Jan Timmermann
· 26.10.2023
In der wankelmütigen Bike-Branche stand bislang kaum eine Firma so für Beständigkeit wie Liteville. In 18 Jahren wurde das Modell 301 in kleingliedrigen Entwicklungsschritten insgesamt 15 Mal überarbeitet. Liteville-Fans durften sich fast jährlich auf eine weiter optimierte MK-Version freuen. Das auch weiterhin erhältliche Liteville 301 war stets ein konstantes Sinnbild für achtsame deutsche Ingenieursarbeit, geformt aus voluminösen Alu-Rohren.
2023 weht ein neuer Wind im Hause Liteville. Syntace-Mastermind Jo Klieber ist zwar weiter an der Marke beteiligt, die Firma wurde jedoch von der österreichischen Pierer Industrie AG übernommen. Zweiradenthusiasten ist der neue Mehrheitseigner vor allem wegen der zum Unternehmens-Portfolio gehörenden Motorräder von KTM und Husqvarna bekannt. Zu spüren ist die Veränderung auch bei den Produkten: Liteville experimentiert nicht nur mit Carbon-Rahmen aus europäischer Produktion, sondern präsentierte dieses Jahr seit langem wieder ein Bike mit dem Namenszusatz “MK1”: Das Liteville 303 soll eine eigenständige, abfahrtslastigere Version des kultigen 301 sein.
Bereits im Frühjahr konnten wir eine Vorserienversion des neuen Liteville-Enduros testen. Unser Fazit des damals auf Mullet-Bereifung rollenden Liteville 303 mit 160-Millimeter-Gabel: Die Allround-Qualitäten des 301-Bruders sind geblieben, der Quantensprung im Downhill bleibt aber aus. Zwar kann auch am Serienmodell eine 160er-Gabel verbaut und über eine Verstellung der Kettenstrebenlänge ein kleines Hinterrad gefahren werden, unser Test-Bike kommt jedoch durchgängig mit 29-Zoll-Laufrädern sowie 170 Millimetern Hub an der Front. Dass diese Konfiguration Auswirkungen auf die Geometrie haben würde, war klar. Als wir nun gut ein halbes Jahr später wieder ein 303 in unsere Testlabor schieben, staunten wir trotzdem nicht schlecht. Es scheint, als wäre das Vorserien-Bike – typisch Liteville – nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Ziel gewesen: Die Geo ist jetzt deutlich länger und flacher gezeichnet.
Trotz ausladender Kettenstreben geht das Bike besser durch enge Kurven als viele andere Enduros. Wer aufs Hinterrad will, braucht dann aber doch viel Schmackes in den Armen. Mit der hohen Front und dem tief gezogenen Oberrohr fühlen sich 303-Fahrer im Stehen herrlich gut ins Bike integriert. Rennfahrer würden vermutlich das Cockpit absenken, um mehr Druck auf dem Vorderrad zu generieren. Was jedoch vom hoch bauenden Steuersatzdeckel – durch den die Leitungen geführt werden – verhindert wird.
An kniffligen Steilstücken sorgt dafür nicht nur der weit absenkbare Sattel, sondern auch die starke Bremsanlage für ein hohes Sicherheitsgefühl. In der Falllinie schafft die exzellent arbeitende Rockshox ZEB alle Hindernisse souverän aus dem Weg, und das Bike hält zusammen mit dem flachen Lenkwinkel unaufgeregt die Spur. Leider kann der Hinterbau hier nicht ganz mithalten, liegt etwas weniger satt und lässt an Sprüngen oder Geländewellen Gegenhalt vermissen.
Gleichzeitig teilt das steife Heck immer wieder Schläge aus. Auch mit den Einstelloptionen des Ultimate-Fahrwerks lässt sich die Dysbalance im Fahrwerk nicht ganz kaschieren. Es scheint, als fahre beim Liteville 303 ein Enduro voraus, während ein All Mountain Bike am Hinterbau folgt. Eine zahmere 160er-Gabel könnte tatsächlich besser zu den Fahreigenschaften des 303 passen. Auch der mäßige Pannenschutz der Reifen würde dann ein stimmigeres Bild ergeben. Obwohl Liteville dem MTB nur einen schmalen Kettenstreben- und keinen Unterrohrschutz gönnt, bleibt das Bike in jeder Situation angenehm ruhig.
Wer auf ausschweifenden Touren oder einer Trail-Transalp gerne viele Höhenmeter tritt, findet im 303 einen fähigen Begleiter. Für ein Enduro klettert das Bike außergewöhnlich gut. Dank absolut akzeptablem Gewicht und einer aufrechten Sitzposition lässt es sich entspannt Richtung Gipfel kurbeln. Im Sitzen wippt der Hinterbau nur minimal. Im Wiegetritt pumpt das Heck zwar stärker, lässt sich mit dem Plattformhebel aber einfach beruhigen. An steilen Rampen hilft das kleine Kettenblatt mit 30 Zähnen. Aufgrund ungünstiger Radien bei der Zugverlegung verlangt die Schaltung hohe Handkräfte – hier schlummert noch Optimierungspotenzial für ein zukünftiges MK2.
GESAMT BERGAUF: 59 von 80
GESAMT BERGAB: 117,5 von 140
Mit seinem unkomplizierten Handling und tollen Touren-Eigenschaften knüpft das Liteville 303 an die Stärken des 301 an. Ein Race-Enduro steckt trotz des Namens nicht im Liteville. Dafür ist das Fahrwerk in dieser Konfiguration zu unharmonisch. Für technisch verwinkelte Trails ohne Zeitdruck ist der Neuling eine gute Wahl. Auf der Hatz über heftige Kurse gibt es souveränere Enduros. - Jan Timmermann, BIKE-Testredakteur
¹Preis ggf. zzgl. Kosten für Verpackung, Versand und Abstimmung.
²Das BIKE-Urteil gibt die Labormesswerte und den subjektiven Eindruck der Testfahrer wieder. Das BIKE-Urteil ist preisunabhängig. BIKE-Urteile: super (250–205 P.), sehr gut (204,75–180 P.), gut (179,75–155 P.), befriedigend (154,75–130 P.), mit Schwächen (129,75–105 P.), ungenügend (104,75–0 P.). Die Gewichtung der Punkte in den einzelnen Bewertungskriterien variiert je nach Bike-Kategorie.