Vegane Ernährung kann im Radsport Vorteile haben. Neben den ethischen und gesundheitlichen Aspekten schlummern im Vegetarismus auch Fitness-Benefits. Gleichzeitig sehen sich Veganer nach wie vor mit Vorurteilen konfrontiert: Unterversorgung, Nährstoffmangel, Leistungsabfall - stimmt das wirklich? Radsport kann hochintensiv sein und fordert spätestens ab einem bestimmten Niveau die bewusste Auseinandersetzung mit der Nahrungsaufnahme. Was fehlt Veganern? Wie können sie Herausforderungen bei körperlicher Belastung gegensteuern? Wir haben dazu einen Experten befragt. Jan Rein ist studierter Ökotrophologe und Ernährungsökonom. Dazu lebte er selbst jahrelang vegan. Als Buchautor und Podcaster klärt Rein wissenschaftlich fundiert über Themen rund um Gesundheit und Ernährung auf. In seiner Funktion als Nutrition-Spezialist beim Nahrungsmittelergänzungs-Hersteller AG1 (Athletic Greens) ist er Experte für die Nährstoff-Bedürfnisse von Sportlern.
BIKE: Welche Vorteile hat vegane Ernährung ganz generell?
JAN REIN: Natürlich sind ethnische oder umweltrelevante Faktoren sehr wichtige Beweggründe für vegan lebende Menschen. In der veganen Ernährung spielen pflanzliche, unverarbeitete Lebensmittel, sprich Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und Saaten, eine zentrale Rolle. Wenn wir uns also auf die ernährungsphysiologischen Benefits konzentrieren, belegen die demografischen Daten aus Korrelationsstudien, dass vegan lebende Communities mehr Ballaststoffe aufnehmen. Wir wissen, dass diese besonders wichtig sind, um sogenannten Zivilisationskrankheiten, wie etwa Typ-Zwei-Diabetes, vorzubeugen. Aus Querschnittstudien geht hervor, dass der Body-Maß-Index (BMI) in veganen Populationen um Vergleich zu omnivoren niedriger ausfällt. Übersetzt heißt das, Menschen mit veganer Ernährung sind im Schnitt etwas leichter und diesen Daten zufolge seltener übergewichtig oder adipös – weitere wichtige Faktoren für Zivilisationskrankheiten.
Auch auf der Verhaltensebene kann vegane Ernährung wichtige Vorteile haben. Viele Menschen, die ihre Ernährung umstellen, erweitern damit ihren Horizont und entdecken plötzlich neue Lebensmittel für sich. Ich habe selbst jahrelang vegan gelebt und für mich hatten bis dahin zum Beispiel Kichererbsen nie eine Rolle im Speiseplan. Oft gilt das auch für Sojaprodukte. Damit erweitern Veganer die Vielfalt ihrer Ernährung. Das ist wiederum wichtig, um ein breites Spektrum an Mikronährstoffen abzudecken. Unabhängig vom Veganismus gibt es natürlich auch Hinweise darauf, dass bestimmte pflanzliche Lebensmittel, wie etwa Rote Beete, einen positiven körperlichen Effekt haben können. Inzwischen weiß jeder, dass pflanzliche Lebensmittel sinnvollerweise einen Mindestanteil an der Ernährung haben sollten.
Was können beim Verzicht auf tierische Lebensmittel positive Effekte auf die körperliche Leistungsfähigkeit sein?
Beim Umstieg auf vegane Ernährung gibt es oftmals eine “Honeymoon-Phase”. Als wäre man frisch verliebt, stehen die positiven Effekte erst einmal im Vordergrund. Viele haben das Gefühl, sich selbst mit veganer Ernährung etwas Gutes zu tun. Feststellen lässt sich eine psychologische Wirkung ähnlich dem Placebo-Effekt. Leider gibt es keine aussagekräftigen Studien dazu, aber in der Praxis beobachtet man oft einen initialen körperlichen Leistungssprung, der dann aber wieder abflacht.
Wer sich ausgewogen vegan ernährt, verfolgt quasi nebenbei eine antientzündliche Ernährung. In einer veganen Ernährung nimmt man nämlich relativ viele Antioxidantien auf. Wie der Name schon sagt, wirken diese entzündungshemmend. Beteiligt sind sie auch an der Regeneration. Eine verbesserte Regeneration kann einer der stärksten positiven Effekte des Veganismus auf die Leistung sein. Es gibt auch Menschen, die haben konstant niederschwellige Entzündungen im Körper, weil sie zum Beispiel keine Milchprodukte vertragen. Wer dann solche Trigger von heute auf morgen weglässt, kann seine Leistungsfähigkeit verbessern. Das hängt allerdings weniger mit dem Aufnehmen, als mit dem Weglassen bestimmter latent schädlicher Stoffe zusammen.
Kann vegane Ernährung auch körperliche Nachteile mit sich bringen, weil dem Körper etwas fehlt?
Ein Problem haben viele vielleicht gar nicht auf dem Schirm, nämlich die Unterversorgung mit Kalorien. Aus verschiedenen Gründen nimmt man über eine pflanzliche Ernährung netto weniger Kalorien auf. Das kann Sinn ergeben, wenn man abnehmen will und muss auch nicht zwingend ein Risiko darstellen. Wenn man aber Sport betreibt, ist die Kalorienzufuhr entscheidend, wie viel Energie überhaupt zur Verfügung steht. Wer nichts isst, kann nichts verbrennen. Wer seine Ernährung umstellen will, sollte also auch darauf achten, genug zu essen.
Dann gibt es auch einige kritische Mikronährstoffe, die unter anderem für Nerven- und Gehirnfunktionen entscheidend sind. Kalzium zum Beispiel ist wichtig für die Signale, welche der Körper an seine Muskulatur sendet, um Leistung zu bringen. Vitamin B12 ist ein weiterer Klassiker, beteiligt am Energiestoffwechsel und eine Unterversorgung kann Kettenreaktionen mit sich bringen. Eisenmangel lässt sich zum Teil umgehen, wenn man durch Vitamin C und bestimmte Säureverbindungen die Eisenaufnahme und -verfügbarkeit aus pflanzlichen Lebensmitteln verbessert. Auch Omega-3-Fettsäuren, Vitamin B2, Zink und Selen können typischerweise kritisch sein. Neben der Basis durch pflanzliche Ernährung kann auch über Nahrungsergänzungsmittel zusätzlich versorgt werden.
Ein klassischer Kritikpunkt an veganer Ernährung ist eine zu geringe Zufuhr von Proteinen. Die sind nicht nur für den Muskelaufbau, sondern auch für die muskuläre Regeneration, die Immunabwehr und vieles weitere wichtig. In der Praxis stellt das heutzutage aber kein echtes Problem mehr dar. Zu achten ist auf die Kombination verschiedener hochwertiger Proteinquellen, wie Reis und Bohnen. So gleicht man im Aminosäuren-Defizite einzelner veganer Proteinquellen durch die Kombination mit einer zweiten Proteinquelle aus.
Naturstoffe, wie Cholin, Kreatin, Carnitin oder Cholesterin kommen so gut wie gar nicht in pflanzlichen Lebensmitteln vor. In der Theorie kann der Körper sie aber selbst herstellen. In der Praxis braucht es für die körpereigene Synthese genügend B12, Folsäure und andere Mikronährstoffe. Auch genetische Faktoren bestimmen, wie effektiv der Körper diese Naturstoffe selbst herstellen kann. Wenn man seine Ernährung umstellen möchte, kann das völlig problemlos gehen. Ein Bewusstsein für kritische Nährstoffe gehört aber immer dazu.
Es gibt auch so etwas, wie einen umgekehrten Honeymoon-Effekt. Wenn du plötzlich 40-50 Gramm mehr Ballaststoffe zu dir nimmst, als noch eine Woche zuvor, dann wirst du dich vermutlich mit Verdauungsbeschwerden zu tun bekommen. Das trägt natürlich nicht unbedingt zur körperlichen Leistungsfähigkeit bei: Niemand will aufgebläht Radfahren. Da muss sich erst ein Gewöhnungseffekt einstellen.
In welchen Symptomen kann sich ein Mangel durch vegane Ernährung äußern?
Wer zu wenig Mikronährstoffe aufnimmt, kann Probleme mit der Ansteuerung der Muskulatur bekommen. Bei einer Unterversorgung mit Kalzium können zum Beispiel Krämpfe auftreten. Bei Menschen, die sich langjährig vegan ernähren kann man leider öfters so etwas, wie Antriebslosigkeit und Müdigkeit beobachten. Sie können sich auch sehr plötzlich und gepaart mit hormonellen Dysbalancen einstellen. Beispielsweise kann Kraftlosigkeit in Kombination mit einem verringerten Testosteronspiegel auftreten. Dann äußert sich das bei Sportlern etwa durch eine Stagnation im Training. Obwohl die Regeneration gut war und alles andere gleichgeblieben ist, kann es zum Beispiel sein, dass man plötzlich im Gym bei den Gewichten keine Fortschritte mehr macht.
Typische Mangelsymptome gibt es auch im Bereich Beauty. Spröde Nägel oder eingerissene Mundwinkel sind klassische Anzeichen für eine Unterversorgung mit B-Vitaminen. Blasse Haut ist ein Zeichen für zu wenig Eisen und Haarausfall für zu wenig Zink. Keines der Symptome muss auftreten, sie können aber ein Hinweis dafür sein, dass man genauer auf die persönliche Umsetzung der veganen Lebensweise schauen sollte. Angst sollte man deshalb nicht haben.
Wie können Sportler gegensteuern?
Veganismus ist ja eine restriktive Ernährungsweise, bei der man auf eine große Lebensmittelkategorie verzichtet. Deshalb sollte man unbedingt informiert an die Sache rangehen und nicht einfach nur tierische Lebensmittel weglassen, sich ansonsten aber gleich ernähren. Lieber die Palette an Lebensmitteln erweitern – das kann auch Spaß machen! Auf jeden Fall genug und abwechslungsreich essen. Um eine gute Protein-Versorgung sicherzustellen, verschiedene Quellen miteinander kombinieren.
Nährstoffe, welche nicht durch die Ernährung abgedeckt werden, sollte man sinnvoll supplementieren. Im Idealfall lässt man regelmäßig, etwa zweimal jährlich, sein Blut testen. Am besten nicht erst, wenn man bereits ein halbes Jahr vegan lebt, sondern bereits vor der Umstellung. Nur so kann man feststellen, welche Parameter wirklich auf die Ernährung zurückzuführen sind. Auch Menschen mit omnivorem Ernährungsstil können natürlich einen Vitamin B12 Mangel haben, ohne davon zu wissen. Bluttests würde ich Leistungssportlern ebenso, wie ambitionierten Hobby-Sportlern empfehlen.