Mussolini würde sich im Grabe umdrehen. Da gibt er sich alle Mühe, entlang der italienischen Grenzverläufe heimlich ein monumentales Abwehrsystem zu errichten, einen Schutzwall aus Kasernen, Bunkern und Panzersperren, verknüpft durch ein dichtes Netz an Militärstraßen. Da enteignet er aus Furcht vor seinem faschistischen Schein-Verbündeten im Norden Tausende von Menschen und steckt Tonnen an Geld in den Verteidigungsapparat – und dann rollen heute statt Panzern Bikes auf den Straßen, und die Kasernen werden zu Begegnungsstätten. Er würde sich im Grabe umdrehen! Aber das soll er mal. Der darf sich drehen und wenden, wie er will.
Über uns kreist derweil ein Adler. Oder womöglich, meint Arno, ein Aasgeier, der ein Auge auf all die Biker geworfen hat, die ohne E unterwegs sind. Obwohl die Steigung angenehm ist (militärisch korrekt im Zickzack mit maximal 12 Prozent) sind es von Toblach doch gut 1400 Höhenmeter. Die Tornanti ziehen sich bis zu unserem Übernachtungsziel, der Marchhütte, direkt unter dem Gipfelkreuz des 2545 Meter hohen Marchkinkele (oder auch Markinkele).
Bei den Bikern fließt viel Schweiß. Auf der Stirn des Herrn Arno Feichter glitzert kein einziger Tropfen. Er kurbelt die Strecke durch das Silvestertal im Sommer mindestens einmal wöchentlich ohne Motorunterstützung hoch. Der ehemalige Snowboard-Profi sitzt seit Jahrzehnten auf dem Bike und ist gemeinsam mit Roland Stauder einer der MTB-Pioniere im Hochpustertal.
Arno hat vor über 15 Jahren die BikeAcademy gegründet, ist Rocky Mountain Ambassador und MTB-Ausbilder in Südtirol. Roland wiederum ist ehemaliger UCI-Weltcupfahrer und der Erfinder der Stoneman-Routen. Die legendären (wie zehrenden) Rundtouren, die man in ein, zwei oder drei Tagen bewältigen kann, findet man heute in vier weiteren Ländern. Mit dem Stoneman Dolomiti nahm alles seinen Anfang. Auch unsere Runde führt größtenteils entlang der Ur-Steinmanndl-Strecke.
Dass sich seit dem Sommer 2021 mit der Marchhütte eine Übernachtungsmöglichkeit am Marchkinkele befindet, bereichert auch den Stoneman. Generell, meint Arno, haben die Leute im Tal viel Freude daran, dass das Gebäude wieder zum Leben erweckt wurde. „Oder erstmals überhaupt einen Nutzen hat. Mussolini hat den Alpenwall mit dieser gigantischen Militärinfrastruktur gebaut, aber er wurde nie genutzt – es waren über Jahrzehnte einfach nur funktionslose Bauten. Egal in welche Richtung du blickst, siehst du alte Anlagen, die meisten davon verfallen. Aber alles hat sein Gutes: Wir haben heute die Straßen zum Biken und die Marchhütte zum Einkehren und Übernachten.“
Auf der für Kriegszwecke gebauten Straße eröffnet sich ein grandioses Naturschauspiel: Gegenüber stehen die Sextener Dolomiten Spalier – ein fast unwirklicher Anblick aus steil abstürzenden, kantigen Felsgestalten. Die wuchtigen Wände des Haunolds, zwei der ikonischen Drei Zinnen und weiter im Westen die mächtigen Gipfel des Naturparks Fanes-Sennes-Prags.
Wir hingegen bewegen uns in den Villgrater Bergen, dem grünen, weichen Gegenpol zu den rauen, grauen Zacken gegenüber. Nach vielen Kehren und schnellem Höhengewinn, spitzelt im Süden der Helm hervor. Der Hausberg von Sexten, der wie der Marchkinkele auf der Grenze zu Osttirol liegt. Entlang des Helmkamms werden wir morgen fahren, hinüber zu den Trails von Sexten. Jetzt aber taucht erstmals die Marchhütte vor uns auf. Zwei längliche Gebäude und ein kleiner Mittelbau ducken sich in den Gipfelaufbau des Marchkinkele. So frisch weiß getüncht sind sie nicht mehr ganz so unauffällig, sondern strahlen eine Anziehungskraft aus – zumindest auf uns hungrige Biker.
Verantwortlich für die Wiedergeburt der Ruine ist das Brüderpaar Albin und Andreas Innerhofer. Die Beiden haben mit der neuen alten Hütte auch ihrem Leben einen Richtungswechsel gegeben. Albin ist als Geschäftsführer eines Biogasanlagenherstellers durch die Welt gejettet und privat mit dem Rucksack von Südamerika bis Georgien getingelt, bevor sie 2016 das verfallene Gebäude ersteigerten. Andreas führt eigentlich ein Architekturbüro in Taufers. Jetzt zieht er sich für die Sommermonate in die Berge zurück, wo er als Koch eine neue Erfüllung gefunden hat. Den vierjährigen Umbau stemmte das Brüderpaar zu großen Teilen in Eigenregie.
„Die Herausforderung,“ sagt Albin, „lag natürlich darin, aus einem kriegerischen Gebäude ein wohnliches Zuhause zu schaffen.“ Wohl fühlten sich in den türen- und fensterlosen Baracken bisher nur die Schafe. Andreas wollte „die Formsprache beibehalten – das Schlichte, Funktionelle.“ Die Gemütlichkeit kommt durch die Holzböden und Holzdecken. Während in den unteren Räumen die kleinen Fenster beibehalten wurden, bieten die großen Fenster oben einen sensationellen Ausblick.
Aus der Grenzkaserne ist ein Ort entstanden, an dem sich Menschen begegnen, an dem sie sich einen Tisch teilen, ins Gespräch kommen, sich austauschen – „das war unser großes Ziel“, sagt Albin. Von Osttiroler Seite kommen sie aus Innervillgraten herauf, von der anderen Seite (so wie wir) aus dem Südtiroler Hochpustertal. Die Gäste sind international – vor allem, wenn sie auf zwei Rädern kommen.
Es ist generell ein Ort, wo alles zusammenläuft, erklärt Albin. Das eine Gebäude gehört zu Innichen, das andere zu Toblach. Und hier verläuft auch eine bedeutende Wasserscheide: Von der einen Seite fließt das Wasser in die Rienz und Richtung Westen weiter über Eisack und Etsch in die Adria. Auf der anderen Seite hingegen entwässert es sich in die Drau nach Osten und gelangt über die Donau ins Schwarze Meer.
Wir starten nach einer erholsamen Nacht auf der Schwarzen Meer-Seite in Adria-Richtung – und das direkt auf einem Natur-Trail wie er im Duden stehen sollte: Es geht über Wiesen und Steine, durch plätschernde Bäche und pflatschende Kuhfladen, teils schwer verblockt, teils wunderbar flowig, mit runden und spitzen Kehren, mit kleinen Seen und einem sensationellen Ausblick. Gut durchgerüttelt landen wir auf einem schmalen Forstweg, der schnurstracks (mit Dolomitenblick) zur Steinbergeralm und schließlich zur Silvesteralm führt. In einer langen Schleife biken wir wunderschön durch den Wald, bis wir in Vierschach im Tal landen.
Es folgen 900 meditative Höhenmeter bergan auf den Helm. Oben an der Gipfelstation ankommen, geht der Blick hinüber auf die Sextner Sonnenuhr aus Stein, auf die Gipfel von Neuner, Zehner, Elfer, Zwölfer und Einser. Die Aussicht auf dem Höhenweg zur Sillianerhütte lässt in Sachen Szenerie nicht nach: eine spektakuläre Kammfahrt entlang der italienisch-österreichischen Grenze. Kurz nach der (Osttiroler) Sillianerhütte fädeln wir in den Weg Nr. 134 ein und genießen über vier Kilometer einen landschaftlich wunderschönen und fahrtechnisch abwechslungsreichen Pfad bis zur Klammbachalm. Arno besteht auf eine Einkehr und wir bereuen es nicht. Auch, weil es gilt, nochmal die Arme auszuschütteln für den Erla: Der naturbelassene Trail ist uns Mountainbikern vorbehalten und führt gespickt mit Wurzelpassagen anspruchsvoll durch den Wald hinab. Nochmals knapp vier Kilometer – insgesamt kommen wir heute auf gut elf Kilometer an Trails! Wieviel Spaß der Mensch hier haben kann… Mussolini würde ausrasten!
Von Sexten rollt man auf dem Radweg idyllisch am Bach entlang nach Innichen und weiter nach Toblach, wo der Anstieg zur Silvesteralm beginnt. Die nächsten 20 Kilometer geht es konstant bergauf (einfach der Stoneman-Beschilderung folgen) – aber immer in einer moderaten Steigung. Bei der hübschen Silvesteralm lohnt sich ein Zwischenstopp, bevor man auf Mussolinis Militärstraße weiter nach oben kurbelt und mit jedem Höhenmeter an Aussichtsreichtum gewinnt. Die Strecke gehört den Mountainbikern – Wanderer sind hier nicht zu finden. So geht es Kurve für Kurve bergauf bis schließlich die Marchhütte unterhalb des Marchkinkele hervorblitzt.
Trail-Kilometer sammeln ist angesagt! Direkt ab der Hütte geht es auf einem schmalen Pfad (S2/3) teils sehr ruppig bis zur Steinbergeralm. Ab der Silvesteralm dann bergauf, rechts an der Kapelle vorbei und über Forstwege einsam hinab nach Vierschach. Hier an der Talstation beginnt der Hauptanstieg des Tages: Gut 1300 Höhenmeter sind es auf dem Weg hinauf zum Helm. Hinter der Sillianer Hütte biegt man rechts in den fahrtechnisch abwechslungsreichen Weg Nr. 134 (später 133) bis zur Klammbachalm (Einkehrpflicht!) ab. Den Abschluss der Tour macht der sehr wurzelige Erla-Trail (S2) von der Bergstation Stiergarten hinunter nach Sexten.
Roland Stauder hat mit dem Stoneman ein Konzept entwickelt, das sich inzwischen auch im Erzgebirge, Graubünden, dem Salzburger Land und den Ardennen wiederfindet. Im Hochpustertal ist das Original zu Hause. Hier gilt es, die Steinmännchen-Route mit insgesamt 115 Kilometern und 4000 Höhenmetern in ein, zwei oder drei Tagen zurückzulegen.
Die Marchhütte wie auch die Sillianer Hütte lassen sich perfekt in die Runde integrieren. Sie führt von Sexten über Toblach auf den Marchkinkele und über die Sillianer Hütte und den Kreuzbergpass bis nach Casamazzagno in der Provinz Belluno. Vieles davon verläuft auf alten Militärstraßen, die Mussolini ab 1939 entlang des Alpenbogens erbauen ließ. Alle Infos zum Stoneman Dolomiti: stoneman.it
Die Marchhütte ist von Mitte Juni bis Mitte Oktober geöffnet. Schlafen kann man in drei 3er-Zimmern, einem 4er-Zimmer, zwei 5er-Zimmern sowie im Lager mit 6 und 12 Betten. Einige der Zimmer haben eine eigene Dusche und WC. Reservierungen: Tel. 0039/320/3207993, marchhuette.it
Unterkunftstipp für alle, die eine längere Anreise haben oder vielleicht in Sexten noch etwas bleiben möchten: der Caravan Park Sexten. Auf diesem Luxus-Campingplatz gibt es auch Baumhäuser zur Miete, Stellplätze mit eigenem Badehaus, eine Kletterhalle sowie ein großzügiges Wellness-Areal. Infos: caravanparksexten.it
Sonstige Unterkünfte, Kontakte und alle weiteren Infos über die Drei-Zinnen-Region gibt’s auf der Website des Tourismusverbandes: sexten.it
BIKE-Abonnenten finden die GPX-Daten zur Marchhütten-Tour zum kostenlosen Download unter:
>> bike-magazin.de, “Mein Bereich”