Jan Timmermann
· 11.03.2024
Liv hat sich auf spezifische Bikes für Frauen spezialisiert. Ganz frisch ist das Liv Pique Advanced 29. Mit der Neuauflage der Cross-Country- und Marathon-Rennmaschine will der Hersteller Racerinnen das perfekte Sportgerät bieten. Zahlreiche Änderungen am Carbon-Rahmen und ein neues Fahrwerks-Design versprechen eine nie gekannte Souveränität in unterschiedlichsten Fahrsituationen.
Ein paar Zahlen gefällig? Durch den Einsatz eines leichteren Kohlenstoff-Materials will Liv am neuen Pique-Rahmen bis zu 297 Gramm eingespart haben. Gleichzeitig wurde das Layout der Carbon-Rohre angepasst, um sechs Prozent mehr Verdrehsteifigkeit sowie zehn Prozent mehr Steifigkeit im Antrieb zu erreichen. Ob diese vollmundigen Versprechungen in Labor und Praxis aufgehen, zeigt der BIKE-Test.
Viele Jahre war Liv für das eigens entwickelte und gut funktionierende Maestro-Hinterbausystem bekannt. Zugunsten von mehr Effizienz und weniger Gewicht verzichtet das neue Race-Fully für Frauen und auf diese bewährte Technologie. Obwohl Schwinge und Dämpferposition noch immer an das bekannte Design erinnern, hat sich das XC-Bike von einem Lagerpunkt verabschiedet und flext jetzt im Carbon-Material des Rahmens. FlexPoint Pro Suspension Technology, wie es bei Liv heißt. Das neue, patentierte Eingelenker-System stellt am Pique Advanced 29 115 Millimeter Federweg zur Verfügung und will sowohl effizienter als auch traktionsstärker sein als sein Vorgänger. Bekannt ist das bereits vom Mutterkonzern Giant, der für sein Race-Fully Anthem dieselbe Technologie wählt.
Um auch die Front des Liv Pique Advanced ins neue Cross-Country-Zeitalter zu heben, hat Liv den Federweg der Gabel auf 120 Millimeter aufgestockt und den Lenkwinkel abgeflacht. Ein steilerer Sitzwinkel soll bei knackigen Anstiegen die optimale Tretposition liefern. Während ein verlängerter Reach mehr Laufruhe in fahrtechnisch anspruchsvollen Situationen verspricht, sollen kurze Kettenstreben für eine agile Manövrierbarkeit des Frauen-MTBs sorgen.
Insgesamt erfährt das neue Liv Pique 29 Racebike für Frauen also Updates, die man im Cross-Country-Sport derzeit fast flächendeckend beobachten kann. Die neueste Generation leichter Fullys braucht sich nicht länger vor herausfordernden Trail-Abfahrten zu fürchten und soll gleichzeitig auch beim Sprint um den Sieg mithalten können. Wie sich das neue Pique dieses Jahr im XC-Worldcup schlägt, wird man übrigens bei den beiden Team-Fahrerinnen Jenn Jackson und Linda Indergand verfolgen können.
Um die Vielseitigkeit der neuen Pique-Advanced-Plattform zu unterstreichen, gönnt Liv dem Carbon-Rahmen einen Montagepunkt unter dem Oberrohr, an dem auch eine zweite Trinkflasche Platz findet. Die Rahmengröße XS muss allerdings auf dieses Feature verzichten. In allen Größen sind Kettenstreben und Unterrohr durch neue Protektoren nun besser geschützt. Eine in Kooperation von Giant und MRP entwickelte Kettenführung soll den Abwurf des Antriebsstrangs auch in hitzigen Rennsituationen verhindern.
Je nach Land wählt Liv eine ganz individuelle Modell- und Preispolitik. In Deutschland werden nur drei Ausstattungsvarianten erhältlich sein. Den Einstieg bildet das Liv Pique Advanced 29 2 für 5199 Euro mit Shimano SLX-Antrieb, Performance-Dämpfer plus Performance-Elite-Federgabel von Fox sowie einem Alu-Laufradsatz von Giant.
Im Modell Advanced 29 1 für 7999 Euro stecken durchgängig Performance-Elite-Federelemente von Fox, ein Sram X0 Eagle AXS Transmission-Antrieb sowie Giant XCR Carbon-Laufräder. Das von uns getestete Liv Pique Advanced 29 0 schießt für 12.999 Euro mit Sram XX SL Eagle AXS Transmission Gruppe, Fox-Factory-Fahrwerk und Zipp-Carbon-Laufrädern den sprichwörtlichen Vogel ab.
Wir hatten bereits die Möglichkeit, das Topmodell Liv Pique Advanced 29 0 in Labor und Praxis zu testen. Für den knackigen Preis von 12.999 Euro geizt die Speerspitze der XC-Fullys für Frauen nicht mit luxuriösen Ausstattungs-Diamanten. Güldene Fox-Factory-Federelemente reihen sich an eine exklusive Sram XX SL AXS Transmission-Schaltgruppe mit Powermeter. Mehr geht nicht? Oh doch! Der edle Laufradsatz Zipp 1Zero HiTop SW alleine kostet 2200 Euro, kommt ohne Hohlkammer aus und wiegt nur 1325 Gramm. TyreWiz Luftdrucksensoren erfassen den Reifendruck kabellos und in Echtzeit. Warum Liv die High-End-Bremsanlage Shimano XTR mit Bremsscheiben aus dem Billig-Sortiment kombiniert, ist uns allerdings ein Rätsel.
Die Sitzposition auf dem neuen Liv Pique weiß auf Anhieb zu gefallen. Sportlich-modern, aber nicht zu extrem können Racerinnen auf dem edlen Bike Platz nehmen. Ab Werk lässt Liv viel vom Gabelschaft stehen und spezifiziert eine eher hohe Front. Abseits der Rennstrecke beschert das der Pilotin eine angenehm ausgewogene Fahrposition. Dass ihr Schwerpunkt nicht zu weit vorne hängt, schafft genügend Komfort für lange Touren. Auf der Jagd nach Sekunden sollte das Cockpit aber zugunsten des Drucks am Vorderrad definitiv tiefergelegt werden. Trotz des stolzen Preises verzichtet Liv übrigens auf eine Steuer-Einheit aus Carbon und verbaut einen konventionellen Vorbau aus Alu sowie einen Carbon-Lenker der Marke Eigenbau.
Ich hatte fast vergessen, dass man beim Bergauffahren ja auch Spaß haben kann. Das 10,5 Kilo leichte Liv Pique Advanced 29 0 macht wieder richtig Lust, Anstiege mit hoher Drehzahl hinauf zu preschen. - Gitta Beimfohr, BIKE-Redakteurin
Im offenen Zustand zeigt sich das Heck des neuen Liv Pique Racebikes auffallend lebendig. Im Wiegetritt nickt das Federbein konstant mit. Abhilfe schafft die zuschaltbare Plattform, welche auf der Suche nach maximaler Effizienz und in Sprint-Situationen eine absolute Pflicht ist. Gut, dass sich der Lockout vom Lenker aus einlegen lässt. Für ein Bike der Modellgeneration 2024 ist das Cockpit des Liv Pique Advanced 29 0 trotz Funkschaltung erstaunlich überladen.
Neben den Bremsleitungen und dem Zug für die Variostütze laufen auch die beiden Kabel für den Lockout durchs Sichtfeld. Fünf lange Leitungen kommen am Pique zusammen. Noch dazu ist an allen drei Seilen ein Schrauben-Einsteller für die Zugspannung eingebaut. Die dazugehörigen Remotes bauen recht klobig. Leider kommen sich die Hebel auch ergonomisch ins Gehege. So richtig mag das alles nicht zum Charakter eines Elite-Racebikes passen. Hier hätten wir uns etwas mehr Minimalismus gewünscht.
In der Ebene rollt das Liv Pique Advanced 29 0 exzellent voran. Verantwortlich dafür ist vor allem das geringe Laufradgewicht. Auch die schnellen Maxxis Aspen Reifen, deren Mini-Noppen trotz properer 2,4 Zoll Breite kaum Rollwiderstand erzeugen, sind für Tempo-Fahrten ausgelegt. Genau, wie die taiwanesische Mutter-Firma Giant liefert Liv seine Bikes bereits im Tubeless-Setup aus. All diese Faktoren führen zu einem guten Wert bei der Laufradbeschleunigung und mit gesperrten Federelementen schießt das 10,5 Kilo leichte Pique nach vorne, wie von der sprichwörtlichen Tarantel gestochen.
Auch in technischen Uphill-Sektionen zeigt sich das Race-Fully dank gefälliger Fahrposition und gutem Fahrwerk außerordentlich geschickt. Bei trockenem Wetter passt die Traktion. Bei schlammigen Verhältnissen neigt der zahme Hinterradreifen aber ratzfatz zum durchrutschen. Anders als viele andere Top-Racebikes setzen die Frauen-Expertinnen von Liv auf ein kleineres Kettenblatt mit 32 Zähnen. Dank 520 Prozent Übersetzungsbandbreite und auch unter Last souveräner Elektro-Schaltung nimmt das Pique steilen Anstiegen ihren Schrecken.
Auch wenn sich die Strecke gen Tal neigt, kann das Liv Pique Advanced 29 0 durch ein sympathisches Handling überzeugen. Das Bike besitzt eine gute Länge, ohne sperrig zu wirken und führt seine Fahrerin sicher durch ruppige Trail-Abschnitte. Dieses Verhalten kannten wir bereits von anderen Bikes der Taiwanesen: Auch in Grenzsituationen lässt sich das Pique leicht steuern ohne nervös zu werden. In Steilabfahrten helfen der 67,2 Grad flache Lenkwinkel und die nicht zu tiefe Front bei der Kontrolle. Mit 760 Millimetern schafft der breite Lenker zusätzliches Vertrauen.
Die 100 Millimeter Verstellbereich der Variostütze dürften für Frauen mit etwas längeren Beinen gerne größer ausfallen, um zusätzlichen Bewegungsspielraum über dem Bike zu schaffen. An der Sattelklemme wirft ein weiteres Detail Fragen auf: Sie funktioniert mit zwei Schrauben, was die Klemmkräfte zwar besser verteilt, aber an einem Racebike nicht gerade zu einer dezenten Optik beiträgt.
Liv und Giant sind seit vielen Jahren für gut funktionierende Hinterbausysteme bekannt. Das neue Pique macht da keine Ausnahme und holt viel aus den 115 Millimetern Federweg heraus. Die 120 Millimeter Federweg der tadellosen Fox 34 Gabel sind bei schneller Fahrt über ruppige Trails gerne willkommen. Das Fahrwerk spricht sehr gut an, bietet ausreichend Reserven und liegt in jeder Abfahr-Situation satt auf dem Kurs. Der Dämpfer gibt seinen Hub willig frei und glättet Wurzelteppiche und Steinfelder geschickt. Zusammen mit dem unkomplizierten Handling schafft das genügend Vertrauen, um mit dem XC-Fully auch in herausfordernde Trails einzubiegen.
Insgesamt ist die Hinterbau-Funktion eher komfortabel als progressiv, was gut zum Allround- und Touren-Charakter des Pique passt. Ambitionierte Racerinnen werden für mehr Gegenhalt aber regelmäßig vom Plattformhebel am Lenker Gebrauch machen müssen. Komisch eigentlich, dass Liv nicht, wie bisher, an seinem Topmodell auf ein elektronisches Live-Valve-System von Fox setzt.
Zu den positiven Ausstattungsdetails des Liv Pique Advanced 0 2024 zählen die kräftigen und ergonomischen Shimano XTR Bremsen. Selbst mit den günstigen Bremsscheiben, welche etwas mehr Gewicht und ein schlechteres Wärmemanagement mitbringen, sorgen die starken Stopper in kniffligen Abfahrten für ein hohes Sicherheitsgefühl. Ganz anders die rutschige Maxxis Aspen Bereifung. Diese besitzen einen extrem schmalen Grenzbereich und brechen bei etwas Feuchtigkeit und schärferen Bremsmanövern selbst in Geradeausfahrt aus. Griffigere Reifen würden den per se breiten Einsatzbereich des Piques auch über trockene XC-Pisten hinaus deutlich erweitern.
Dass Kabelmanagement nicht zu den Stärken des neuen Frauen-MTBs gehört, zeigt sich auch auf der Kettenstrebe: Die Bremsleitung verläuft hier außerhalb des Rahmens und wird mit einem schnöden Kabelbinder an Ort und Stelle gehalten. Ebenso deplatziert wirkt am Race-Fully die sehr massive Kettenführung von MRP. Mit dem unbequemen Fizik-Sattel kam unsere Testfahrerin nicht klar.
Mal ehrlich ihr Frauen: Trifft die lila-rosa Lackierung mit Glitzer-Flakes und goldenen Details euren Geschmack? Insgesamt wirkt das Finish schon ganz schön “girly” - eigentlich untypisch für Liv! Ich könnte mir vorstellen, dass erwachsene Racerinnen sich von einem knapp 13.000 Euro teuren Sportgerät etwas mehr Ernsthaftigkeit wünschen würden. Optische Vorlieben sind bekanntlich sehr individuell, der Einhorn-Lack ist am Frauen-MTB aus Marketing-Sicht aber zumindest fragwürdig. - Jan Timmermann, BIKE-Testredakteur
Das neue Liv Pique 2024 ist ein formidables, frauenspezifisches Bike für ausgedehnte Touren mit hohem Trail-Anteil. Geometrie und Fahrwerk bieten ein gutes Maß an Reserven für die Langstrecke. Das Einsatzgebiet ist groß. Dabei steckt aber eher ein gutmütiges Marathon-Bike als eine auf Effizienz getrimmte Cross-Country-Waffe im leichten Liv. In der schmerzhaft teuren Advanced-0-Austattung bleiben fast keine Wünsche offen. Leider passen manche Detaillösungen nicht ganz ins Bild.
Pro
Contra