Sissi Pärsch
· 04.11.2022
Die Trail-Kilometer kann man nicht mehr zählen, die Menschen, die einem begegnen, dafür an einer Hand. Die Gegend um Scuol im Engadin präsentiert sich als Sensationsgebiet für E-Mountainbiker – mit einem Bett auf der Tuoi-Hütte.
Sie sind schon recht fettleibig, das muss man sagen. Es schwabbelt ganz schön, wie sie über den Weg hoppeln. So wohlgenährt wie die Murmeltiere sind, scheint es ein guter Engadiner Bergsommer gewesen zu sein. Dabei ist der noch lange nicht vorbei. In zehn deutschen Bundesländern sind noch Ferien. Aber davon merkt man hier in den Bergen um Scuol nichts. Wir haben 20 Trail-Kilometer am Stück hinter uns, und getroffen haben wir mehr Murmeltiere als Menschen. Es ist der letzte Anstieg zur Tuoi-Hütte, und wir sind platt – massiv durchgerüttelt, tief beeindruckt und sehr, sehr hungrig. Das Kurbeln auf dem Forstweg tut zur Abwechslung richtig gut. Was für ein verrückter Bike-Tag!
Die Tuoi ist als Winterhütte bekannt. Doch so langsam finden auch E-Mountainbiker den Weg hier hinauf.
Einige Stunden zuvor: „Das ist der Killer für alle nicht motorisierten Biker“, sagt Dani kaum, dass wir aus der Bahn und auf den Sattel gestiegen sind. Der Stich zum Auftakt raubt uns vielleicht Akku, aber dafür haben wir bei der Killer-Landschaft jetzt kein Auge. Hier, von Motta Naluns auf 2150 Metern inmitten des Silvretta-Gebirges, blicken wir auf den Piz Champatsch direkt vor uns, auf die Dreitausender Piz Minschun und Piz Tasna, dann rechter Hand weit hinein ins Tal Richtung Reschenpass, und im Rücken ruht die Sesvenna-Gruppe mit dem Piz Pisoc und dem Val Plavna, unserem Ziel von morgen. Würde man wahllos nur einen dieser Berge herauspicken und nach Bayern versetzen, dann wäre er dort ein Superstar. Hier reiht sich ein Bolide entspannt an den anderen.
Kein Wunder, dass Dani Hiederer in Scuol festgehangen ist. Der gebürtige Würzburger lebt seit 30 Jahren in der Schweiz. Als Spitzenkoch und als Snowboarder, als Jugendherbergsvater und als Pate der EMTB-Grand Tour – dazu später mehr. Wir hören bald auf zu ratschen, denn es wird eng. Nach dem knackigen Anstieg auf dem Forstweg geht es auf Pfaden weiter bergauf. Die Wege werden nicht breiter als Kuhfladen – Scuol serviert uns ein echtes Trail-Fest. Rund 20 Pfadkilometer werden wir bis zum Ende an der Chamonna Tuoi sammeln. Es geht bergauf und bergab durch die hochalpin-karge Landschaft, auf Trails, die mal bockig, mal flowig sind. Wir zirkeln zu kristallklaren Bächen hinab, wir schießen über grüne Alpwiesen, und wir hieven zum Finale über Steinbrocken und lassen uns dabei von den Murmeltieren auspfeifen.
Schon im ersten Drittel, auf dem Hochplateau von Clünas, sind wir verwundert über die Wanderwege, die auf Biker ausgerichtet scheinen. Sie wurden tatsächlich teilweise neu angelegt, erklärt Dani, mit den Bikern im Kopf. Das erklärt die Anlieger und die fehlenden Stufen, die man sonst von Gebirgssteigen kennt. So bleibt es zwar anspruchsvoll, doch gut fahrbar und wahnsinnig abwechslungsreich. So wie der Zickzack hinab ins Val Tasna oder die Speed-Fahrt auf der anderen Talseite.
Mit all den Eindrücken (und dem zweiten Akku) pedalieren wir den Schlussanstieg zur Tuoi-Hütte hinauf. Unscheinbar, fast versteckt, liegt sie am Fuße des 3312 Meter hohen Piz Buins. Es ist eine verkehrte Welt hier: Die Chamonna des Schweizer Alpen Clubs SAC ist nicht als Sommer- sondern als Winterhütte bekannt – warum auch immer. „Ein Drittel der Gäste“, erklärt Hüttenwirt Christian (zum Interview mit Christian Wittwer) die geringe Bettenauslastung „habe ich im Sommer, zwei Drittel in den Wintermonaten.“ Es kämen immer mehr E-Mountainbiker, sagt er weiter, aber nur wenige, um zu übernachten. Die Ruhe im Sommer sieht er entspannt. „Ich bin zufrieden,“ meint er lächelnd. Förster war er erst, hat dann aber im Alter von 30 gemeint: „Das mache ich jetzt nicht noch 35 Jahre“, und wurde Bergführer. Er war unterwegs von Norwegen bis Neuseeland, bevor er „eher spontan“ Hüttenwirt wurde. Als Christian vor acht Jahren hörte, die Tuoi stehe zur Verfügung, bewarb er sich und wurde überraschend genommen. „Wahrscheinlich aus Mangel an Alternativen.“ Ein wenig erschrocken sei er schon, als die Sektion sich für ihn entschied. Ursprünglich kommt der (wie 40 aussehende) 58-Jährige aus dem Berner Oberland. Was hat ihn nach Graubünden gebracht? Eine Frau wahrscheinlich? „Nein, die Hirsche.“ Christian ist leidenschaftlicher Jäger, und die Hirsche, die findet man in Graubünden. „Frauen auch, aber das kam erst später.“
Abends heizt der Hüttenwirt den Specksteinofen ein und serviert Polenta plus ein, zwei Glaserl Wein. Neben uns sitzt eine kleine Hochtourengruppe des Schweizer Alpenvereins über Karten. Drei Weitwanderer aus Deutschland wanken bald müde ins Bett. Nur ein älteres Schweizer Ehepaar zeigt sich redselig und plauscht mit uns über den Piz Buin, der hinter dem Haus seinen markanten Stachel in den Himmel hebt. „Der einzige Berg, der nach einer Sonnencreme benannt wurde“, meint der Gatte. Ganz hoch wie früher werden sie es wohl nicht schaffen, meint die Gattin. Aber auf den Grat möchten sie hinauf, „um auf Österreich hinabzuschauen.“
Am nächsten Morgen schießen wir ohne Murmeltierquerungen am kristallklaren Bach entlang bis nach Guarda, einem sensationell schönen Engadiner Dorf. Über die Jahre hat der Ex-Würzburger Dani wohl jeden Weg hier in der Gegend auf seine Fahrtauglichkeit getestet. So geht es am Hang entlang zurück nach Scuol, über spitzkehrige Pfade hinab zum Inn und auf der anderen Talseite auf Pfaden bergauf. Dazu bindet Dani Geschichten über die Unterengadiner Geschichte ein, die man nur schwer in Reiseführern finden würde. „Er hat mit Kuhfladen Millionen verdient“, erklärt er uns in Tarasp mit Blick auf das imposante Schloss. Dani spricht von dessen Besitzer, dem Künstler Not Vital, der aus dem Nachbardorf Sent stammt, früh nach Paris und Rom ging, mit Warhol und Basquiat durch die Straßen New Yorks zog und dann mit Schneebällen aus Glas und Bronzeabgüssen von Kuhfladen erfolgreich wurde. Und mit einigem mehr. Not Vital ist einer der renommiertesten zeitgenössischen Schweizer Künstler.
„Vor ein paar Jahren hat er dann sein Pferd geheiratet“, meint Dani weiter. „Einen Schimmel. Es war die verrückteste Hochzeit, auf der ich je war und je sein werde.“
Das mit den Schlössern liegt auch Dani im Blut. Seine Oma war in der Oberpfalz Schlossköchin. Dani selbst war bei Witzigmann im Tantris und bei den besten Köchen der Schweiz. Er tauchte in die Snowboard-Szene ein, hatte seine eigene Bekleidungsmarke, baute Restaurants in Zürich auf und führt nun seit fast zehn Jahren die „Jugie“ in Scuol, die nicht viel mit der generellen Vorstellung von Jugendherbergen gemein hat. Vor allem aber hat er mit seinem Bike-Kollegen Werni Dirren die EMTB Grand Tour ins Leben gerufen: Sie guiden Gäste durch die wilde Engadiner Bergwelt und darüber hinaus. Bis zu 80 Kilometer lang sind die Etappen, und man mag sich gar nicht vorstellen, wie hoch der Trail-Anteil ist. Dann steht im Nirgendwo urplötzlich ein umgebauter Mowag, aus dem heraus Dani ein mehrgängiges Menü serviert – und einen frischen Akku gibt es als Sahnehäubchen.
Im Val Plavna, einem einsamen, eindrücklichen Tal, stehen sie auch gerne. Hier auf der weiten, gerölligen Hochebene, auf der die Kiefern duften und man die Füße in den glasklaren Bergbach halten kann. Wir begegnen auf der Strecke exakt null Menschen. Jackie, der Wirt der Alp Plavna, ist die Nummer 1. Wir essen ihm seine letzten Brotreste weg und bekommen als Belohnung einen 12-jährigen (!) Bergkäse kredenzt. Die drei Biker, die schließlich noch eintrudeln, müssen mit Getränken vorliebnehmen. Dani hat für uns noch ein Bier mitgenommen. Von dem Trail-Ale fließt ein Schweizer Franken pro Flasche an die Trailuniun, die an einem talübergreifenden Trail-Netz im Unterengadin, Val Müstair und Samnaun arbeiten. Bei der Anzahl von Trails gilt es einiges zu trinken. Auf das Unterengadin!
Die Trailuniun arbeitet an einem talübergreifenden Pfadnetz ins Val Müstair und nach Samnaun. Wer dabei helfen möchte, trinkt ein Trail-Ale.
Von Scuol überbrückt man die ersten 900 Höhenmeter am besten mit der Bahn zur Motta Naluns. Von der Hochebene startet man anschließend steil auf Forstwegen bergan mit Blick Richtung Piz Champatsch. Bald jedoch zweigt man Richtung Westen auf einen Trail am Fuß des Piz Clünas ab. Auf schmalen Pfaden (Weg Nr. 442) geht es nun konstant weiter: flowig hinab zur Alp Laret (Kaiserschmarrn-Tipp!), dann zackig und rockig hinab ins Val Tasna. Auf der anderen Bachseite schießt man rasant auf Wald- und Wiesen-Trails Richtung Ardez. Über den Weg Nr. 446 (im letzten Abschnitt Schiebepassagen) weiter am Hang entlang und schließlich auf dem Forstweg bis zur Chamonna Tuoi.
Tour-Daten: Distanz 28,8 km, bergauf 1262 hm, bergab 1157 tm, Fahrzeit ca. 3,5 h
Fahrtechnik: 20 % leicht, 60 % mittel, 20 % schwer
Von der Hütte geht es am nächsten Morgen zunächst über die Forststraße und weiter über einen Trail bis nach Guarda, einem der schönsten Dörfer des Engadins und weiter am Berghang entlang nach Scuol. Von hier wickeln sich Spitzkehren zum Inn hinunter, und auf der anderen Talseite geht’s auf Waldwegen wieder bergauf, die einen bis kurz vor das Schloss Tarasp bringen. Weiter über Forstwege und Pfade hinein in das wilde Val Plavna. Über das weite, schottrige Hochplateau mit Kiefernwald und glasklarem Gebirgsbach erreicht man die Alp Plavna auf 2076 Metern Höhe (Verpflegung gibt es – je nach Anwesenheit des Alplers).
Tour-Daten: Distanz 52,7 km, bergauf 1353 hm, bergab 2330 tm, Fahrzeit ca. 4 h
Fahrtechnik: 50 % leicht, 35 % mittel, 15 % schwer
Scuol liegt im Unterengadin am namensgebenden, noch jungen Inn – auf rätoromanisch heißt der Fluss En. Rätoromanisch ist auch die Sprache, die das Tal prägt. Das Klima im Dreiländereck (Österreich-Italien- Schweiz) ist überraschend mild und niederschlagsarm. Das Routennetz aus naturbelassenen Wegen ist dicht und schier endlos, die Anstiege allerdings steil. Es empfiehlt sich, mit Zweit-Akku zu fahren oder sehr, sehr gut zu haushalten – speziell die alpinen Bergauf-Trails sind Stromfresser. Die Wege werden von der Trailuniun gepflegt, die ein durchgängiges Wegenetz im Unterengadin, Samnaun und Val Müstair errichten.
5:26 Stunden dauert die schnellste Zugverbindung z. B. von München aus nach Scuol-Tarasp. Inklusive drei bis vier Mal umsteigen in St. Margrethen, Landquart und Klosters Platz. Preis ab 41,90 Euro einfach. Infos bei The Train Line.
Die Anreise mit dem Auto über Garmisch-Partenkirchen, Ehrwald, Imst und Landeck dauert dagegen nur 3:15 Std, eine Schweizer Autobahn-Vignette ist auf dieser Strecke nicht nötig.
Drei oder vier Tage lang die Zivilisation hinter sich lassen und durch die hochalpine Landschaft des Engadins kurven: Nach getaner Arbeit mit Schaufel und Spitzhacke bieten die Trail-Pfleger der Trailuniun auch geführte Touren in den besten Revieren der Schweiz an. Termine und Preise gibt’s bei Supertrail Rides.
EMTB Grand Tour: Mehrtagestour zu den Highlights des Engadins mit Mehrgangmenü zum Mittagessen an ausgesuchten Naturplätzen.
Die Bergbahn Motta Naluns und der Sessellift in Ftan transportieren auch Bikes von 8:30 Uhr bis 17:00. Freitags auch bis 22:30 Uhr (17.6.–12.8.). Tarif: einfache Fahrt Motta Naluns 16 Euro, Saison bis 30.10.22, Infos bei Bergbahnen Scuol.
Nach der Anreise übernachtet man mitten im Ort am günstigsten in Danis Jugendherberge, die eher einem Hotel gleicht (auch EZ und DZ mit Bad). Außerdem kann man hier E-MTBs von Santa Cruz ausleihen. Tel. 0041/81/8623131
Hüttenübernachtung: Chamonna Tuoi, Pächter: Christian Wittwer, 74 Schlafplätze in 7 Lagern, Saison von Mitte Juli bis Ende Oktober. Tel. 0041/79/6823223.
Bikeria von Gian Duri Crastan, Alptrails in der Via dal’Ospidal 199a hat eine große Auswahl an Miet-Bikes und eine gute Werkstatt. Bikeshop Scuol mit Vermietung an der Talstation der Bergbahnen.
Das Bogn Engiadina Mineralbad Scuol. In der schönen Bäderlandschaft taucht man in reines Mineralwasser ein und blickt dabei auf die umliegenden Dreitausender. Geöffnet täglich bis 22 Uhr.
Die Gästeinformation Scuol befindet sich am östlichen Ende der Hauptstraße Stradun, Nr. 403a, Tel. 0041/81/8618800.
Christian ist Wirt der Tuio-Hütte im Schweizer Engadin. Die Hütte des Schweizer Alpenclub (SAC) liegt auf 2250 m im Tuoital. Darüber thront der Piz Buin (3312 m) - Namensgeber der altbekannten Sonnencreme.
BIKE: Was zeichnet die Tuoi-Hütte aus, Christian?
Christian Wittwer: Wir sind sicher etwas Besonderes, weil wir eher als Winterhütte bekannt sind und im Sommer nicht so viel los ist. Unsere Stärke ist also, dass wir nicht besonders ausgelastet sind und es bei uns sehr ruhig und entspannt zugeht.
Welche Gäste findet man bei Dir?
Wir sind zwar recht weit oben und abgelegen, aber keine hochalpine Hütte. So kommen nicht so sehr die Ehrgeizigen, sondern eher die Genießer. Inzwischen auch immer mehr E-Mountainbiker, aber wir sind wohl noch ein Geheimtipp. Ansonsten Schweizer, Deutsche und Österreicher.
Unterscheiden sich denn die Nationen?
Total. Die Schweizer sind schon eher stiller. In der Früh starten sie als erste, entschlossen und diszipliniert, und als Tagesgäste kommen sie pünktlich um 12 Uhr. Die Deutschen kommen eher um 14 Uhr und fragen, ob es noch was zu essen gibt. Morgens haben sie auch keine Eile. Die Deutschen sind generell gemütlich und kommunikativer, während die Österreicher die trinkfreudigsten Gäste sind. Für uns sind diese Unterschiede perfekt so, weil wir dadurch keine Stoßzeiten haben und es sich immer gut verteilt.