Bremsen und E-Bikes haben eine schwierige Beziehung. Vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung heißt es häufig, viele Piloten seien mit dem schweren Rad beim Bremsen und in der Kurve überfordert. Fürs Lastenrad gilt das noch mehr. “Unverantwortlich, dass man das ohne Führerschein fahren darf”, soll ein Kollege beim Fotoshooting für diese Ausgabe ausgerufen haben. Er hat seine Meinung später geändert und möchte nicht weiter genannt werden. Aber stimmt’s denn?
Fakt ist: Viele Lastenräder bremsen viel besser, als man denkt. Ein einfaches Alltagsrad mit gealterten Felgenbremsen steht da eindeutig schlechter da. Lastenrad fahren und auch Bremsen will allerdings gelernt sein. Speziell die beliebten Long-Johns mit Fahrer hinten und Cargobox vorn können eine Herausforderung darstellen. Denn ohne Ladung im Frachtraum lastet mit dem Fahrergewicht über der Hinterachse wenig Druck auf dem Vorderrad. Harte Bremsungen auf rutschigem Untergrund können so schnell zu blockierten Vorderrädern führen und in der Folge gefährlichen Rutschern führen.
Magura hat daher ein System entwickelt, das das vereinfachen soll. Ein Bremshebel für alles, wie beim Auto. Die Idee hat schon einen Eurobike-Award abgeräumt. Die Lastverteilung zwischen vorderer und hinterer Bremse übernimmt das System dabei automatisch. IBS, so heißt Maguras Integralbremse, ist dabei nicht auf Elektronik angewiesen, sondern regelt alles mit kostengünstigerer Hydraulik. Auch vorsichtige und ungeübte Lastenrad-Fahrer sollen so sichere und kurze Bremswege realisieren können. Durch die Betätigung mit nur einem Hebel bleibt der Kopf frei für andere Aufgaben. Ganz ähnlich wie bei einem ABS also, nur mit weniger teurer Technik, allerdings auch ohne Anti-Blockier-Funktion.
Ein Bremshebel für alles, wie beim Auto. Die Idee hat schon einen Eurobike-Award abgeräumt.
Dafür hat IBS ein anderes Ass im Ärmel, das beim Lastenrad den Unterschied machen soll. Denn die Bremslastverteilung erfolgt bei IBS nicht statisch. Bremst man nur wenig, wird vor allem das Hinterrad verzögert. Das längt das Chassis, statt es zu stauchen, und sorgt so gerade in Kurven für erhöhte Stabilität. Ein Effekt, den viele Motorrad- oder Rollerfahrer ebenfalls kennen dürften. Erst wenn stark gebremst wird, verteilt das IBS zunehmend mehr Bremsdruck auf das Vorderrad, das wegen der dynamischen Radlastverteilung dann auch stärker gebremst werden kann. Gerade bei unbeladenen Cargobikes mit wenig Last auf dem Vorderrad ein Vorteil.
Wir haben uns deswegen zwei scheinbar identische Lastenräder zum Vergleichstest bestellt. Einmal klassisch gebremst und einmal mit Integralbremse. Beim Fahren im Alltag fällt auf, wie entspannt das Fahren mit IBS ist. Es mag trivial klingen. Aber den Luxus, auch mit nur einem Hebel richtig stark verzögern zu können, lernt man schnell zu schätzen. Die Handkraft hält sich überraschend in Grenzen. Natürlich haben wir Maguras Integralbremse möglichst vielen Szenarien ausgesetzt. Das Testrad musste sich bei trockenem Asphalt ebenso beweisen, wie bei früher Herbst-Nässe. Auch Gefälle haben wir der Integralbremse zugemutet, um Unstimmigkeiten in der Bremslastverteilung aufzudecken. Doch das System wirkt sehr durchdacht.
Im Grenzbereich beginnt auch ohne Beladung zuerst das Hinterrad zu rutschen. Das lässt sich in der Regel gut wieder einfangen, ist aber ein Warnsignal, dass bald auch vorn das Limit erreicht sein könnte. Bremsungen in Kurven bringen das schwere Rad gefühlt kaum aus dem Gleichgewicht. Aus rechtlichen Gründen, muss auch das IBS weiterhin einen Hebel für die Vorderradbremse haben. Betätigt man beide Hebel gleichzeitig, stellt sich wegen der Kopplung von vorderer und hinterer Bremse ein etwas ungewohntes Gefühl ein. Je nachdem, wie stark man die eine Bremse zieht, wandert der Druckpunkt auch im anderen Bremshebel. Faktisch kann man aber einfach nur den rechten Hebel verwenden und damit das Problem umgehen. Ob die etwas komplexere Hydraulik im Dauereinsatz Probleme bereitet, können wir nach wenigen Wochen im Testbetrieb kaum beurteilen.
Bleibt die spannende Frage: Können auch wenig versierte Lastenrad-Piloten mit Integralbremse kurze und sichere Bremswege realisieren? Magura hat dazu schon einen eigenen Test in Zusammenarbeit mit der Dekra durchgeführt. Beladen konnte man keinen deutlichen Unterschied zwischen den Bremswegen feststellen. Unbeladen ergab sich aber ein Vorteil für IBS.
Gemeinsam mit der Dekra hat Magura bei Einhand-Bremsungen einen deutlichen Vorteil für das IBS festgestellt
Besonders drastisch fiel der Unterschied natürlich aus, wenn Bremsungen nur mit einer Hand verglichen wurden. Klar: Wer die Vorderradbremse aus Angst vor Rutschern überhaupt nicht benutzt, steht mit IBS deutlich schneller. Schließlich wird hier auch mit dem hinteren Bremshebel die Vorderbremse mit betätigt. Und die fängt bekanntlich den größten Teil der Bremslast in einer Vollbremsung ab. Dass in der Praxis die vordere Bremse komplett gemieden wird, dürfte hoffentlich die absolute Ausnahme sein.
Um IBS abschließend beurteilen zu können, wollten wir uns selbst ein Bild machen. Wir spannten daher zehn Kolleginnen und Kollegen für einen Blindtest mit zwei scheinbar identischen Cago FS200 Long-Johns ein. Einmal mit und einmal ohne IBS. Welches Rad über welches System verfügt, wurde dabei vorab nicht verraten. Unsere zehn Probanden forderten wir dann zu einer Vollbremsung aus 25 km/h auf. Mit beiden oder mit nur einem Bremshebel? Dazu machten wir keine Angaben. Intuitiv nutzten die Probanden durchgängig beide Bremshebel. Beide Systeme lagen in unserem Test im Mittel extrem dicht zusammen (s. u.). Über zehn Probanden verteilt, lag der mittlere Bremsweg aus 25 km/h nur bei rund drei Metern. Mit IBS schafft man die gesetzliche Vorgabe von höchstens 4,5 Metern Bremsweg aus 20 km/h auch selbst bei einhändiger Bremsung noch locker.
Einen per se kürzeren Bremsweg konnten unsere Probanden mit IBS also nicht realisieren. Die Werte beider Systeme liegen aber auf Augenhöhe. Sicher auch, weil unsere Testfahrer zwar wenig Lastenrad-, aber insgesamt viel Fahrrad-Erfahrung mitbrachten und natürlich auch beim Rad ohne IBS kräftig in die vordere Bremse griffen. Das subjektive Feedback unserer Probanden fällt trotz vergleichbarer Bremswege auffällig oft für das Rad mit IBS aus. “Irgendwie hab’ ich mich hier weniger wackelig gefühlt”, bringt unsere letzte Testerin den Stabilisierungs-Effekt auf den Punkt.
Und die Kosten? IBS sei deutlich günstiger zu realisieren als ABS, sagt Magura. Die simplere Technik ohne jegliche Elektronik gibt’s bislang nur bei wenigen Anbietern. CaGo ruft mit 400 Euro zum Beispiel einen durchaus relevanten Aufpreis für IBS auf, der in einer ähnlichen Größenordnung wie ABS (um 500 Euro) liegt. Beim Riese & Müller kostet IBS hingegen nur 150 Euro Aufpreis während ABS mit 400 Euro zu Buche schlägt. Sollten sich auch andere Hersteller an diesem Beispiel orientieren, geht die Gleichung guter Mehrwert für geringen Aufpreis tatsächlich auf.
Wer beide Bremsen richtig nutzt, bekommt nach unseren Tests mit IBS zwar keinen kürzeren Bremsweg. Beeindruckt hat uns Maguras System trotzdem. Die Idee ist gut, die Technik wirkt simpel und trotzdem ausgereift. Selbst einhändig kann man jetzt richtig ankern, den zweiten Hebel braucht man vor allem aus rechtlichen Gründen. Größtes Problem: Das Angebot an Bikes mit IBS ist bislang noch zu überschaubar. - Adrian Kaether, Testleiter MYBIKE