Andreas Kern
· 01.08.2022
Eine Hütten-Tour mit dem E-Bike zum Schachenschloss bei Garmisch-Partenkirchen könnte das perfekte Familienvergnügen mit den Kindern sein. Doch die Bergfahrt mit Abschleppseil hielt so manche Überraschung parat …
Das Schloss vom Überking ist zu. Da kämpfst du dich im Schweiße deines Angesichts – wenn auch mit E-Rückenwind – 900 Meter den Berg hoch, und dann stehst du vor verschlossenen Türen. Statt Bierchen, Liegestuhl und Schlossbesichtigung: akuter Quengelalarm bei den Kurzen. Meine Frau rollt vielsagend mit den Augen. Und mir ist spontan nach Urschrei-Therapie. Das Schachenschloss – das unbekannteste und für mich allerschönste Bauwerk des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II. – ist wegen Corona geschlossen. Und die Hütte nebenan auch. Na fantastisch! Aber von Anfang an …
Der Plan war ein ganz einfacher: Hüttenwochenende mit der Familie. Samstags die beiden Kids einpacken, mit dem Bike von Garmisch zum Schachenhaus hochkurbeln, zünftiger Hüttenabend, früh ins Matratzenlager und am Sonntag nach dem Bergfrühstück wieder runter und heim. So weit, so theoretisch. Denn es kommt erstens alles anders. Und zweitens als man denkt: Unsere Große hat plötzlich null Bock, besucht lieber das andere 14-jährige Pubertier im benachbarten Affenzirkus. Die Kleine, Sophie (12), will stattdessen unbedingt ihre Lieblingscousine mitnehmen. Antonia ist neun. Und reitet leidenschaftlich gerne auf den Ponys Flori und Nori, aber noch nicht so lange auf ihrem Cube. Zudem will das Cousinchen nicht ohne ihr eigenes Bett übernachten. Also wieder Planänderung: Tages-Tour! Die Mädels sind beide sportlich, meine Frau Tanja eh, und wir haben ja E-Mountainbikes. Zumindest wir Großen. Für Sophie leihe ich noch ein Ladybike in XS aus, aber Antonia muss wohl oder übel mit ihrem gewohnten 24-Zoll-Kinder-Bike fahren. Der Plan: Ich nehme sie an die kurze Leine.
Murphy muss Bahnfahrer sein. Die Deutsche Bahn hat zwei Eigenheiten. Erstens: Sie kommt gerne zu spät. Und zweitens: Wenn nicht, dann fährt sie auf die Sekunde genau los. Genau wie bei uns. Als wir abgehetzt am Bahnsteig ankommen, sind die roten Rücklichter unseres Zugs in der Ferne nur noch stecknadelkopfgroß. „Aber in einer Stunde kommt schon der nächste Zug“, gibt sich Sophie gut gelaunt. Und sie behält recht. Gegen ein Zugabteil mit Kind, Kegel und E-Bikes an einem Sonnensamstag Richtung Garmisch ist eine Sardinenbüchse ein Festsaal. Aber das Auto wäre in unserem Fall keine Alternative. Unsere Karre wäre mit drei E-Bikes und einem normalen Bike heillos überfordert gewesen. Nicht jeder hat einen Sprinter als Familienkutsche.
Murphy, die Zweite: Der Weg am Ferchenbach ist gesperrt. Eigentlich wollte ich von Garmisch ins Reintal und quasi durchs Hintertürchen nach Schloss Elmau und weiter zum Schachenhaus. Aber Murphy hat was dagegen. Das Warnschild lässt keine Verhandlungen zu, auch das Internet weiß: no way. Was tun? Wir rollen wieder zum Bahnhof in Garmisch und fahren mit dem Zug bis Klais. Wäre doch gelacht! Drei Stunden nach Plan sitzen wir dann samstagmittags endlich im Sattel. Ich klicke mein ausgeliehenes TowWhee-Abschleppseil an – und los geht die wilde Fahrt! Antonia hinter mir jubelt wie im Kettenkarussell. Jetzt wird alles gut! Ich bin begeistert, wie gut das Bungee-Band funktioniert. Kein Ruckeln beim Anfahren. Und bei unserem Reisetempo von gut 10 km/h bergauf merke ich fast nicht, dass meine Nichte am Seil hängt. Bisher habe ich mir beim Abschleppen immer mit einem aufgeschnittenen Fahrradschlauch beholfen. Zukünftig garantiert nie wieder. Und Murphy kann uns ab jetzt mal!
Die Tour vom Wanderparkplatz beim G7-Schlosshotel Elmau hinauf zum Schachenschloss ist anfangs recht fad. Eine überbreite Forstpiste schlängelt sich durch den dichten Schachenwald zu einem kleinen Pass. Dahinter öffnet sich aber unvermittelt ein gut verstecktes, kleines Paradies: die Wettersteinalm. Normalerweise tummeln sich hier an Sonnensamstagen dutzende Biker und Wanderer. Bewirtschaftet wird die urige Alm im Sommer von Sophies Ex-Skitrainerin Muggi. Aber heute ist tote Hose. Mir schwant Unheilvolles, als wir weiter hoch Richtung Schachenhaus kurbeln. Immerhin haben die beiden Mädels einen Heidenspaß. Wir lassen uns Zeit, machen immer mal wieder Pausen. Tanja hat vorgesorgt – und zaubert aus dem Rucksack die besten Ablenkungen der Welt: Äpfel, Datteln, Cliffbars in allen möglichen und unmöglichen
Geschmacksrichtungen – und vegane Gummibärchen. So bleiben die Kids bei Laune. Und die Großen können sich vom „Brotzeitbankerl“ am „Steilenberg“ – zweimal nomen est omen – die Gegend anschauen: Gut 1000 Meter tiefer flimmern die Fenster von Garmisch-Partenkirchen in der Nachmittagssonne. In der Ferne sieht man Murnau und ganz weit hinten sogar den Starnberger See. Dort ging vor 136 Jahren der Kini unter. Niemand weiß, ob Selbstmord oder Mord.
Was ich dagegen genau weiß: Mein Akku gibt langsam, aber sicher den Geist auf. Vielleicht hätte ich das Thema Power-Management nicht auf die leichte Schulter nehmen sollen? Vielleicht hätte ich lieber öfter den Eco- als den Turbo-Modus verwenden sollen? Vielleicht sind die 900 Höhenmeter – plus die 200 vom Bahnhof Klais nach Elmau – einfach zu viel für mich schwergewichtigen Abschleppdienst? Wie das Karnickel die Schlange starre ich meine Akku-Balken an. Der Uphill saugt Saft wie eine Biene Nektar. Am Schachensee – das Schloss schon in Sichtweite – mache ich mit mir selbst einen Bauernhandel aus: Wenn der Akku bis oben hält, gibt’s später in Garmisch Eis für alle. Er hält. Mit Hängen und Würgen.
Und dann das: Das Schloss vom Überking ist zu. Kein Bierchen. Kein Liegestuhl. Keine Schlossbesichtigung. Kein „türkischer Saal“ mit goldenen Wasserpfeifen aus tausendundeiner Nacht. Stattdessen akuter Quengelalarm und Augenrollen. Murphy, er ist also wieder da. Aber wir machen das Beste aus dem Schlechten: Brotzeit vor dem Schloss. Ohne Wandervolk um uns herum. Nur wir vier und die königliche Aura. „Komm, wir gehen da rüber zum Aussichtspunkt“, schlägt Sophie ihrer kleinen Cousine vor. Und weg sind sie. Wie die Lachfalte eines Riesen schneidet sich das Reintal in den Wettersteinkalk. Ganz hinten liegt die Reintalangerhütte. Meine Frau und ich haben uns vor Jahrzehnten mal geschworen, jeden Sommer einmal da hinaufzubiken. Gehalten haben wir den Schwur zwar nicht, aber was soll’s. Schon kommen Antonia und Sophie von ihrer kleinen Exkursion wieder zurück. Keine Spur von Missmut, ganz im Gegenteil. Sie hüpfen wie Pippi und Annika ums Schloss herum und sind sehr „lebensfreudig“, wie Sophie zu sagen pflegt. „Nächstes Jahr übernachten wir hier!“, bestimmt Antonia. „Aber dann muss Magdalena auch mit!“ Mal schauen, ob sich Sophies große Schwester überreden lässt. Und mal schauen, wie wir die ganze Familie elektrifiziert bekommen. Inklusive Cousinchen.
Die Tour: 21,2 km - 950 hm - 2:30 h
Los geht’s am Wanderparkplatz bei Schloss Elmau auf 1000 Metern Höhe oder für Bahnfahrer am Bahnhof Klais (plus 13,5 km/250 hm hin- und zurück). Ohne Vorwarnung zieht der Fahrweg hoch über dem Elmauer Bach zum Bannholzweg und durch den Wettersteinwald zur bewirtschafteten Wettersteinalm (1464 m). Nach der Einkehr wird’s um den Steilenberg herum steil und holpriger. Am Schnitzbankerl angekommen wird der Schachenweg flach und zieht aussichtsreich am Schachensee vorbei zum weithin sichtbaren Schachenschloss mit dem bewirtschafteten Schachenhaus (1866 m). Pflichtprogramm: das nahegelegene Schachenschloss von König Ludwig II. und der Botanische Alpengarten. Die Abfahrt erfolgt auf gleichem Weg. Bahnfahrer radeln beim Wanderparkplatz weiter hinab zum Ferchenbach und erreichen über Graseck und eine sehr steile Asphaltabfahrt den Bahnhof in Garmisch.