Die Geschichte von Thomas und seinem Nieten-Mountainbike ist unglaublich. Wo sie genau ihren Anfang nahm, lässt sich nicht exakt sagen. In seiner Zeit als „Flugplatzkind“, wie Thomas die Jahre nennt, in denen er als Dreikäsehoch inmitten der lokalen Kleinfliegerszene aufwuchs? Da schlachtete er als gerade mal Fünfjähriger einen alten Schleppwagen für Segelflieger aus. Oder war der Urknall das blaue Motorflugzeug, das Thomas nach dem Ingenieursstudium in drei Jahren Bauzeit selbst erschuf, um damit unter anderem nach Helgoland zu fliegen? Definitiv aber nahm das Tuning-MTB-Projekt an jenem Morgen 2019 seinen Lauf, als er nach 25-jähriger Fahrradabstinenz mit seinem alten, angerosteten Trekkingbike Richtung Arbeit strampelte.
Thomas ist Optimalist. So werden in der Psychologie Menschen genannt, die sich auf fast schon spirituelle Weise in eine Sache stürzen. Ganz oder gar nicht. Und wenn, dann als 360-Grad-Erlebnis. So hatte er sein Flugzeug geschaffen. Und so wollte er nun das perfekte Custom-Mountainbike kreieren. Noch während er vor sich hin strampelte, fügte sich in seinem Kopf das Traum-Bike Puzzlestück für Puzzlestück zusammen.
„Daheim habe ich alles auf ein Blatt Papier gemalt, ein bisschen rumgerechnet und dann direkt losgelegt“, erinnert sich Thomas, der sein Geld als Ingenieur in der Autoindustrie verdient.
Die Frage ist nicht: Wie leicht baue ich? Sondern: Wie baue ich leicht. - Thomas Lukasczyk, Material-Experte und Custom-Rahmenbauer
Wer Thomas zu seinem Custom-Mountainbike befragt, wird sofort und ohne Vorgeplänkel in die Welt der Physik hineingesogen wie Luft in eine Düsenjet-Turbine. Begriffe wie Steifigkeitsspannung, thermischer Verzug, Streckgrenze, Bruchdehnung und Ermüdungsresistenz wirbeln ihm nur so über die Lippen. Wer nicht trittsicher ist in höherer Physik, ist gleich raus. Was aber selbst Physik-Doofis klar wird: Das Bike wurde nicht aus Gründen des Auffallenwollens so extravagant konzipiert, sondern aus technischer Raffinesse.
„Carbon oder Faserverbund finde ich nicht ideal für den Fahrradbau“, begründet Thomas. Klassisches Alu, spannt Thomas schließlich den Bogen zu seiner Speziallösung, komme für ihn aber auch nicht infrage. Zum Schweißen sei man auf Legierungen angewiesen, die nicht die besten Festigkeitseigenschaften hätten. Die perfekten Legierungen wiederum würden sich nicht zum Schweißen eignen. Die Lösung bestand darin, die Verbindungen zu nieten.
Im Prinzip ist das alles Alu-Folie. - Thomas Lukasczyk
Thomas bestellte in den USA hauchdünne, hochfeste Bleche aus 2024-T3-Flugzeugaluminium. Und stand sogleich vor dem ersten Problem. Das Material war verhältnismäßig spröde. Wie würde es gelingen, sie in die nötige Profilform zu biegen, ohne Risse oder Strukturschäden zu riskieren? Mit Hilfe einer lokalen Schlosserei und deren CNC-Kantbank gelang es schließlich. Allerdings erst nach mehreren Rückschlägen.
Die Wochen darauf verbrachte Thomas bis spätnachts im Keller. Bleche schneiden. Feilen. Anpassen. Nietlöcher setzen. Schließlich die finale, feierliche Zeremonie: das Zusammenfügen der Einzelsegmente mit Luftfahrtnieten. Eine meditative, aber anspruchsvolle Prozedur.
„Mein Zellenbau-Meister hat mal gesagt: Nach 1000 Nieten weißt Du, wie es geht. Nach 10.000 Nieten kannst Du es“, lacht Thomas.
Tage später war das extravagante Custom-Mountainbike komplett aufgebaut. Der Wert, den die Waage anzeigte, stimmte Thomas zufrieden: 10,5 Kilo. Viel wichtiger aber: Das Bike erwies sich als äußerst agil und kilometerhungrig. Thomas fuhr immer öfter. Er wurde fitter. Er presste sich 20.000 Kilometer und 500.000 Höhenmeter in die Beine. Er spürte: Da geht noch was. Er beschloss, eine zweite Version des genieteten Tuning-Bikes zu bauen. Noch detailverliebter. Noch radikaler. Noch leichter. Projekt Maximum.
„Wenn dir nach einem 30 Minuten langen Strava-Uphill-Segment zwei Sekunden zur Bestzeit fehlen, dann kannst du ganz leicht ausrechnen, wie viele Gramm da zu viel unterwegs waren“, erzählt Thomas. Die Magie von Tempo und Laktat hatte ihn voll erfasst. 25 Jahre lang war er kein bisschen Rad gefahren. Jetzt kannte er sogar Strava.
Wieder bestellte er in den USA Bleche. Wieder schnitt und feilte und nietete er. Er zelebrierte es diesmal so sehr, dass er dabei sogar zum Zombie wurde.
Während er die Heftnieten setze, die an spitze Nägel erinnern, kam Thomas die Idee, das Filmplakat des 80er-Jahre-Splatter-Klassikers “Hellracer -Das Tor zur Hölle” nachzustellen. Auf dem ist Zombie Pinhead zu sehen, in dessen Schädel furchterregende Nägel stecken. Thomas rasierte sich die Haare, schminkte sich kaltweiß und hängte den provisorisch gehefteten Rahmen an den Schneeketten des Familienautos auf. Frau Ulrike, eine Fotografin, drückte auf den Auslöser. “Schnellracer”, titelte Thomas, als er das Bild in einem Forum zeigte.
Als Zielgewicht für die neue Version des genieteten MTB-Rahmens hatte sich Thomas 1400 Gramm vorgenommen. Ein guter Wert für einen Hardtail-Rahmen, aber weit entfernt von den Traumwerten der Carbon-Modelle großer Premium-Hersteller, die ein halbes Kilo weniger auf die Waage bringen. Das Bike sollte fahrfertig unter 8,0 Kilo liegen. Thomas war klar, dass es auf die Ausstattung ankommen würde. Wochenlang durchforstete er das Internet nach potentiellen Teilen, gab die Parts in Excel-Tabellen ein, rechnete, tüftelte und näherte sich langsam dem optimalen Verhältnis aus Gewicht und Stabilität an.
Als der Rahmen Mitte 2022 fertig war, stand das nächste Shooting an. Wieder eine Hommage an einen Filmklassiker. Diesmal wollte Thomas mit dem Rahmen King Arthur huldigen. Mit im Internet gekauftem Kettenhemd und Burger King-Krone stellte er an einem Stein der berühmten Darmstädter Kultstätte Menhiranlage die Excalibur-Szene nach. Wie King Arthur das heiligte Schwert so zog Kostümkönig Thomas den Rahmen aus dem Stein. Seine Frau, die auch bei diesem Motiv auf den Auslöser drückte, montierte später noch einen dramatischen Blitz ins Bild.
“Das Kettenhemd war zehnmal so schwer wie der Rahmen”, lacht Thomas.
Der Rahmen war bereit für den Aufbau. Doch noch raubte Thomas die Frage nach den Laufrädern Zeit und Nerven. Die Biester schienen ihn regelrecht herauszufordern. Kein Wunder. Sie sollten nicht mehr als 1000 Gramm wiegen. Aber mit den unzerstörbaren Naben von Chris King aufgebaut sein. Thomas gab jede nur erdenkliche Kombination aus King-Naben, Felgen, Speichen und Nippel in eine Excel-Tabelle, doch die Summe, die das Zahlenwerk ausspuckte, lag jedes Mal drüber.
Es war zum Verzweifeln. Er hatte es geschafft, ein Flugzeug zu bauen und damit nach Helgoland zu fliegen. Und nun zeigten ihm ausgerechnet Mountainbike-Laufräder die Grenzen des Machbaren auf. Dabei hatte er sich schon nicht für 29-Zoll-Felgen, sondern für 27,5er entschieden. Weichgekocht von der endlosen Suche nach noch leichteren Nippeln und Felgen sowie der ständigen Hin- und Herrechnerei entschied sich Thomas schließlich für einen Kompromiss. Die Naben der italienischen Manufaktur Carbon Ti waren vielleicht nicht ganz so ikonisch wie die des US-amerikanischen Teile-Gotts Chris King. Doch sie waren leicht. Und der aggressiv-heisere Sound des Freilaufs hatte eine ähnlich stimulierende Wirkung auf die Glückshormone.
Im Sommer 2022 war das Custom-Mountainbike schließlich fertig. Hibbelig vor Aufregung starrte Thomas auf das Display der Digitalwaage. 7980 Gramm! Ein Wahnsinnswert.
Thomas ist zufrieden. Doch in seinem Kopf geistert bereits eine dritte Version rum. Wenn er das Tretlager-Gehäuse sowie das Steuerrohr nicht aus Stahl, sondern aus Alu bauen würde, dann wäre zumindest noch ein kleine Gewichtsersparnis drin. Noch ist das nur ein zarter Gedanke. Doch wer Thomas kennt, der weiß, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht dabei bleiben wird.