Radreise PolenAuf dem Green Velo durch das ehemalige Ostpreußen

Sven Bremer

 · 30.01.2024

Verlassene Strände am Frischen Haff bei Tolkmicko. Der Radweg verläuft oft auf Betonplatten und häufig direkt am Meer
Foto: Martin Kirchner
Viele Überraschungen hält eine Radreise auf dem Green Velo durch Polen bereit.
Green Velo heißt ein knapp 2000 Kilometer langer Fernradweg durch Polen. MYBIKE-Autor Sven Bremer hat einen Teil der Strecke in seine Polen-Runde eingebaut und viel Neues erfahren über ein ihm bis dahin eher unbekanntes Land. Eine Radreise durch das ehemalige Ostpreußen zwischen Palästen und Plattenbau.

Am Ende war da dieser Sternenhimmel. So überwältigend, so unfassbar klar, so gigantisch. Ein Sternenhimmel über polnischen Wiesen und Feldern, wie ich ihn vielleicht ein- oder zweimal in meinem Leben gesehen habe. In der Wüste Afrikas vielleicht, auf dem Atlantik.

Was aber bitte schön hat dieser Sternenhimmel über dem einsam gelegenen Gutshaus Dwor Dawidy mit unserer Radtour durch den Nordosten Polens zu tun? Dieser unglaubliche Sternenhimmel hat den Ausschlag gegeben, dass ich diese Tour durch die Woiwodschaft Ermland-Masuren in überwiegend guter Erinnerung behalte. Vielleicht hat dieser Sternenhimmel mit seiner Magie so einiges andere überstrahlt, was in den Tagen zuvor rechts und links des Fernradwegs Green Velo und jenseits der polnischen Landstraßen so trist und grau erschien. Was genervt und enttäuscht oder zumindest oft ein ambivalentes Gefühl hervorgerufen hat. Ich war noch nie in Polen, und insofern war ich gespannt. Das Ermland habe ich mir ungefähr so vorgestellt wie Mecklenburg-Vorpommern vor 30 bis 40 Jahren. Das war gar nicht mal so verkehrt, wenngleich ich naiv genug war, zu glauben, wir würden durch ein polnisches „Bullerbü“ nach dem anderen fahren, durch eine friedliche, ländliche Idylle.

Fast 2.000 Kilometer lang ist der Green-Velo-Radweg. Viel zu lang für uns, also haben wir uns für die ersten Kilometer mit Start in Elblag an der Ostsee entschieden.

In der Stadt ist der Himmel grau verhangen, das lässt die monströsen Plattenbau-Siedlungen noch trostloser erscheinen. Zum Glück geht es schnell hinaus in den Wald. Die Schilder des Green Velo sind nicht in Grün, sondern in knalligem Orange gehalten und nicht zu übersehen. Und wenn sich die Kaschubei südwestlich von Danzig „Kaschubische Schweiz“ nennen darf, dann dürfte sich die Region um Elblag durchaus so etwas wie „Elbische Schweiz“ nennen. Ruckzuck sind wir von null auf ca. 150 Höhenmeter gekraxelt. Das ist nicht viel, kam aber überraschend, so nahe an der Ostsee.

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Ein Hinweisschild führt uns zum Green Velo MOR. Das steht für Miejsce Obsługi Rowerzystów und bedeutet frei übersetzt Radfahrer-Rastplatz. Auf all meinen Touren habe ich einen solchen Rastplatz noch nicht gesehen. Alles ist in knalligem Grün gehalten. Die Tische und Stühle, das Gestell für die Infotafel, die Fahrradständer – und die Toilette! Ob ein Toilettenhäuschen eine gute Idee ist, dürfte sich erst dann zeigen, wenn es verbindliche Erfahrungen gibt, ob und wie oft dieses Dixie-Radler-Klo gesäubert wird.



Green Velo: Fernradweg durch Polen

Die Idee ist nicht gerade revolutionär, aber gut: ein Fern-Radweg durch Polen.
Die Polen selbst fanden die Idee und die Umsetzung so gut, dass sie den Green Velo und damit sich selbst Anfang 2017 mit einem Touristen-Oscar prämierten. Der knapp 2.000 Kilometer lange Radweg verbindet den abgelegenen Südosten des Landes mit der Ostsee.
Start oder Ziel – je nach Fahrtrichtung – ist entweder bei Elblag am Frischen Haff in Ermland-Masuren oder in Sielpia – wobei der Green Velo von dort aus noch einen Abstecher Richtung Südosten macht, ehe er ab der Weltkulturerbe-Stadt Zamosc Richtung Norden und später dann Richtung Nordosten verläuft.

Rastplatz bei Jagodnik. Dank EU-Fördermitteln ist der Green Velo ein gut ausgebauter und beschilderter Radweg.Foto: Martin KirchnerRastplatz bei Jagodnik. Dank EU-Fördermitteln ist der Green Velo ein gut ausgebauter und beschilderter Radweg.


Der Fern-Radweg ist im Verlauf des Jahres 2016 komplett fertiggestellt worden und führt durch fünf sogenannte Woiwodschaften (Verwaltungsbezirke). Durch Ermland-Masuren, Podlachien, Lublin, Karpatenvorland und Heiligkreuz. Die abwechslungsreiche Strecke verläuft durch fünf Nationalparks sowie zahlreiche Naturschutzgebiete, entlang der Grenze zu Weißrussland und der Ukraine und schließlich unweit der Grenze zur russischen Oblast Kaliningrad (Königsberg).
400 der 1.980 Kilometer Radweg wurden neu erbaut, zum Teil auf ehemaligen Bahntrassen. 220 Rastplätze, zum Großteil inklusive Toiletten, wurden errichtet, noch sind die Hinweisschilder auf den Stationen lediglich in Polnisch gehalten. Insgesamt wurden 65 Millionen Euro, ein guter Teil davon Fördergelder aus EU-Töpfen, in den Ausbau des Green Velo investiert. Infos und Karten unter: greenvelo.pl


Immerhin ist er hübsch gelegen, unser erster MOR, in dem kleinen Ort Jagodnik zwischen Wäldern, Feldern und der Ostsee. Die besteht hier aus dem Frischen Haff, ca. 80 Kilometer lang und bis zu 18 Kilometer breit, getrennt von der Danziger Bucht durch einen schmalen Festlandstreifen, die Frische Nehrung. Die einzige schiffbare Verbindung liegt ganz im Osten auf russischem Staatsgebiet. Wirtschaftlich schwierig für die Hafenstadt Elblag, ein Glücksfall für alle, die in der Naturlandschaft Ruhe und Erholung suchen.

Wir rollen weiter entlang des Frischen Haffs, linker Hand trennt uns zumeist ein Schilfgürtel vom Meer. Strandabschnitte, die zum Baden einladen, gibt es eher selten. Und wenn, sind es Geisterstrände, verlassene Buden, umgewehte Sonnenschirme, hinterlassener Müll. Den Traumurlaub am Meer stellt man sich anders vor. Okay, es ist auch kein Badewetter, obwohl Mitte August: 18 Grad Celsius zeigt das Thermometer. Dunkle Wolkenberge türmen sich über den Wiesen zwischen Wald und Ostsee auf. Tolkmicko ist nicht weit, und wir geben richtig Gas, als die ersten Tropfen fallen. Das hat nicht nur den Vorteil, dass wir halbwegs trocken am Bauernmarkt des Ortes ankommen, sondern zudem den Effekt, dass man bei hohem Tempo auf dem Betonplattenweg nicht ganz so durchgeschüttelt wird.

Verlassene Strände am Frischen Haff bei Tolkmicko. Der Radweg verläuft oft auf Betonplatten und häufig direkt am MeerFoto: Martin KirchnerVerlassene Strände am Frischen Haff bei Tolkmicko. Der Radweg verläuft oft auf Betonplatten und häufig direkt am Meer

In einer einfachen Fisch-Brutzelbude im Städtchen ordern wir frischen Dorsch mit Pommes und Salat. Ganz wie es sich gehört, hat es sich ausgeregnet, nachdem wir unseren Teller fein säuberlich leer gegessen haben. Der Fisch war lecker, der Wirt ein richtig freundlicher Mensch; er bleibt für eine ganze Weile der Einzige.

Es ist nicht weit bis Frombork mit seinem mächtigen Dom aus dem 14. Jahrhundert und dem 300 Jahre jüngeren Glockenturm. Hier hat ein gewisser Nikolaus Kopernikus gelebt und gewirkt, „im hintersten Winkel der Welt“, wie er selbst damals befand. Der Mann war ein Allroundgenie, sein größtes Verdienst im 16. Jahrhundert war bekanntlich, dass er mit dem sogenannten geozentrischen Weltbild aufräumte. In seinem Hauptwerk „De revolutionibus orbium coelestium“ bewies Kopernikus, dass die Erde ein Planet ist, sich um die eigene Achse – und wie auch die anderen bekannten Planeten – um die Sonne dreht, und er revolutionierte damit die Wissenschaft.

In Frombork (Frauenburg) überragt der gotische Dom auf dem Kathedralhügel alle anderen Gebäude. Allgegenwärtig ist der berühmte Sohn der Stadt, Nikolaus KopernikusFoto: Martin KirchnerIn Frombork (Frauenburg) überragt der gotische Dom auf dem Kathedralhügel alle anderen Gebäude. Allgegenwärtig ist der berühmte Sohn der Stadt, Nikolaus Kopernikus

Am Abend im Restaurant in Pieniezno treffen wir Raimund aus Stuttgart. Er hat sich die Zeit genommen, den kompletten Green Velo abzuradeln. Raimund schwärmt vom Südosten Polens, vom Vorkarpatenland, vom Heiligkreuz-Gebirge – und er lässt kein gutes Haar an seiner zurückliegenden Tagesetappe. Dummerweise genau jene Etappe, die vor uns liegt: „Trostlose Gegend, mies gelaunte Menschen, katastrophale Radwege.“ So ungefähr könnte man zusammenfassen, was der Schwabe zu meckern hatte.

Raimund hat nur bedingt recht. Die Sonne strahlt vom Himmel am nächsten Morgen und lässt die Gegend längst nicht so trist erscheinen. Wir rollen auf herrlichen Alleen durch Felder, auf alten Bahntrassen durch schaurige Moore, auf Schotterstraßen durch Mischwälder, in denen sich noch Wölfe tummeln. Und über Kopfsteinpflaster durch zahlreiche Dörfer, die fast immer eins gemein haben: Egal wie klein, egal wie verschlafen – eine mächtige Kirche ist fast jedes Mal zu finden. Oft dreht die Dorfjugend hier auf ihren Rostlauben sinnlose Kreise. Manchmal versuchen die Jungs, ein paar Meter mit uns mitzuhalten, manchmal staunen sie nur. Aber wenigstens lächeln sie. Fast überall auf der Welt wird man als Radler unterwegs zurück gegrüßt. Die Menschen hier schauen überwiegend stur und wortlos geradeaus.

Jan Kozlowski, Besitzer des Gutshauses in Dawidy, hat eine Erklärung dafür: „Viele der heutigen Bewohner sind nach 1945 hierher umgesiedelt worden, aus dem Südosten Polens, aus der Ukrai­ne. Das Ermland ist nicht ihre wirkliche Heimat. Vielen geht es wirtschaftlich einfach nicht gut, es fehlt ihnen eine Perspektive.“ Das Ermland ist eine strukturschwache Region, zudem die mit der höchsten Arbeitslosenquote im ganzen Land.

Vor meiner ersten Reise nach Polen hatte ich zwar keine Vorurteile, aber auch kaum Vorwissen über unser Nachbarland: Robert Lewandowski, Lech Walesa, Papst Johannes Paul II., das war’s auch schon. So habe ich bereits bei der Planung der Tour gestaunt über die Geschichte der Deutschen Ordensritter, die im Nordosten des heutigen Polen, dem früheren Ost- und Westpreußen, ihr Unwesen trieben. Neben den Kirchen bauten die vermeintlichen Heilsbringer im frühen Mittelalter mächtige Ordensburgen in der Region. An einem dieser beeindruckenden Bauwerke in Lidzbark Warminski machen wir Station.

Ein bisschen wie Mecklenburg-Vorpommern vor 30 Jahren: Viel Wasser, Moore, Felder, Alleen und Mischwälder prägen die Landschaft in der Woiwodschaft Ermland-MasurenFoto: Martin KirchnerEin bisschen wie Mecklenburg-Vorpommern vor 30 Jahren: Viel Wasser, Moore, Felder, Alleen und Mischwälder prägen die Landschaft in der Woiwodschaft Ermland-Masuren

Von dort aus führt unsere Tour weiter nach Galiny, Scheitelpunkt unserer Route. Felder und Wiesen sind in ein mildes Abendlicht getaucht, als wir am Kloster Stoczek Klasztorny noch eine kurze Pause einlegen und die prunkvolle Kirche und pittoresken Kreuzgänge der Anlage bewundern. Und als einer der alten Mönche sich auf seinen Abendspaziergang begibt, gleichzeitig ein Pferde-Fuhrwerk vorbeiklappert, da hatte es dann doch diese friedvolle Stimmung aus vergangenen Tagen, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Jan Kozlowski, der ursprünglich aus Warschau stammt und viel herumgereist ist in der Welt, hat sich schließlich genau diese Gegend ausgesucht zum Leben: „Es ist im positiven Sinn einsam, es ist ursprünglich“, sagt er. Es gäbe kaum Indus­trie und deshalb auch wenig Luft- und gar keine Lichtverschmutzung in diesem dünn besiedelten Landstrich. „Ich liebe die vielen alten Buchen, Eichen und Linden – und es ist nicht weit vom Meer entfernt“, sagt der neue Gutsherr von Dwor Dawidy. Und nicht zu vergessen, es hat hier den schönsten Sternenhimmel, den man sich nur vorstellen kann.

Infos und Tipps für eine Radreise auf dem Fernradweg Green Velo in Polen

Tourengebiet

Die Woiwodschaft Ermland-Masuren liegt im Nordosten Polens. Von Elblag, dem Start- und Zielort der MYBIKE-Tour, sind es 60 Kilometer bis Danzig. Die selbst zusammengestellte Route führt zunächst auf dem Green Velo entlang des Frischen Haffs und schließlich ins dünn besiedelte Landes­innere. Ab Galiny zurück auf überwiegend kleinen Straßen und Alleen.
Die Gegend ist hügelig, die Anstiege sind kurz, aber bisweilen recht knackig. Auf den rund 360 Kilometern haben wir ca. 2.500 Höhenmeter gesammelt. Der Untergrund auf der Green-Velo-Strecke variiert zwischen super ausgebauten Asphaltpassagen, gut befahrbaren Schotterstrecken, Betonplattenpisten und von Schlaglöchern übersäten kleinen Landstraßen.

Anreise

Auto: Von Berlin aus sind es je nach Route sechs bis sieben Stunden nach Elblag.
Bahn: Mit der Bahn braucht man je nach Route mit mehrmals Umsteigen sieben bis acht Stunden vom Hbf Berlin aus. Infos zur Radmitnahme: www.bahn.de
Bus: FlixBus fährt von Berlin nach Danzig für ca. 30 Euro, der Fahrradtransport kostet 9 Euro pro Strecke. Infos unter www.flixbus.de
Flug: Lufthansa und LOT fliegen Danzig von mehreren deutschen Airports aus an. Von dort aus sind es ca. 75 Kilometer nach Elblag.

GPS-Daten

Den GPX-Track zur Radreise auf dem Fernradweg Green Velo durch Polen können Sie im DK Tourenportal herunterladen

Unterkunft

Elblag: Hotel Elblag. Erstes Haus am Platz in der Neuen Altstadt. DZ ab ca. 85 Euro. hotelelblag.eu
Pieniezno: Hotel Hermes. Einfaches Hotel am Stadtrand. Frühstück auf Anfrage, DZ ca. 25 Euro. hermes-pieniezno.noclegiw.pl
Galiny: Palac Galiny. Historische Unterkunft mit ausgezeichneter regionaler Küche. DZ ab ca. 50 Euro. palac-galiny.pl
Dawidy: Gutshaus Dwor Dawidy, DZ ab ca. 50 Euro. dawidy.com

Essen und Trinken

Die Polen sind die "Suppenkasper" Europas. Spezialitäten sind die saure Zurek, eine Suppe, der das leicht vergorene Roggenschrot ihren besonderen Geschmack gibt, und die verschiedenen Varia­tionen der Rote-Bete-Suppe Borschtsch (in Polen Barszcz). Richtig satt macht der Bigos. Der Eintopf ist so etwas wie das Nationalgericht der Polen. Praktisch für die Verpflegung unterwegs sind die vielen kleinen Läden (Skleps), die in fast jedem Dorf zu finden sind.
MYBIKE-Tipp: Restaurant Pod Kogutem in der Altstadt von Elblag. Besonders lecker: Sauermehlsuppe Zurek mit Speck und Ei, Borschtsch, Königsberger Klopse und selbst gebackener Käsekuchen.

Sehenswert

… in der gesamten Region sind die Kreuzritterburgen des Deutschen Ordens, insbesondere die bestens erhaltene Bischofsburg in Lidzbark Warminski (Heilsberg) sowie die Marienburg in der gleichnamigen Stadt (nicht an der Strecke). Marienburg könnte man im Verlauf der Anreise besuchen, genau wie Danzig. Letzteres ist unbedingt einen Abstecher wert, eine wahrlich beeindruckende Stadt. Die Hafenstadt an der Ostsee mit ihrer quirligen Fußgängerzone lädt ein zum Stadtbummel.

Lohnt einen längeren Tour-Stopp: Die Altstadt von Danzig mit der Fußgängerzone Dluga.Foto: Martin KirchnerLohnt einen längeren Tour-Stopp: Die Altstadt von Danzig mit der Fußgängerzone Dluga.


Fahrrad-Service

Elblag M Bike, Grunaldzka 2, Tel. 0048/552371324, roweryelblag.pl

Information

Polnisches Fremden­verkehrsamt Berlin, Tel. 030/2100920, polen.travel/de
Ermland-Masuren-Tourismus, Tel. 0048/895353565, mazurytravel.com.pl

Literatur

DuMont-Reise-Taschenbuch Masuren, Danzig, Marienburg; 18,90 Euro

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