Flipchips am MTB“Der Kunde ist überfordert”

Laurin Lehner

 · 13.11.2023

“Ein Flipchip an der Dämpferaufnahme, um den Federweg linearer oder progressiver anzusteuern, macht durchaus Sinn”, sagt Intense-Konstrukteur Thomas Harter.
Foto: Hersteller
Geometrie-Verstellung per Flipchip liegt im Trend. Oft gleich an drei Stellen am MTB. So soll der Kunde das Fahrrad auf unterschiedliches Terrain und persönliche Vorlieben anpassen können. Eine klasse Sache, oder? Thomas Harter von Intense Bikes sieht das zum Beispiel anders. Wir haben uns umgehört bei den Herstellern.
Thomas Harter: “Man kann damit mehr falsch als richtig machen.”Foto: Janik Gensheimer / HerstellerThomas Harter: “Man kann damit mehr falsch als richtig machen.”

FREERIDE: Thomas, du konstruierst Bikes für Intense und bist ein Flipchip-Gegner.

Thomas Harter: Nein, ich bin nicht grundsätzlich gegen Verstellungen am Rad. Es kommt darauf an, wer die Einstellungen bekommt. Für Rennteams machen Flipchips am Steuersatz, an der Kettenstrebe oder am Hinterbau durchaus Sinn, für den Hobbyfahrer da draußen eher weniger. Das ist zusätzliche Komplexität, die nicht jeder braucht.

Warum nicht? Auch sie wollen ihr Rad dem Gelände oder ihren Vorlieben anpassen.

Bei den Rennfahrern geht es um Millisekunden. Da kann man mit solchen Tricks das Optimum aus dem Bike herausholen. Bei den Hobbyfahrern geht es nicht um Sekunden. Man muss wissen, dass sich die Hersteller große Mühe geben, ein optimales Bike für die Bedürfnisse des Hobby-Bikers zu bauen. Mit zu vielen Einstellmöglichkeiten überfordere ich den Kunden. Kurz gesagt: Man kann damit mehr falsch als richtig machen. Ich sehe so viele Leute da draußen, bei denen es erst einmal Sinn machen würde, die Lenker-Vorbau-Kombination anzupassen. Oder das Fahrwerk richtig einzustellen.

Meistgelesene Artikel

1

2

3

“Ein Flipchip an der Dämpferaufnahme, um den Federweg linearer oder progressiver anzusteuern, macht durchaus Sinn”, sagt Thomas Harter.Foto: Hersteller“Ein Flipchip an der Dämpferaufnahme, um den Federweg linearer oder progressiver anzusteuern, macht durchaus Sinn”, sagt Thomas Harter.

Ich hab eher den Eindruck, die Race-verliebten Konstrukteure bauen die Bikes für ihre Racer. Beispiele gäbe es etliche.

Ich sehe das anders. Das mag bei vielen Herstellern so sein. Wir bei Intense machen das anders.

Du baust den Downhiller also nicht für Aaron Gwin und Dakotah Norton, sondern für den Hobby-Downhiller?

Fast. Wir haben ein Rennmodell für das Downhill-Team. Dieses Rad hat gleich drei Geometrieverstellungen. Also am Steuerkopf, am Hinterbau und an der Kettenstrebe. Das Serienrad hat diese Features nicht, sondern nur eine Verstellung, nämlich an der Dämpferaufnahme, um den Federweg linearer oder progressiver anzusteuern. Das macht auch für den Hobby-Downhiller Sinn. So kann er sein Bike für die Downhill-Strecke oder für den Park einstellen. Für mich die einzig sinnvolle Geometrieverstellung bei Serienbikes.

Viele Hobby-Downhiller wollen genau das Produkt, das die Rennfahrer fahren. Viele behaupten auch, dass eine Federgabel mit Low- und Highspeed-Zugstufe nur etwas für Rennfahrer ist.

Das stimmt. In anderen Sportarten ist es ähnlich. Die Leute wollen den Weltcup-Ski von Bode Miller, auch wenn er ihnen nur Nachteile bringt. Oder beim Rennrad. Die Leute wollen das Modell fahren, das bei der Tour de France an den Start geht, auch wenn sie davon Rückenschmerzen bekommen.

Intense M1: Kommt als Worldcup-Variante mit Flipchips an drei Stellen am Bike und als Serienbike mit nur einem Flipchip.Foto: Intense BikesIntense M1: Kommt als Worldcup-Variante mit Flipchips an drei Stellen am Bike und als Serienbike mit nur einem Flipchip.
Aaron Gwin auf seinem Intense M1: "Bei den Rennfahrern geht es um Millisekunden. Da kann man mit solchen Tricks das Optimum aus dem Bike herausholen", sagt Thomas Harter.Foto: Red Bull Content PoolAaron Gwin auf seinem Intense M1: "Bei den Rennfahrern geht es um Millisekunden. Da kann man mit solchen Tricks das Optimum aus dem Bike herausholen", sagt Thomas Harter.

Ist die Marketingabteilung der Hersteller schuld?

Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin kein Marketingmensch, ich weiß nur, dass die Ansprüche an ein Produkt unterschiedlich sind. Die schnellsten Downhiller der Welt brauchen ein anderes Bike als wir Hobby-Racer. In der Bike-Branche ist es oft so: Wenn einer etwas macht, meinen alle, sie müssten nachziehen. Und klar, je mehr Features ein Bike hat, desto mehr kann man darüber schreiben. Der Kunde denkt: Da bekomme ich mehr fürs Geld. Das leuchtet mir ein. Aber in der Praxis eben nicht.

Zudem freuen sich viele über einen breiten Einsatzbereich.

Genau, es ist die Suche nach der Eierlegenden Wollmilchsau.

Dennoch: Haben ist doch besser als brauchen. Wer nix verstellen will, muss das ja auch nicht.

Stimmt, aber was viele nicht wissen: Die Haltbarkeit leidet. Je mehr bewegliche Teile, desto mehr Geräuschpotenzial hat ein Fahrrad. Hinzu kommen Fertigungstoleranzen bei der Herstellung. Vor allem bei Carbonrahmen ist das ein Problem - hier muss bei der Herstellung penibel darauf geachtet werden. Kurzum: Der Service-Aspekt nimmt zu.

Steuersatzschalen, um den Lenkwinkel abzuflachen oder anzusteilen, gibt es schon lange. Aktuell bieten immer mehr Hersteller dieses Feature an. Z.B. das Mondraker Summum.Foto: HerstellerSteuersatzschalen, um den Lenkwinkel abzuflachen oder anzusteilen, gibt es schon lange. Aktuell bieten immer mehr Hersteller dieses Feature an. Z.B. das Mondraker Summum.

Ein spannender Aspekt – der mir so nicht bewusst war.

Ein spannender Aspekt - der mir so nicht bewusst war. Klar, ihr Testredakteure fahrt in der Regel nagelneue Bikes und das nur wenige Monate. Die Profi-Racer auch. Aber der Endkunde will lange Spaß mit seinem Bike haben – möglichst knarzfrei.

Was ist dein Appell?

Ich glaube, dass das richtige Cockpit oft unterschätzt wird. Und auch die Reifenwahl. Hier kann man sein Bike ausreichend an den Untergrund anpassen. Wenn es ein Flipchip ist, dann am Hinterbau, um die Kinematik anzupassen. Das ist durchaus eine sinnvolle Einstellmöglichkeit.

Nicht alle Konstrukteure sehen das wie Thomas Harter. Weitere Stimmen

Ich will, das sich das Rad an mich anpasst und nicht umgekehrt. Der Flipchip erfüllt hier seinen Zweck. Denn unterschiedliches Terrain erfordert unterschiedliche Geometrien. Mehr Verschleiß durch Flipchips ist mir nicht bekannt. Geräuschentwicklung auch nicht, zumindest wenn man es technisch gut löst. – Peter Denk, Kinematik-Koryphäe, Specialized
Peter Denk: “...unterschiedliches Terrain erfordert unterschiedliche Geometrien.”Foto: Laurin LehnerPeter Denk: “...unterschiedliches Terrain erfordert unterschiedliche Geometrien.”
Flipchips machen für mich bis auf Ausnahmen keinen Sinn. Mein Motto: Lieber gleich richtig bauen als mit Flipchips experimentieren. Denn neben dem Mehrgewicht lässt sich eine Geräuschentwicklung nie ganz ausschließen. Da setzen wir lieber gleich auf austauschbare Umlenkhebel, die dann auch den Charakter des Bikes entscheidend verändern.– Jochen Forstmann, Konstrukteur Last Bikes
Jochen Forstmann: „Flipchips machen für mich bis auf Ausnahmen keinen Sinn.”Foto: Paul Masukowitz / Last BikesJochen Forstmann: „Flipchips machen für mich bis auf Ausnahmen keinen Sinn.”
Geometrieverstellungen machen Bikes universeller. Es gibt etliche Trails mit unterschiedlichem Terrain: eng, verblockt oder schnell und grob etc. Hier kann der Kunde reagieren und das Bike auf seinen Einsatzbereich einstellen. Damit der Kunde weiß, was er für welche Anforderung einstellen sollte, stehen bei Fachhandelsmarken wie Focus Händler mit Rat und Tat zur Seite. Das Argument des höheren Verschleißes ist berechtigt, aber es lässt sich konstruktiv lösen z. B. mit Kunststoff-Steuersatzschalen. – Fabian Scholz, Konstrukteur
Fabian Scholz: “Das Argument des höheren Verschleißes ist berechtigt, aber es lässt sich konstruktiv lösen”Foto: Manuel SulzerFabian Scholz: “Das Argument des höheren Verschleißes ist berechtigt, aber es lässt sich konstruktiv lösen”

Meistgelesen in der Rubrik Werkstatt