exakt jede Linie, ohne unnötige Lenkbewegung oder Gewichtsausgleich. Verblüffend. Ein letzter Test im Dunkeln: Ich kurbele freihändig zurück zum Parkplatz. Auch Kurven sind ohne eine Hand am Lenker nach wie vor möglich, da sich die Lenkung zwar mittig zentriert, aber nicht einrastet oder stoisch geradeaus läuft. Dafür entfällt auch hier ein starkes plötzliches Abkippen bei langsamer Fahrt. Selbst nach hinten kann ich mich mühelos umdrehen, ohne dass ich dabei automatisch eine Kurve einleite.
„Im Verlauf der letzten 30 Jahre hat sich im Mountainbike-Bereich so einiges getan. Dabei hatten nicht alle vermeintlichen Innovationen das Potenzial einer Federung, Scheibenbremse oder auch Teleskopsattelstütze. Mit K.I.S. bringt Syntace eine Neuerung, die die besten Voraussetzungen besitzt, den Zweiradmarkt nachhaltig zu beeinflussen. Die Tatsache, dass Branchengrößen wie Canyon und etablierte Marken im Motorradbereich auf das System setzen, unterstreicht ebenfalls die Bedeutung von K.I.S.“ - Fazit von Peter Nilges, BIKE-Testleiter
Zurück auf dem Parkplatz sage ich scherzhaft zu Jo: „Das Teil darf niemals auf den Markt kommen. Es nimmt dir so viel ab, dass es viele der mühsam antrainierten Fähigkeiten überflüssig macht.“ „Das nennt man dann wohl Fortschritt“, entgegnet mir der Tüftler mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ich bin angefixt. Für mich ist klar: Ich muss das System unbedingt noch länger fahren, um mir ein umfassendes Bild machen zu können. Da sich die Federvorspannung an dem Prototypen sogar während der Fahrt an- und ausschalten lässt, kann ich in den nächsten Tagen perfekt vergleichen. Nach vielem An und Aus fahre ich mehrere Tage nur noch mit Unterstützung der beiden kleinen Zugfedern. Eine Woche ist vorüber, und das Bike muss leider zurück. Auf der letzten Fahrt schalte ich noch einmal in den Normalmodus und muss schlucken. Ohne das System fühlt sich das Bike schlagartig nervöser und unsicherer an. Noch während ich die Pedale abschraube, denke ich erneut darüber nach, ob ich jemals mit der Lenkung eines Bikes unzufrieden war und komme zu dem Schluss: bis vor einer Woche sicherlich nicht.
Natürlich macht die Lenkrevolution auch am E-Mountainbike Sinn. E-Biker profitieren vom unsichtbaren Plus an Fahrstabilität genauso. Wir sind uns sicher, dass auch die ersten E-Mountainbikes mit K.I.S. nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Unsere EMTB-Redaktion hatte schon die Möglichkeit, das System ausgiebig zu testen. Dazu konnten wir auf zwei Liteville-Testbikes 301 CE zurückgreifen. Bei einem Modell war das System zu Testzwecken extern montiert, um zwischen ein- und ausgeschalteter Stabilisation wechseln zu können. Beim anderen Bike war die Integration nahezu unsichtbar und das Liteville E-Bike machte auf uns einen serienreifen Eindruck.