Gravel-Abenteuer in IslandDurch Thors Vorgarten

Schuhe und Socken aus, Rad geschultert und los.. nach der x-ten Bachdurchquerung sitzen die Handgriffe.
Foto: Max Hofstaetter, Moritz Klee
Die Westfjorde bilden auf Island eine Halbinsel, die man auf einer 900 Kilometer langen Gravel-Route umrunden kann. Dabei trifft man kaum Menschen und rauscht in ungebremste Naturgewalten.

Text: Oliver Andorfer

​Gefühlt ist das jetzt der zehnte Bach, der uns quer den Weg abschneidet. Nur ist dieser nicht mehr knöcheltief. Diesmal reicht das saukalte Wasser bis zum Knie. Konnten wir die ersten schmalen Bäche noch mit Anlauf und Geschick durchfahren, müssen wir unser bepacktes 25-Kilo-Bike hier irgendwie ans andere Ufer tragen und balancieren. Es war klar, dass die heutige Königsetappe hart werden würde, aber neben den Bachdurchquerungen peitschen seit fünf Stunden auch noch Windspitzen der Stärke 10 über die Hochebene Dynjandisheiði.

Das zieht so langsam allen den Stecker. Anna schiebt sich noch einen mit Schokolade umhüllten Marshmallow in den Mund und steigt wieder in den Sattel: Sofort packen die Sturmböen von schräg vorne zu und versuchen sie von der sechs Meter breiten Straße zu fegen. Wir anderen haben den Kampf bereits aufgegeben und stapfen zu Fuß durch den losen Schotter. Auf diese Weise kommen wir genauso schnell voran wie Anna. Mit unseren Gravelbikes, samt Sattel-, Rahmen- und Lenkertaschen, bieten wir dem Wind auf der baumlosen Hochebene einfach zu viel Angriffsfläche.

Meistgelesene Artikel

1

2

3

Bei Windspitzen bis Stärke 10 hat man alle Mühe auf der Schotterstraße zu bleiben.Foto: Max Hofstaetter, Moritz KleeBei Windspitzen bis Stärke 10 hat man alle Mühe auf der Schotterstraße zu bleiben.

Es ist unser vorletzter von insgesamt acht Tagen in den Westfjorden und mit Abstand auch der härteste. Eine Etappe, die uns niemals mehr aus dem Kopf gehen wird, und damit haben wir am Morgen, als wir im Fischerdorf Bíldudalur aufbrachen, nicht gerechnet. Schon gar nicht vor vielen Monaten, als die Idee zu dieser Reise in mir keimte... Damals las ich eine Reportage über die Island-Tour von Ultracycling-Legende Lael Wilcox. Die Bilder machten mir sofort Lust, die Insel selbst mit dem Rad zu entdecken. Die unfassbare Schönheit der Landschaft und die Herausforderung in der rauen, menschenleeren Natur ließen mich als Bikepacking-Fan nicht mehr los. Und der Funke meiner Begeisterung sprang über, schnell hatte ich drei Mitfahrer und eine Mitfahrerin gewonnen.

Wie gefällt Ihnen dieser Artikel?

Die ersten magischen Momente

Tomaz Druml, Moritz Klee, Anna Holzer und Max Hofstätter sitzen mit mir im Direktflug nach Reykjavík, Islands Hauptstadt, von wo wir am nächsten Tag weiterfliegen zu unserem Ausgangspunkt Ísafjörður, dem Wirtschafts- und Verwaltungszentrum der Westfjorde, die den nordwestlichsten Zipfel Islands prägen. Dort empfangen uns Dóra und Tyler von Cycling Westfjords, einer Koalition von Fahrradfahrern, die das Bikepacking auf der Insel fördern möchte. Sie haben für uns diese Route entworfen und bei der Planung unterstützt.

Am nächsten Morgen schicken sie uns mit den letzten Tipps auf den Weg. Wir pedalieren am Wasser des Skutulsfjörður entlang und können uns hier schon kaum satt sehen an den steilen Bergen, die den Fjord flankieren. Dabei liegen heute insgesamt 140 Kilometer vor uns, auf feinstem Asphalt und entlang von fünf Fjorden. Der Tipp von Dóra, unterwegs unbedingt einen Waffel-Stopp einzulegen, hallt noch in uns nach. Es gebe sonst auf dieser Etappe keine Möglichkeit, Essen zu kaufen: keinen Supermarkt, keine Tankstelle, kein Restaurant. Nur eben diese kleine Hütte, genannt Litlibær, in der es die besten Waffeln weit und breit gebe.

Kurz vor Litlibær, ich meine den Duft der Waffeln bereits in der Nase zu haben, ein Aufschrei von Tomaz – er hat eine Fontäne im Fjord entdeckt: „Wale, da vorne, das sind Wale!“ Tatsächlich, eine Herde Buckelwale mit Jungtieren taucht munter auf und ab. Ein magischer Moment, der uns eineinhalb Stunden lang die Zeit vergessen lässt. Erst als sich der Hunger immer deutlicher meldet, machen wir uns auf zur nahen Litlibær-Hütte.

Auf den 140 Kilometern der ersten Etappe die einzige Verpflegungsstation. Und sooo lecker!Foto: Max Hofstaetter, Moritz KleeAuf den 140 Kilometern der ersten Etappe die einzige Verpflegungsstation. Und sooo lecker!

Waffeln, selbst gemachte Marmelade, Sahne bis zum Abwinken und eine Kanne voll dampfendem Kaffee – wir sind jetzt schon verliebt in Island. Auch der Abend wird schön: Unsere erste Unterkunft liegt direkt an einer heißen Quelle, einem Loch in der Erde mit etwa 40 Grad heißem Wasser. Wir steigen hinein und genießen dazu ein wohlverdientes Dosenbier – kalt, versteht sich!

Diese Stille – sind wir die einzigen Menschen auf der Insel?

Die Landschaft, die uns anfangs so staunen ließ, wird für uns von Tag zu Tag normaler, bleibt aber natürlich atemberaubend: Aus sanften, saftigen Wiesen, ragen markante Tafelberge mit steilen Felskanten, von denen Wasserfälle herunterstürzen. Zivilisation? Fehlanzeige. Oft umgibt uns eine solche Stille, dass uns das Gefühl beschleicht, wir wären die einzigen Menschen auf der Insel.

Der Untergrund auf unserer Route wechselt so schnell wie das Wetter. Von Asphalt geht es plötzlich auf Schotter – und schon lernen wir den isländischen Gravel kennen: Das Gestein ist größer und hat eine andere Härte. Mit rauen Kanten. Das macht besonders die Abfahrten mit den schwer bepackten Gravelbikes zu einer Herausforderung. Bis wir uns an diesen Schotterbelag gewöhnt haben, ist uns Thor noch gnädig. Der nordische Wettergott verwöhnt uns in den ersten Tagen mit viel September-Sonne und die Temperaturen schwanken zwischen sieben Grad am Morgen und maximal 20 Grad um die Mittagszeit.

Doch dann zeigt uns Island seine düstere Seite. Der Himmel macht immer mehr zu, der Wind bläst schärfer und deutlich kälter, am fünften Tag kübelt es wie aus Eimern. Wir versuchen uns mit Regenjacken, langen Regenhosen sowie wasserdichten Hand- und Überschuhen trocken zu halten, sind aber früher oder später alle durchnässt. Dazu bläst uns nun der erste Sturm ins Gesicht. Stellenweise müssen wir das Rad schieben, weil an Fahren nicht mehr zu denken ist. Hinter einem Baum verstecken? Es gibt ja keine. Also, so lang es noch geht: Kopf einziehen, treten und wie Schnecken kriechen – bis zur nächsten Bachdurchquerung, die noch mehr ausbremst.

Ja, Island kann auch anders. An diesem Tag ist tatsächlich nichts trocken geblieben.Foto: Max Hofstaetter, Moritz KleeJa, Island kann auch anders. An diesem Tag ist tatsächlich nichts trocken geblieben.

Als uns am siebten Tag der anfangs beschriebene knietiefe Bach quer kommt, haben wir bereits Routine: Socken und Schuhe aus, Räder schultern und eine geeignete Stelle suchen, an der wir durch das knapp zehn Grad kalte Wasser waten können. Ah, wie sich dabei der Wadenmuskel wunderbar in seiner Faszie zusammenzieht, um sich vor dem Kälteschock zu verkriechen, kurz vor dem Krampf aber locker lässt, weil man mit seiltanzender Grazie auf das andere Bein wechselt. Doch kurz darauf hat die Insel schon die nächste Überraschung parat. „Jungs, schauts amol da vorn, wia schian is des bitte!“, ruft Anna und deutet nach vorn. Wie aus dem Nichts strahlt uns an der Küste ein langer, feiner, heller Sandstrand an, angespült von hellblauem Meerwasser. Ein Anblick, der an die Karibik erinnert, nicht an eine Insel auf der Höhe Grönlands. „Barðastrandarsandur“ heißt der Strand. Zum ersten Mal auf diesem Trip sind alle sprachlos.

Barðastrandarsandur - fast schon eine Fatamorgana: Weißer Sandstrand auf der sonst schwarzen Vulkaninsel.Foto: Max Hofstaetter, MoritzBarðastrandarsandur - fast schon eine Fatamorgana: Weißer Sandstrand auf der sonst schwarzen Vulkaninsel.

Auf der Kjaransbraut-„Straße“

Am nächsten Tag fahren wir auf einem – wie wir in Österreich sagen würden – Traktorweg direkt am Meer. Rechts die isländische Mixtur aus Gräsern und schroffen Vulkangesteinsblöcken. Links ein knapp zwei Kilometer breiter Fjord und die Aussicht auf die für die Westfjorde typischen, von den eiszeitlichen Gletschern abgeschliffenen Tafelberge. Der landschaftlich schönste Abschnitt des Tages, vielleicht sogar der ganzen Reise, sollte aber noch kommen: die Kjaransbraut-Straße. Vor mehr als 30 Jahren wurde sie in eine knapp 150 Meter hohe Felswand geschlagen. Bis de isländische Straßenbaubehörde feststellte: „Mission Impossible“ – und das Projekt aufgab. Doch dann kam Elís Kjaran Friðfinnsson, der auf einem nahe gelegenen Bauernhof lebte. Auf eigene Faust zog er mit seinem kleinen Bulldozer in den Fels.

Dabei hat er sicher nicht an Leute wie uns gedacht, denn mit Gravelbikes stößt man hier bald an Grenzen. Spätestens dort, wo die Straße unter einer Felswand über einen schmalen Strand führt. Den kann man nämlich nur bei Ebbe passieren. Dóra von Cycling Westfjords hatte uns zwar die genauen Zeiten von Ebbe und Flut durchgegeben, aber auch ohne Flut machen handballgroße, rund geschliffene Steine das Fahren unmöglich. Wir müssen die Räder tragen, während das Wasser von der Felswand unaufhörlich auf unsere Köpfe tropft.

Nach dem langen Tag und einem ausgedehnten Abendessen, es ist etwa halb elf, wollen alle gerade ins Bett, als mein Handy klingelt. Moritz, der sich nach draußen verdrückt hat, ist dran: „Ich würde kurz nach draußen kommen, Freunde – Nordlichter!“ Seit Tagen checken wir die App mit der Nordlicht-Vorhersage. Bis jetzt vergebens. Doch was wir diese Nacht sehen, übertrifft alle Erwartungen: Eine dreistündige Lasershow mit tanzenden grünen Lichtern, die ab und zu ins Lilafarbene wechseln. Sie verschwinden an einer Stelle, um an einer anderen wieder aufzutauchen.

Und wir waren schon fast im Bett! Dann hätten wir die ersten Polarlichter des Jahres verpasst.Foto: Max Hofstaetter, Moritz KleeUnd wir waren schon fast im Bett! Dann hätten wir die ersten Polarlichter des Jahres verpasst.

Still und andächtig liegen wir nebeneinander am Strand von Þingeyri, die Kameras auf Langzeitbelichtung gestellt. Unser achter und letzter Tag. Es sind nur noch 50 Kilometer und 1000 Höhenmeter. Aber mit dem Breiðadalsheiði (610 m) wartet heute der höchste Pass der Tour. Einfach der alten Schotterstraße folgen, hieß es. Tatsächlich ist es der GPS-Track, der uns durch einen Geröllhang mit Steinen von Tennis- bis Medizinball-Größe lotst. Und weil es windstill ist und die Sonne scheint, rinnt uns bald der Schweiß von der Stirn – das erste Mal in den acht Tagen.

Island mit dem Gravelbike - das muss man wissen

​So kommt man hin

Per Direktflug von Deutschland nach Reykjavik (ab Frankfurt 3,5 Std.) und weiter mit Iceland Air nach Ísafjörður (45 Min.), wo die Tour startet. Info: icelandair.de Die Inlandsflüge sind allerdings teuer. Man könnte die 450 Straßenkilometer auch mit dem öffentlichen Bus angehen (mit Radtransport), aber es gibt keine direkten Verbindungen. Planungshilfe: straeto.is/en und publictransport.is

Beste Reisezeit

Die beste Zeit sind die Monate Juni bis Mitte September. Die durchschnittlichen Tagestemperaturen liegen dann bei 10-15 Grad. Schneefälle sind aber möglich.

Kosten

Die Lebenshaltungskosten sind in Island 50 Prozent höher als in Deutschland. Unsere über Cycling Westfjords gebuchten Unterkünfte kosteten für fünf Personen im Schnitt 270 Euro mit Frühstück. Fürs Abendessen muss man noch mal 20 bis 35 Euro pro Person einplanen. Gästehäuser sind außen schnörkellos schlicht, innen aber komfortabel. Zelten in freier Natur ist erlaubt, es gibt auch einige Campingplätze entlang der Strecke.

Info

Cycling Westfjords hilft bei der Routen-Planung, bietet geführte Touren an und organisiert im Juni die „Arna Westfjords Way Challenge“, ein Etappenrennen rund um die Westfjorde, cyclingwestfjords.com

Island Gravel: Der Bildband mit allen Streckeninformationen zu Islands Westfjords

Detaillierte Informationen zur 900 Kilometer langen Westfjords Route auf Island mit großartigen Bildern und allem, was man für einen Bike-Trip wissen möchte, inklusive Strecken-Details, GPX-Daten, Packliste und QR-Codes zu Drohnenflügen der Tour haben Martina Gensmantel und Oliver Andorfer in ihrem Bildband “Island Gravel” zusammengefasst. Preis: 34,90 Euro, erschienen im Delius Klasing Verlag

Das perfekte Weihnachtsgeschenk für alle, die Island mit dem Bike erleben wollen: Island Gravel.Foto: Delius Klasing VerlagDas perfekte Weihnachtsgeschenk für alle, die Island mit dem Bike erleben wollen: Island Gravel.

Meistgelesen in der Rubrik Touren