Jan Timmermann
· 13.10.2025
“Wow!” Entfährt es mir beim Anblick des Merida Big.Nine 10K. Doch Moment mal! Schleiche ich etwa gerade ehrfürchtig um ein Hardtail herum? Kurz muss ich innehalten, um zu verstehen, was hier gerade passiert. Ich habe das Bike in meinem Wohnzimmer aufgebaut. Aus den Boxen dröhnt „Heaven and Hell“ von Black Sabbath, in der Hand ein kühles Blondes – in der Gegenwart dieses Supersportlers natürlich alkoholfrei –, und ich kann ich beim besten Willen die Augen nicht von dieser ästhetischen Silhouette lassen.
Mit dem tief abfallenden Oberrohr und der aufregenden Lackierung sieht das Rad aus wie eine Geheimwaffe aus dem Entwicklungslabor von Batmans Wayne Enterprises. Es ist länger nicht mehr vorgekommen, dass ich mir die Zeit genommen habe, ein Fahrrad einfach nur zu bewundern – erst recht kein Hardtail. Also was genau löst eine solche Faszination aus, dass ich mir heute diesen meditativen Augenblick gönne?
16 Jahre lang mischte das Multivan Merida Biking Team um Gunn-Rita Dahle-Flesja, Ralph Näf und José Antonio Hermida den Cross-Country-Worldcup auf. Und auch bei BIKE fuhr ihr Arbeitsgerät, das Big.Nine, regelmäßig Testsiege ein. Damals noch mit einer Geometrie, die heute so manchem Gravelbike gut zu Gesicht stehen würde. Der Abschied von der großen Bühne ist bereits neun Jahre her. In der Zwischenzeit sind Bikes ohne Hinterbaufederung fast flächendeckend aus dem Profisport verschwunden. Da verwundert es wenig, dass sich Merida für die Rückkehr des Big.Nine eine besonders emanzipierte Hardtail-Geometrie ausgedacht hat. Mit komprimierter Sitzrohrlänge, stattlichen Reach-Werten und einem Lenkwinkel, der auch an einem abfahrtsorientierten Trailbike nicht überraschen würde, hebt sich das Racehardtail der Taiwanesen deutlich von seinen Artgenossen ab. „Mach Platz im Trophäenschrank“, titelt Merida selbstbewusst.
Das Topmodell 10K setzt der Anziehungskraft die Krone auf. Der Rahmen belastet unsere Laborwaage mit gerade mal 1053 Gramm, 9,4 Kilo wiegt das Komplettbike. Am Chassis aus gewichtsoptimierten CF5-Carbonfasern hängt Shimanos neues Funk-Flaggschiff, die XTR-Di2-Gruppe. Auch Felgen, Cockpit-Einteiler und die starre Sattelstütze bestehen aus leichtem Kohlenstoff. Beim Preis für ein solches Maß an Noblesse bleibt kein Auge trocken: 7699 Euro. Das entspricht im Bundesdurchschnitt knapp der Haushaltsmiete für ein ganzes Jahr. Rational betrachtet ist dieses Hardtail Wahnsinn. Emotional offensichtlich auch, denn ich öffne gerade ein zweites Bier.
>> Einen Test des Merida Big.Nine 10K mit Ausstattung von Rockshox und Sram können wir hier liefern.
Bei BIKE betreiben wir einen beispiellosen Aufwand, um Fahrräder zu testen. Als einziges Fachmagazin weltweit betreiben wir ein eigenes Testlabor. Die ermittelten Daten stützen die Eindrücke aus dem Praxistest. Auch bei den Geometriedaten verlassen wir uns nicht ausschließlich auf die Herstellerangaben, sondern setzen selbst das Lasermessgerät an.
Noch vor der ersten Testfahrt überrascht das Big.Nine. Auf dem Unterrohr können zwei mittelgroße Trinkflaschen in Reihe montiert werden. Unter dem Oberrohr lässt sich ein Pannenset transportieren und am Sattel mit Carbon-Rails sitzt ein kleines Multitool. So viel Mehrwert gönnen nur die wenigsten Hersteller ihren Race-Feilen. Da das Sitzrohr extrem kurz ausfällt, braucht es viel Sattelauszug. Das ist tatsächlich Kalkül, denn durch den langen Hebel soll die starre Stütze mehr flexen. Unsere Labormessungen bescheinigen dem Konzept lediglich einen mittelprächtigen Sitzkomfort.
Die Sattelstütze von FSA ist auffallend lang, sodass auch Fahrer mit langen Beinen ihre Sitzhöhe erreichen. „Agilometer“ nennt Merida sein Größenkonzept, das es Bikern ermöglicht, die Rahmengröße anhand der bevorzugten Länge zu wählen. Klassische L-Fahrer werden durch das langgezogene Oberrohr weit übers Rad gespannt. Die Sitzposition ist standesgemäß sehr sportlich. Mit viel Druck auf der Front und auf den Pedalen geht das Big.Nine zügig voran. Das geringe Gewicht, der effizient-steile Sitzwinkel und die Traktion der breiten Reifen beflügeln an steilen Rampen.
Schnell und knackig wechselt die elektronische XTR ihre zwölf Gänge. Merida entscheidet sich für die neue Kassetten-Option mit neun bis 45 Zähnen. Dass der Berggang trotz kleinem 30er Kettenblatt etwas straffer ausfällt als auf einem gewohnten 51er-Ritzel, ist an Bord des leichten Hardtails zu verschmerzen. Die Naben der Reynolds-Laufräder sind sündhaft teure Teile von Industry Nine. Ihr Freilauf schnurrt nicht nur wie ein Kater auf Speed, sondern sorgt mit Sperrklinken, die alle 0,41 Grad greifen, auch für einen maximal direkten Antritt. Mit der starken Federspannung des kurzen XTR-Käfigs mag das nicht so recht harmonieren. Bei Schlägen schnalzt der Antrieb mit Wucht in die feine Verzahnung und sorgt für eine ausgeprägte Geräuschkulisse.
Beim Handling landet Merida einen Volltreffer. Der lange Reach und der flache Lenkwinkel verschaffen Laufruhe in Vollgas-Abfahrten. Gleichzeitig bleiben Hinter- und Vorbau kompakt, sodass sich das Big.Nine noch leicht aufs Hinterrad ziehen und sehr direkt steuern lässt – spaßig! Leider steht die starre Stütze radikalen Fahrmanövern oft im Weg. Für technisches Terrain hätten wir uns eine Dropper-Post gewünscht.
Über jeden Zweifel erhaben sind die neuen XTR-Bremsen mit zwei Kolben und 180er Scheibe vorne. Mehr Power und Dosierbarkeit können sich Racer kaum wünschen. Die formidable Fox 32 SC Factory nimmt Unebenheiten sensibel in sich auf und holt viel Performance aus ihrem kurzen Hub. Insgesamt giert das Bike im Auf und Ab eines Cross-Country-Kurses nach hohem Tempo. Geometrie und Ausstattung bieten massig Reserven und animieren stets zur Wahl der schnellsten Linie.
Krass! Mit diesem Bike muss man einfach schnell fahren. Merida beweist eindrucksvoll, dass Hardtails noch lange nicht zum alten Eisen gehören. Dank der progressiven Geometrie verträgt das Big.Nine im Up- und Downhill viel Speed, ohne den Piloten sofort auszubremsen. Lang plus flach plus leicht gleich geil: Im Falle des 10K geht diese Rechnung voll auf. Ein Kontostand wie der von Bruce Wayne kann aber nicht schaden. - Jan Timmermann, BIKE-Redakteur