Andreas Kublik
· 16.09.2023
Es pfeift und surrt, tropft und dampft, eine Trinkflasche kreist über dem Kopf, aus der für die Abkühlung Wasser spritzt. Dazu fließt der Schweiß in Strömen. Die Beine wirbeln, erst moderat, dann schnell, immer schneller, schließlich mit einer Trittfrequenz, wie man sie von Bahnsprintern kennt. Man hört angestrengtes Stöhnen – bis die Atemgeräusche von einem Lärmpegel übertönt werden, der an den Start eines Düsenjets erinnert – eine Sound-Melange aus dem Pfeifen der Profilreifen und dem Röhren der Walzen des Rollentrainers.
Es sieht aus, als ginge es für den Radsportler, der gerade im Vorzelt des Team-Trucks von Canyon CLLCTV XCO einen beeindruckenden Sprint hinlegt, um alles, mindestens um eine Medaille. Dabei sind wir erst beim Aufwärmprogramm zum WM-Rennen im Süden Schottlands, das in einer halben Stunde ein paar Pedaltritte entfernt an den Hängen des Glentress Forest starten wird.
Die Beobachter werden in diesen Minuten Zeugen einer Verwandlung. Luca Schwarzbauer, der Mann auf der Rolle, mutiert vom netten Jungen von nebenan zum verbissen pedalierenden, ehrgeizigen Racebiker. “Sein Aufwärmprogramm ist einmalig im Fahrerlager”, behauptet seine Teamchefin Claudia Baudry. Hochprofessionell, fokussiert, leidensfähig, extrem ehrgeizig – so wirkt Schwarzbauer vor dem vielleicht wichtigsten Auftritt seiner MTB-Karriere.
Jetzt, mit 26 Jahren, ist er an der Weltspitze angekommen, endlich. Zuletzt gewann er drei Weltcuprennen im Short-Track, fuhr beim Weltcup in Leogang im längeren Cross-Country-Wettbewerb auf Rang zwei. Und er will das erneut zeigen auf der größten Bühne, die Mountainbiker wohl bisher bei einer Weltmeisterschaft bekommen haben.
“Biggest cycling event ever”, steht auf den Werbeplakaten in Glasgow. Es ist die erste Super-WM des Radsport-Weltverbands UCI, mit fast allen Disziplinen, die es auf zwei Rädern zu absolvieren gibt. Mit mehr Rennen, mehr Übertragungen, mehr Medien, mehr Aufmerksamkeit – auch für die Mountainbiker, die oft in der Nische versteckt bleiben.
“Was uns viel hilft, ist die Präsenz von van der Poel und Pidcock”, erklärt der aktuell beste deutsche Biker den Rückenwind, den in der Szene gerade viele spüren. Die beiden vielseitigen Topstars des Radsports sind angesagt – dank ihrer Erfolge bei Tour de France und Straßenweltmeisterschaft.
Die große Radsport-Show in und um Glasgow soll der Höhepunkt der bisherigen Biker-Karriere von Luca Schwarzbauer werden. “Ich wollte hier Weltmeister werden”, sagt er am Rande der WM. Der Mann vom Fuß der Schwäbischen Alb wollte schon immer viel – und ist mitunter seinen eigenen Weg gegangen. Nicht immer erfolgreich.
Für Bundestrainer Peter Schaupp ist es kein Problem, dass der aktuell Beste seiner Querfeldeinspezialisten sein Aufwärmprogramm am Rande des WM-Parcours im Glentress Forest nicht im Lager des Nationalteams absolviert, sondern im Camp seines Rennteams. Schaupp freut sich, dass der junge Mann sein sportliches Glück, seine Form gefunden hat und nun sein Talent auf höchstem Niveau zeigen kann, das früh sichtbar war.
Im Jahr 2014 war Schwarzbauer EM-Zweiter und WM-Dritter bei den Junioren. Die Medaillen waren ein Versprechen auf eine große Zukunft. Aber der junge Athlet wollte zu früh zu viel. Mindestens drei Jahre, schätzt Schaupp, habe sein einstiger Schützling verloren, weil er in eine Abwärtsspirale geriet. “Es ging damals auch im Nationalkader viel um das Thema Gewicht, um Watt pro Kilogramm”, erzählt Schwarzbauer.
Er wollte auf dem Weg nach oben abspecken. Er aß wenig, viel zu wenig, und trainierte viel, zu viel. “Ich hatte eine Essstörung”, erzählt Schwarzbauer – schonungslos und offen, so ist der Student des Wirtschaftsingenieurwesens in seinen Analysen, seiner Selbstkritik.
Der Schwabe wog bei 1,79 Metern Körpergröße nur noch 63 Kilogramm. “Ich konnte kaum den Alltag bewältigen, geschweige denn, richtig trainieren”, erzählt er von dieser Phase im Jahr 2015, als er komplett entkräftet war, im Alter von knapp 19 Jahren. Dabei hat er eigentlich einen eher kräftigen Körperbau, Muskulatur und Weltklasse-Herz-Kreislauf-System liegen bei ihm etwas verborgener als bei anderen unter ein bisschen Babyspeck.
Für viele junge Sportler dürfte ein solches Krankheitsbild das Ende aller sportlichen Ambitionen sein. Bei Luca Schwarzbauer kam es anders – vielleicht auch, weil zwei seiner prägenden Charakterzüge zusammenfanden: zum einen seine Fähigkeit, Dinge intellektuell zu reflektieren, zu analysieren, extrem kritisch mit sich zu sein. So, wie er sich irgendwie vorher zu kräftig, zu schwer fühlte, verstand er auch ziemlich schnell, dass er nun viel zu dünn war. “So konnte es nicht weitergehen”, schildert er sein Fazit damals.
Und sein Ehrgeiz, der ihn zuvor zum Raubbau an seinem Körper in die Essstörung getrieben hatte, zog ihn wieder aus dem Schlamassel. “Er hatte noch eine Rechnung offen”, so beschreibt es der langjährige Wegbegleiter Schaupp. Schwarzbauer wollte beweisen, dass er zu den weltbesten Bikern gehört.
Aber es war ein langer Kampf, der Geduld erforderte. Und er war schlau genug, zu verstehen, dass er dazu zuallererst mit sich selbst im Reinen sein musste. Er fand es okay, als die Waage wieder mehr als 80 Kilo zeigte. Nun liegt sein Wettkampfgewicht in Bestform bei 76 Kilo, satte 13 Kilo mehr als zu seiner Hungerphase. “Ich bin jetzt zufrieden mit meinem Körper”, sagt er, obwohl er weder eine dünne Bergziege wie Tom Pidcock noch ein Muskelpaket wie Nino Schurter ist. Er hat gelernt, sich zu nehmen, wie er ist.
Und er sitzt auch ungewöhnlich auf seinem Bike, dessen Rahmen eigentlich zu klein für ihn ist, was er mit viel Setback, mit weit nach hinten geschobenem Sattel ausgleicht. Außerdem stürzt er sich als einer von ganz wenigen im Fahrerfeld ohne versenkbare Sattelstütze von den fast senkrechten Drops wie auf dem WM-Parcours in Schottland. Es geht eben alles – wenn man will.
Über die Jahre hat sich Schwarzbauer, der noch bei seinen Eltern in Nürtingen wohnt, das richtige Umfeld gestaltet. Eine Art persönliche Wohlfühloase mit Menschen seines Vertrauens: Dazu zählen Physiotherapeutin Lisa Wagner, sein südafrikanischer Trainer Barry Austin, der zuvor Pauline Ferrand-Prévot zurück in die Erfolgsspur gebracht hatte und den der Biker “Guru” nennt. Dazu Martijn Redegeld, der als Ernährungsberater des Straßenteams Jumbo-Visma Jonas Vingegaard die Speisepläne für den Sieg bei der Tour de France diktiert hat.
Im Team Canyon, wohin er zur Saison 2022 nach fast einem kompletten Rennfahrerleben beim deutschen Rennstall Lexware wechselte, fühlt er sich zu Hause, an der Seite der französischen Top-Biker Loana Lecomte und Thomas Griot. Geführt wird der Rennstall des deutschen Radherstellers vom französischen Paar Sébastien François und Claudia Baudry, die von ihren Rennfahrern schon mal Mama und Papa gerufen werden.
Schwarzbauer will keine Menschen um sich haben, die glauben, “die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben”, wie er sagt. Sondern Menschen, die sich hinterfragen, wie er selbst das tut. Die Rahmenbedingungen passen jetzt für den Aufsteiger der Bike-Szene.
Aber es geht nicht gut los bei dieser Radsport-Weltmeisterschaft 2023 in Schottland. “Es war eine große Enttäuschung”, sagt Schwarzbauer nach dem Auftakt im Short-Track-Race, in das er nach drei Weltcupsiegen in den vergangenen beiden Jahren als Mitfavorit gestartet war. Als Sam Gaze am letzten steilen Anstieg zum WM-Sieg davonstürmte, konnte der Deutsche beim besten Willen nicht folgen. Und in der letzten Kurve rauschte der Brite Tom Pidcock derart übermütig von hinten heran, dass er Schwarzbauer sogar zu Fall brachte. Er lag am Boden, Pidcock schnappte sich Bronze.
Im Ziel stellte der Gestürzte den Olympiasieger wegen dessen riskanter Fahrweise und der Kollision zur Rede, fand aber wenig Verständnis. Seine Kritik am Berufskollegen hallte in allen großen britischen Medien nach. “Ich war der große Verlierer des Rennens”, betont der Gefallene, der auch ohne Medaillengewinn Schlagzeilen machte.
Zwei Tage später wurde schon zur Halbzeit des Rennens über die olympische Distanz klar: Es würde nichts werden mit der ersten Cross-Country-Medaille für die Männer des Bund Deutscher Radfahrer seit Manuel Fumics WM-Silber vor zehn Jahren. Schwarzbauer konnte dem höllischen Tempo, das vor allem der zehnmalige Weltmeister Nino Schurter zu Beginn des Rennens vorlegte, schlicht nicht folgen. Im Finale verschärfte Tom Pidcock die Gangart nochmals und ließ auch den Altmeister aus der Schweiz stehen.
Ausgerechnet Pidcock holte sich nach Olympia-Gold 2021 nun sein erstes Regenbogentrikot. “Ich hätte mir jeden anderen als Weltmeister gewünscht”, sagt Schwarzbauer. Aber erkennt auch an: “Pidcock ist ein Mountainbiker durch und durch.” Explosiv, ausdauernd, technisch stark. Gegen den Radprofi vom Team Ineos Grenadiers war an diesem Tag kein Kraut gewachsen.
“Ich bin zufrieden. Neunter unter den Weltbesten, die hier alle in Top-Form waren”, sagt der beste deutsche Cross-Country-Spezialist, nachdem er sich zum Selfie mit seinem Team hinter der Ziellinie getroffen hat und zur WM-Bilanz mit den Journalisten in der Mixed-Zone auftaucht. Er hat gekämpft, hat etwas Zeit verloren, als er mit dem Lenker an einem Baum hängen geblieben ist. Aber er glaubt, er sei kaum einmal ein stärkeres Rennen gefahren. Die anderen waren einfach besser.
Schwarzbauer war der beste Schwarzbauer, der möglich war. Er hat gelernt, sich nicht an anderen zu orientieren. Nicht beim Gewicht, nicht beim Körperbau, nicht bei der Sitzposition, nicht bei den Ergebnissen. Er weiß jetzt, was gut für ihn ist und was nicht. Schwarzbauer ist angekommen. Bei sich und in der Weltspitze gleichermaßen. Bundestrainer Schaupp glaubt, Schwarzbauer könnte bald auch einen Weltcuplauf auf der olympischen Distanz im Cross Country gewinnen. Der letzte deutsche Weltcupsieger in dieser Disziplin war Mike Kluge. Das war im Jahr 1993.
Geboren am 26. Oktober 1996 fühlt sich der Bike-Profi vor allem dort zu Hause, wo er aufgewachsen ist: am Fuße der schwäbischen Alb. Er wohnt im Haus seiner Eltern in Nürtingen. Als Junior gewann Schwarzbauer Silber bei der EM, Bronze bei der WM. Seine größten Erfolge in der Elite-Klasse: Deutscher Meister Marathon und Short-Track; drei Weltcupsiege im Short-Track, erstmals in Nove Mesto 2022.