Jan Timmermann
· 08.10.2025
Vor mir tanzt der Lichtkegel meiner Lampe von links nach rechts und wieder zurück. Wie ein Metronom durchbricht er die Dunkelheit der Bergwelt. Meine Lunge brennt und schaufelt den Sauerstoff der kalten Morgenluft mit maximaler Drehzahl in die übersäuerten Muskeln. Kraftvoll pumpe ich im Wiegetritt hohe Wattzahlen.
Dann: Blutgeschmack mischt sich in meinen Speichel und das Zucken des Lichts wird unkoordinierter. Verzweifelt tastet der rechte Daumen nach dem Schalthebel, doch da ist nichts. Mein Bike hat keine Schaltung, kein Getriebe, keinen Kriechgang. Nur über ein einziges Ritzel läuft die Kette. Im Moment ist das einfach nicht genug.
Meine Mission hat gerade erst begonnen und schon treiben die Zweifel ihre giftigen Fänge in meine Motivation, wie eine tödliche Schlange. Mit dem Bike von der Quelle eines Flusses loszuradeln hat den Vorteil, dass es die meiste Zeit bergab geht. Allerdings steht dort, wo das Nass aus dem Fels sprudelt selten ein Hotel. Deshalb muss ich erstmal bergauf.
Die Isar entspringt auf 1162 Metern Höhe über dem kleinen österreichischen Ort Scharnitz, wo ich um halb sechs Uhr morgens eingeklickt habe. Auf den letzten Metern muss ich mein Bike über enge Wurzelpfade tragen. Zum Glück ist es nur leicht bepackt. Ich hatte bereits so eine Ahnung, dass ich viel im Stehen würde fahren müssen und wollte mir die Hebelarbeit nicht zusätzlich erschweren.
Nachdem die vielen Zuflüsse abgezweigt sind, plätschert die eigentliche Isar hier im Hinterautal aus mehreren Quellen als kleiner Gebirgsbach zwischen dem Wurzelwerk hervor. Schnell ein Erinnerungsfoto, dann muss ich weiter. Das laute Kreischen meines Freilaufs durchbricht die Stille.
Mittreten kann ich nicht mehr. Jetzt ist mein Gang zu klein. Stattdessen setze ich mich aufs Oberrohr, um dem bremsenden Fahrtwind weniger Angriffsfläche zu bieten. Hinter der nächsten Kehre reißen die Wolken auf. Wie eine Fata Morgana öffnet sich ein Fenster im Grau und gibt einen sonnenbeschienen Felsgipfel frei. Ich hab’s im Gefühl: Das wird ein guter Tag!
Die ersten Kilometer verfliegen schnell. Mittenwald und Wallgau ziehen mit ihren idyllischen Holzhäusern an mir vorbei und ruckzuck bin ich auf der Mautstraße nach Vorderriß, wo sich die Isar mit dem eiskalten Wasser des Rißbaches mischt. Der Großteil meiner Route verläuft auf Schotter. Hier im engen Tal darf es auch mal Asphalt sein.
Für Radfahrer ist die Durchfahrung kostenfrei und das landschaftliche Panorama aus kristallklarem Wasser und den imposanten Ausläufern der Alpen um so besser. An schönen Wochenenden kann es hier verdammt voll werden, noch ist aber alles friedlich.
Mein Singlespeed-Projekt ist nicht die erste Isar-Geschichte, die es ins BIKE-Magazin schafft. Im Jahr 2001 berichteten Kollegen über das “Kanada Bayerns”, surften auf ihren Freeride-Bikes die Schotterhänge der umliegenden Berge hinunter und campierten bei Lagerfeuer und Gitarrenmusik direkt am Flussufer.
Zehn Jahre später wieder eine Isar-Story. Jetzt kostete das Abdrucken eines Lagerfeuer-Bildes 40.000 Euro Strafe. Seitdem das Naturjuwel der jungen Isar immer mehr Touristen anzieht, wurden auch die Schutzstandards hochgefahren. Ich fahre lieber weiter.
Ohnehin halte ich persönlich nicht viel vom Trend-Konzept “Overnighter”. All das Bikepacking-Geschirr ans Bike zu zurren, nur um sich nach ein paar läppischen Kilometern für eine einzige Nacht irgendwo illegal abzulegen? Ne danke, da kurble ich die 300 Kilometer lieber am Stück durch!
Einladend wäre es hier schon, denn neben dem “Kanada Bayerns” liegt die “Karibik Bayerns”. Die türkisblaue Farbe des Sylvensteinspeichers ist ein beliebtes Fotomotiv. Dabei steckt hinter der Idylle ein rationales Kalkül. Bis zu 125 Milliarden Liter Wasser fasst der Stausee, welcher die Metropole München vor Hochwasser schützen soll.
Hier, an diesem Bollwerk des Katastrophenschutzes, treffe ich wieder auf Fotograf Georg. Bis wir alle Bilder im Kasten haben zeigt das Navi bereits halb Zwölf Uhr. Unruhe breitet sich in mir aus und schlägt mir auf den Magen. Wenn ich die verbleibenden 250 Kilometer in einer halbwegs zumutbaren Zeit hinter mich bringen will, muss ich mich sputen. Also keule ich in die Pedale und schieße durch den Fahrrad-Tunnel hinunter nach Lenggries.
Kurz vor Bad Tölz schließe ich zu einem Gravelbiker auf. Er wittert den Braten sofort: “Was ist das denn für eine Schaltung?” ruft er fragend gegen den Wind. “Keine Schaltung!” entgegne ich kurz. “Wie, keine Schaltung?” kommt prompt die Nachfrage. Singlespeed-Fahren ist erklärungsbedürftig.
Als mir die vielen kleinen Rampen vor Wolfratshausen fast den Stecker ziehen, stelle ich das Konzept Eingang-Mountainbike selbst in Frage. Klar gibt es rationale Gründe: Weniger Verschleiß, weniger Gewicht, weniger Komplexität. “Was nicht dran ist, kann auch nicht kaputtgehen” lautet schließlich eine alte BMXer-Weisheit.
In Wahrheit aber ist Singlespeed-Fahren auch eine Art Protest. Gegen die Verkomplizierung und Technisierung des Fahrrads. Gegen die Elektrifizierung einer an sich perfekten Maschine und den toxischen Druck der sportlichen Selbstoptimierung.
Bei der Singlespeed-Olympiade werden die Startnummern erst um zwei Uhr nachts beim Punkrock-Konzert an diejenigen ausgegeben, die einen gewissen Bier-Pegel im Blut nachweisen können. Bei der Singlespeed-Weltmeisterschaft wird die Medaille nicht überreicht sondern tätowiert. Singlespeed ist pure Rebellion.
Am Isarkanal vor Grünwald schlängle ich mich durch die Radtouristen auf ihren schwer beladenen E-Bikes. Fünf bis sieben Tagesetappen werden für den kompletten Isarradweg auf einschlägigen Touren-Portalen angepriesen. Wahrscheinlich umfasst die Empfehlung auch mindestens dreißig Gänge.
Schließlich führt die Route aufs Isarhochufer. Unendlich lange fühlt sich der Anstieg mit meinem einen Gang an. Die Kraft jeden Trittes der 32-zu-13-Übersetzung muss durch den Rücken. Hätte ich doch noch ein paar Zusatzstunden im Gym gebucht! Eigentlich dachte ich, ich würde im Karwendel starten und bis Deggendorf einfach nur bergab rollen. Lediglich knapp über 1000 Höhenmeter kommen auf den 300 Kilometern zusammen.
Singlespeed ist aber eben auch anstrengend, wenn es 100 mal den Deich hoch und runter geht. Ich nehme den letzten Schluck des Isarquellwassers, welches ich nun schon 140 Kilometer in meiner Trinkflasche transportiert habe. Vielleicht verleiht es mir ja die Kräfte des Stromes.
Der Münchner Radschnellweg an der Isar ist berühmt-berüchtigt. “Kamikaze-Radler” und “Radl-Rambos” waren schon Thema bei so mancher CSU-Regionalversammlung. Auf der Fluss-Achse durch die Landeshauptstadt tummelt sich alles, was von einer Tretkurbel angetrieben wird.
Ich überhole einen Typ mit Cowboyhut auf seinem Fatbike. Aus einer an den Rahmen gestrapste Musikbox dröhnt ein Schlager-Hit. Hinter der nächsten Kurve muss ich einem Lastenrad ausweichen, dessen halbstarker Pilot nur Augen für sein Smartphone hat. Anschließend fliegt eine gertenschlanke Rennradfahrerin mit Tempo 40 an mir vorbei.
Als der Trubel endlich ein Ende hat, muss ich an einer ruhigen Ecke kurz aus dem Sattel steigen. Erste Ermüdungserscheinungen machen sich bemerkbar: Die Augen sind leicht zugequollen, die Beinmuskulatur schmerzt und will sich gar nicht mehr entspannen. Singlespeed-Biken ist wie unfreiwilliges Intervall-Fahren. Jetzt gerade dauert das Intervalltraining bereits achteinhalb Stunden an.
Die Isar hat viele Gesichter. Bis München fließt sie hellblau und wild, wie ein echter Bergfluss. Hinter der Stadtgrenze werden die charakteristischen Kiesbänke immer weniger und die Farbe verändert sich zu einem Grün-Braun. Bald schon fließt das Wasser begradigt durch Auwälder.
Auf der Satellitenkarte kann man sehen, dass die Isar hier wie ein grünes Band Ober- mit Niederbayern verbindet und dabei eine großenteils flache Agrarwüste durchschneidet. Ich kurble nun schnurgerade zwischen alten Bäumen gen Norden. Die Beine rotieren wieder erstaunlich locker, doch der Kopf hadert mit der Tatsache, dass ich erst gut die Hälfte meiner Route geschafft habe.
Ab Moosburg wird die Kraft der Isar zunehmend zur Energiegewinnung genutzt und der Track führt kreuz und quer zwischen den Umspannwerken. Fürs Singlespeed-Fahren ist es essentiell wichtig, Speed durch Kurven mitzunehmen und über Kuppen hinwegzudrücken. Im Moment lasse ich diese Dynamik vollends vermissen. Ich bin müde.
An den mittleren Isarstauseen muss ich für einige Minuten rasten. Hunderte Zugvögel treiben hier im Naturschutzgebiet auf der Wasseroberfläche. Genau wie ich machen sie hier auf ihrer langen Reise Pause. Als ich den Wildgänsen und Schwänen in der tiefstehenden Sonne zuschaue, lasse ich meine Gedanken schweifen. Die meistgestellte Frage an Singlespeed-Biker ist: “Warum?”, meist begleitet von ungläubig zusammengekniffenen Augen und einem skeptischen Kopfschütteln.
Meine Standard-Antwort lautet: “Zur Reizsteigerung!” Eigentlich ist das aber falsch. Das Gegenteil ist der Fall. Ein befreundeter Singlespeed-Jünger taufte das Mountainbiken mit nur einem Gang einmal “die Faszienrolle fürs Gehirn”. Nur Lenken und Treten, sonst nichts. Das monotone Pedalieren quetscht die Gedanken des Alltags aus dem Kopf und hinterlässt eine angenehme Leere - auch ein wenig Schmerz, aber das ist okay.
In Landshut fülle ich am Supermarkt ein letztes Mal meine Essens- und Wasservorräte auf. Rund 12.000 Kalorien und etwa elf Liter Flüssigkeit braucht mein Körper an diesem Tag. Von den Belastungen werden sich Muskeln und Organe noch tagelang erholen müssen.
Es dämmert und ich schalte zusätzlich zur Lichtanlage meine Kopfhörer ein. Wenn das Licht schwindet und der Dunkelheit weicht, gibt es für die Augen weniger Ablenkung. Ohne den Wechsel der Landschaft lenkt das System Mensch seinen Fokus verstärkt auf die Erschöpfung und die mentale Seite der Herausforderung intensiviert sich.
Ich brauche dann Musik, um dem Kopf einen anderen Sinnesreiz zu geben. So peitschen mich die Toten Hosen auf die finalen 80 Kilometer: “Wirst du dein Leben ändern oder lässt du’s lieber sein? Egal was du tust, es endet immer gleich!”
Es ist stockfinstre Nacht. Ständig muss ich anhalten und einen weiteren Riegel essen. Ständig zucke ich zusammen, wenn ein Frosch aufgeschreckt von meinem Licht über die Schotterpiste hüpft. Meine Energiereserven sind aufgeraucht. Die letzten zwei Stunden fühlen sich an wie zehn.
Endlich, kurz vor Mitternacht, hebt sich der Bayrische Wald gegen den Sternenhimmel ab. Da, das muss Deggendorf sein! Auf einem Hügel über der Stadt leuchten mir die Lichter des örtlichen Krankenhauses den Weg. Dort hatte mich vor gut drei Jahren der Heli abgesetzt, nachdem ich mir das linke Knie in zwölf Einzelteile zertrümmert hatte.
“Sie werden nie wieder so Radfahren können, wie bisher.” Das war einer der ersten Sätze, die ich damals von den Ärzten hörte. In meinen Tritt mischt sich der Trotz und übertüncht die Müdigkeit. Beherzt presse ich ein letztes mal hoch auf den Damm und rolle unweit der Isarmündung über die Donaubrücke. Ich wollte mir beweisen, dass ein Gang und ein gesundes Bein reichen, solange ein klarer Kopf mitspielt. Mission erfüllt.