Peter Nilges
· 01.03.2022
Wer ein Alleskönner-Mountainbike für anspruchsvolle Touren sucht, landet automatisch beim All Mountain. Aber nicht jedes Exemplar trifft den Kern der Kategorie – wie unser Test zeigt.
Im Tierreich spricht man von Mimikry, wenn es darum geht, so zu tun, als ob. Um sich vor Fressfeinden zu schützen, summt die Schwebfliege beispielsweise im Wespen-Outfit umher, oder der Seeteufel, der auf Raubzug geht, indem er seine wurmähnliche Angel auswirft. Doch was hat Mimikry jetzt mit Mountainbikes zu tun? Nun, vor allem in der Kategorie All Mountain gibt es einige Parallelen zu entdecken. Mit einem Federweg von 150 Millimetern ist diese Kategorie eigentlich klar definiert. Doch von unten drängeln die schnelleren Trailbikes, und von oben lassen die langhubigen Enduros ihre Muskeln spielen. Bedrängnis also von allen Seiten. Da gibt sich so manches All Mountain doch lieber als zackiges Trailbike oder als bulliges Enduro aus, um nicht im Kampf der Bike-Gattungen unter die Räder zu kommen.
Um zu überprüfen, wie es um den aktuellen All-Mountain-Jahrgang bestellt ist und welches Bike es wohin zieht, haben wir sieben Modelle mit Federwegen von 135 bis 160 Millimetern zum Test geladen. Preislich bewegen sich die Kandidaten zwischen 4644 Euro für das Propain Hugene und 5199 Euro für das Bulls Wild Ronin. Da das gewünschte Specialized Stumpjumper Comp für 5000 Euro nicht lieferbar war, mussten wir kurzerhand auf das Pro-Modell ausweichen. Das kostet mit 9400 Euro jedoch rund das Doppelte, weshalb es nur als Referenz in diesem Test mitlaufen durfte. Neben der anhaltend schlechten Verfügbarkeit der Bikes sind die gestiegenen Preise ein echtes Problem, das alle Biker betrifft. Noch im letzten Jahr konnten wir für unser All-Mountain-Testfeld 2021 ein Preislimit von 4500 Euro ziehen. Für eine Testgruppe mit vergleichbarer Ausstattung fallen heuer bis zu 700 Euro mehr an.
Den kompletten Vergleichstest der 7 All-Mountain-Bikes aus BIKE 3/2022 können Sie bequem unter dem Artikel als PDF herunterladen. Der Testbericht kostet 1,99 Euro.
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Doch zurück zur Mimikry-Thematik und damit der Ausrichtung unserer sieben Test-Bikes. Je nach Intention des Herstellers und der damit verbundenen Ausstattung tun sich im Testfeld riesige Unterschiede auf. So markiert das neue Focus Jam mit seinem stattlichen Gewicht von 16 Kilo und einem Federweg von 164 Millimetern am Heck das Extrem in Richtung Enduro. Auch das Blackthorn der amerikanischen Kultmarke Salsa ist stark in Richtung Enduro gepolt. Beim einzigen Bike im Test mit komplettem Alu-Rahmen bleibt die Waage erst bei 15,7 Kilo stehen – wenngleich der Rahmen sogar leichter ist als der des Focus. Am stärksten polarisiert jedoch die Reifenwahl am Salsa: Vorne wie hinten wurden Maxxis-Reifen mit Double-Down-Karkasse montiert, die gut 1,3 Kilo pro Stück auf die Waage bringen und zusätzlich noch über die klebrigste und damit langsamste Gummimischung verfügen. Ein Setup, das selbst im Enduro-Einsatz auf der soliden Seite liegt. Da das Salsa in Deutschland aber nicht als Komplett-Bike erhältlich ist, bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, den leichten Rahmen mit alternativen Komponenten zu bestücken und das Blackthorn noch in eine andere Richtung zu trimmen.
Im Gegensatz zu Focus und Salsa gehen das Bulls Wild Ronin und das Koba Trailtool glatt als Trailbikes mit Federwegsreserven durch. Die beiden Modelle wiegen ganze 2,6 beziehungsweise 2,1 Kilo weniger. In den flachen Tretpassagen und den Uphills im Trailpark Treuchtlingen hängen sie so um Welten besser am Gas. Gewicht, Laufradbeschleunigung und schnellere Reifen hauchen den Bikes Agilität ein und animieren zur Tempoverschärfung. Neben dem teuren Referenz-Bike von Specialized sichert sich das Bulls damit die Uphill-Wertung.
Das Giant Trance und das Propain Hugene treffen die All-Mountain-Kategorie wie den Nagel auf den Kopf. Dabei punktet das Giant durch sein potentes Fahrwerk und die steife Fox-36-Gabel vor allem in der Abfahrtswertung, während das Propain mit seinem strafferen Hinterbau für satten Vortrieb bergauf sorgt.
Da All Mountains rein von der Definition her etwa 150 Millimeter Federweg besitzen, gibt ein Blick auf die Federgabel einen klaren Hinweis auf die Ausrichtung des jeweiligen Bikes. Denn: Durch die Neuausrichtung bei den beiden führenden Herstellern Fox und Rockshox verläuft eine Grenze durch die All-Mountain-Kategorie. Diese liegt bei 140 Millimetern Federweg bei der Fox 34 und 150 Millimetern bei der Rockshox Pike. Wer als Produkt-Manager mehr Federweg spezifizieren möchte, muss zum nächst dickeren Casting greifen. Also zur Fox 36 oder der Rockshox Lyrik. Unser aktueller Test zeigt, dass der Sprung zumindest bei Fox immerhin 350 Gramm ausmacht, wenn man eine 34 statt einer 36 verbaut. Focus, Giant und Salsa setzen auf wuchtigere Standrohre, der Rest begnügt sich mit den leichteren Alternativen und mit 140 Millimetern Federweg.
Zu guter Letzt hält auch bei den All Mountains das Thema Usability vermehrt Einzug. Integrierte Staufächer, Befestigungspunkte für Zubehör oder einfach eine bessere Wartungsfreundlichkeit erleichtern die Handhabung im Alltag. Neben Vorreiter Specialized, der sogar eine spezielle Trinkblase für das Staufach im Unterrohr mitliefert, setzt auch Focus auf den Trend, das Unterrohr als Kofferraum zu nutzen. Bei Propain und Salsa finden sich am Rahmen Gewindeaufnahmen für den Ersatzschlauch und eine Co²-Kartusche, und das Bulls bietet sogar Platz für eine zweite Trinkflasche im Rahmendreieck.
Unser Test zeigt ganz klar: Nicht jedes All Mountain entpuppt sich am Ende auch als solches. Wer sich nicht von der Mimikry bestimmter Bikes täuschen lassen will, muss schon genau hinsehen. Doch nach dieser Lektüre sollten Sie alle Werkzeuge an der Hand haben, um die Schwebfliegen unter den All Mountains zuverlässig zu enttarnen.
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